Die Sichtweise der Betroffenen im Zentrum – Rezension von „Die haben gedacht, wir waren das – MigrantInnen über rechten Terror und Rassismus“

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die_dachtenVon Caro Keller (NSU-Watch)

Auch fünf Jahre nach Selbstenttarnung des NSU stehen bei der öffentlichen Auseinandersetzung die TäterInnen im Vordergrund. Im Grunde werden aber nur dann Berichte über den NSU-Komplex sichtbar, wenn Beate Zschäpe etwas von sich gibt. Bleiben also sogar die wichtigen Erkenntnisse zu den Taten und TäterInnen im Hintergrund, so ist die Perspektive der Betroffenen kaum wahrzunehmen. Die Podien zum Thema sind landauf-landab mehrheitlich weißdeutsch besetzt. Zwar wird hier die Sichtweise der Betroffenen oft verdeutlicht – allerdings wird in ihrem Namen gesprochen und sie sprechen nicht selbst. Darüber bleiben oft eher politisch gefällige Statements übrig, als dass die Vielfalt der Stimmen abgebildet werden könnte.

Vielfalt der Stimmen

Diesen einheitlichen Block möchte das Buch „Die haben gedacht, wir waren das – MigrantInnen über rechten Terror und Rassismus“ aufbrechen. Alle Autor_innen hätten einen Migrationshintergrund, so heißt es im Klappentext. Dieses Buch bildet durch eine offenbar sehr offene Auswahl der Schreibenden eine breite Diskussion innerhalb der migrantischen Community ab, die sich hier nicht als mit einheitlicher Stimme sprechend lesen lässt. Dies ist sowohl die Stärke als auch die Schwäche des Sammelbands.
Am stärksten sind die Texte, in denen die Kontinuität des Rassismus klar gemacht wird. Rassismus ist in diesem Buch keine abstrakte Analysekategorie, er ist greifbar, er ist persönliche Erfahrung. Immer wieder wird betont, wie einschneidend für die jeweilige Autor_innen die Pogrome der 1990er Jahre, Anschläge wie in Mölln oder Solingen waren. Es wird schmerzhaft deutlich: Das Ansehen-Müssen dieser rechten Anschläge führte ihnen potentielle Betroffenheit ihrer Familien und ihrer selbst vor Augen. Das sind die Spuren, die Rassismus und rechte Gewalt in der migrantischen Community hinterlassen.

Kontinuitäten und Forderungen

Die Kontinuitäten, die in den Texten aufgezeigt werden, betreffen aber nicht nur die 1990er Jahre, sondern auch die 2000er Jahre vor Bekanntwerden des NSU. Dies war eine Zeit, in der Rassismus nