„Uns wärs lieber, wenn sie mit offenen Spuren nicht leben, sondern ermitteln!“ – Bericht aus dem BT-UA

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Bericht aus dem Untersuchungsausschuss des Bundestages vom 29. September 2016

Archivbild: Proteste gegen den VS vor dem OLG von der Kampagne Blackbox VS (c) Kappa Foto http://www.blackbox-vs.de

Archivbild: Proteste gegen den VS vor dem OLG München von der Kampagne Blackbox VS (c) Kappa Foto http://www.blackbox-vs.de

Im ersten Teil der Sitzung wurden erneut die inhaltlichen Differenzen zwischen dem Ausschussvorsitzenden Binninger (CDU) und der Bundesanwaltschaft deutlich. Im weiteren Verlauf gab es stichhaltige Hinweise dafür,  dass der für die sogenannte „Aktion Konfetti“ verantwortliche VS-Mitarbeiter mit Tarnnamen „“ (), vorsätzlich gehandelt hat.

von NSU-Watch

ZeugInnen:

  • Oberstaatsanwältin Anette Greger (Bundesanwaltschaft, Anklage-Vertreterin im NSU-Prozess)
  • „Lothar Lingen“ (ehemaliger Referatsleiter „Forschung und Werbung“ im BfV, verantwortlich für das Schreddern diverser V-Mann-Akten)

Bundesanwaltschaft bleibt bei Theorie von Michèle als Zufallsopfer

In der Befragung von Oberstaatsanwältin Greger ging es vor allem um die weiteren Ermittlungen im NSU-Komplex und das Auswerten noch offener Spuren. Konkret betrifft dies unter anderem die Ermittlungen im Mordfall Kiesewetter und die Auswertung offener DNA-Spuren am Tatort in . Greger war aufgrund ihrer Funktion als Anklage-Vertreterin im NSU-Prozess geladen. Neben dem Prozess gegen Beate Zschäpe, sowie vier mutmaßliche NSU-Unterstützer, werde aktuell auch gegen 9 weitere namentlich bekannte Personen, sowie gegen eine unbekannte Person ermittelt, gab Greger an. Hier ließe sich bislang aber keine direkte Beteiligung an Taten des NSU erkennen.

Laut der Zeugin gebe es nach aktuellem Erkenntnisstand keine Hinweise darauf, dass beim Mord an Michèle Kiesewetter und dem Mordversuch an ihrem Kollegen Martin A. am 25.04.2007 in Heilbronn weitere TäterInnen als Mundlos und Böhnhardt beteiligt gewesen seien. Dieser Auffassung widersprechen jedoch mehrere Zeug_innen, die angaben weitere Verdächtige, teils blutverschmierte Personen, in der Nähe des Tatorts gesehen zu haben. Die Opferauswahl sei laut Greger zufällig erfolgt. Damit bekräftigte sie noch einmal die These der Generalbundesanwaltschaft. Hierfür spreche laut Greger auch, dass die Polizistin die Theresienwiese, wo der Mord stattfand, üblicherweise nicht als Pausenort nutzte. Gegen eine zufällige Auswahl sprechen Verbindungen Kiesewetters über das persönliche als auch berufliche Umfeld in die Neonaziszene. Diese scheinen die Bundesanwaltschaft jedoch nicht zu überzeugen.

Zwist um offene DNA-Spuren

Im Brust- und Rückenbereich von Martin A. wurden DNA-Spuren einer weiblichen und einer männlichen Person gefunden. Diese Spuren konnten auch nach einem Abgleich mit den eingesetzten Beamten, als auch mit den DNA-Mustern aller im NSU-Komplex Beschuldigten nicht zugeordnet werden. Dies nannte der Ausschussvorsitzende Clemens Binninger (CDU) „besorgniserregend“.

Angesprochen auf eine weitere offene DNA-Spur, welche bereits in den letzten Sitzungen thematisiert wurde, reagierte Greger defensiv. (Vgl. Bericht vom 08.09.2016). Es handelt sich um eine Socke, die 2011 im Wohnmobil in Stregda gefunden wurde und an der sich sowohl DNA von Beate Zschäpe als auch von einer weiteren Person befand. Diese DNA-Spur tauchte, wie nun bekannt wurde, im Zuge von Straftaten in Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen auf. Die Spur konnte bislang jedoch keiner Person zugeordnet werden. Greger entgegnete hierzu lapidar: „Wir müssen mit offenen Spuren leben.“ Clemens Binninger (CDU) antwortete ungehalten: „Uns wärs lieber, wenn sie mit offenen Spuren nicht leben, sondern ermitteln!“ Darauf erwiderte Greger, dass dann die DNA der ganzen Bevölkerung getestet werden müsste.

Bereits in den vergangenen Monaten kam es zwischen dem Ausschussvorsitzenden und der Bundesanwaltschaft zum Zwist, da Binninger die im NSU-Prozess vertretene These, vom NSU als Trio, für wenig plausibel hält. Gerade aus den offenen DNA-Spuren könnten sich, seiner Ansicht nach, neue Ermittlungsansätze ergeben. Die Oberstaatsanwältin erklärte, dass für die Erhebung weiterer DNA-Muster von Personen aus dem NSU-Umfeld schlicht die rechtliche Grundlage fehle, da dies nur bei Beschuldigten in einem Verfahren möglich sei. Es sind jedoch auch nicht alle DNA-Muster der im NSU-Komplex Beschuldigten in der DNA-Datenbank des BKA abgelegt. Auch hierfür führte Greger rechtliche Gründe an. (Vgl. Bericht vom 08.09.2016)

„Opferschonende“ Ermittlungen?

Im krassen Gegensatz zu den Ermittlungen bei allen anderen Taten im NSU-Komplex sei laut Greger im Fall Kiesewetter „opferschonend“ vorgegangen worden. So begründete die Zeugin, dass im Familien- und Bekanntenumfeld der Polizistin kaum ermittelt wurde. Bei allen anderen bekannten Opfern des NSU wurde jahrelang mit absurd anmutenden und demütigenden Unterstellungen eine eigene Verbindung zu den TäterInnen unterstellt und gegen sie ermittelt. Ausgerechnet beim einzigen Opfer ohne Migrationshintergrund, scheint dies nicht der Fall gewesen zu sein. Besser lässt sich der Vorwurf des institutionellen Rassismus deutscher Ermittlungsbehörden im NSU-Kontext wohl kaum untermauern.

Beweisvernichtung à la

Auch zum Thema der Beweisvernichtung durch die Generalbundesanwaltschaft musste Greger Stellung nehmen. Laut aktuellen Berichten der Tageszeitung Welt hatte die Bundesanwaltschaft noch 2014 Asservate vernichten lassen. Konkret handelt es sich um zwei Notizbücher des Neonazis Jan Werner, welche im Zusammenhang mit dem sogenannten „Landser“-Verfahren beschlagnahmt wurden. Werner soll im Austausch mit Uwe Mundlos gestanden haben und über den V-Mann Carsten Szczepanski versucht haben Schusswaffen für den NSU zu besorgen. Die -Vertreter_innen Mehmet Daimagüler und Seda Basay-Yildiz, welche die Familien der NSU-Opfer Enver Şimşek, İsmail Yaşar und Abdurrahim Özüdoğru vertreten, haben mittlerweile Strafanzeige wegen des Verdachts auf Strafvereitelung im Amt gestellt. Das Handeln verstößt zudem offenkundig gegen ein Moratorium des Innenministeriums, welches untersagt, Unterlagen mit NSU-Bezug zu vernichten. Die Beweismittel hätten möglicherweise weitere Erkenntnisse über Kontakte Werners zum NSU und zu anderen UnterstützerInnen liefern können. Greger gab an, nicht die richtige Ansprechpartnerin für den Sachverhalt zu sein. Generell seien, laut ihrer Einschätzung, Kontakte zwischen Neonazis für die GBA weniger relevant. Die rechte Szene der neunziger Jahre sei gut vernetzt gewesen, dies sei bekannt. Daher habe der Fokus, laut Greger, auf konkreten Tatvorwürfen zu liegen. Vollumfängliche Aufklärung scheint so jedoch nicht möglich. Mögliche Waffenlieferungen seien außerdem, so Greger, verjährt und solang man Werner nicht nachweisen könne, er habe gewusst, dass damit Morde begangen werden sollten, ohne juristische Konsequenz.

Vernichtete Akten können nicht geprüft werden – Vorsätzliche durch BfV

In der zweiten Zeugenbefragung des Tages war der Verfassungsschützer mit Tarnnamen „Lothar Lingen“ geladen. Hier kam es völlig überraschend zu neuen Erkenntnissen im Bezug auf das massenhafte Schreddern von V-Mann-Akten durch das BfV kurz nach Auffliegen des NSU Ende 2011. Dieses Vorgehen wurde in der Öffentlichkeit  als „Aktion Konfetti“ bekannt. Lingen galt zuvor bereits als Hauptverantwortlicher der Vorgänge, hatte aber bislang angegeben, dass es aufgrund eigener Arbeitsüberlastung und Chaos in der Behörde dazu kam. Angesprochen auf die Ereignisse verwies er in der Sitzung wiederholt auf sein Zeugnisverweigerungsrecht, da er weiterhin strafrechtliche Konsequenzen fürchte.

Die Abgeordneten Irene Mihalic (Bündnis 90/ Die Grünen) und Petra Pau (Die Linke) zitierten im weiteren Verlauf der Sitzung aus einem bislang unbekannten Protokoll einer früheren Vernehmung Lingens gegenüber dem BKA und einem Bundesanwalt vom Oktober 2014. In der Aussage wird Lingens Motivation und der Vorsatz bei der Aktenvernichtung deutlich. Die Abgeordneten gaben Lingen wie folgt wieder:

„Ehrlicherweise will ich [Lothar Lingen] aber auch noch auf einen zweiten Aspekt, der meine Entscheidung mit beeinflusst hat, hinweisen. Mir war bereits am 10./11. November 2011 völlig klar, dass sich die Öffentlichkeit sehr für die Quellenlage des BfV in Thüringen interessieren wird. Die bloße Bezifferung der seinerzeit in Thüringen vom BfV geführten Quellen mit acht, neun oder zehn Fällen hätte zu der – ja nun auch heute noch intensiv gestellten – Frage geführt, aus welchem Grunde die Verfassungsschutzbehörden über die terroristischen Aktivitäten der drei eigentlich nicht informiert gewesen sind. Die nackten Zahlen sprachen ja dafür, dass wir wussten, was da läuft, was aber ja nicht der Fall war. Und da habe ich mir gedacht, wenn der quantitative Aspekt, also die Anzahl unserer Quellen im Bereich THS und in Thüringen, nicht bekannt wird, dass dann die Frage, warum das BfV von nichts gewusst hat, vielleicht gar nicht auftaucht.“

Die Anwesenheit eines Bundesanwalts bei dieser Aussage ist in sofern skandalös, als dass die Anklagevertreter_innen noch im August 2015 beantragten die Ladung Lingens vor das Oberlandesgericht München abzulehnen, da die Vorwürfe der gezielten Aktenvernichtung „spekulativ“ seien.

Am 5. Juli 2012, bei seiner Vernehmung durch den ersten NSU-Untersuchungsausschuss, hörten sich Lingens Angaben übrigens noch folgendermaßen an:

„Ich habe es als meine staatsbürgerliche Pflicht angesehen, als geladener Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss aufzutreten. In den öffentlichen Vorwürfen der vorsätzlichen Vernichtung von Operativakten, um Sachverhalte zu vertuschen, bin ich natürlich sehr betroffen. […] Aufgrund der tagesaktuellen Ereignisse wurde ich von meinen Beschaffungsfunktionen von meinem Dienstherrn entbunden, umgesetzt, und gegen mich wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Insofern sehe ich mich massiven Vorhaltungen meines Dienstherrn ausgesetzt. Die Einleitung von strafrechtlichen Ermittlungsverfahren liegt immerhin im Bereich des Möglichen aus meiner Sicht. Ich bin trotzdem erschienen, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich mich den Vorwürfen nicht stellen will.“

Protokoll der ersten Aussage Lingens vor dem BT-UA am 05.07.2012 (Dokument auf bundestag.de)

Angehörige des vom NSU ermordeten Mehmet Kubaşık und deren Rechtsanwälte erstatteten Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Köln gegen Lingen und weitere unbekannte Mitarbeiter_innen des Verfassungsschutz u.a. wegen Strafvereitelung, Urkundenunterdrückung und Verwahrungsbruchs.

Siehe Pressemitteilung der Angehörigen des vom NSU ermordeten Mehmet Kubaşık vom 05.10.2016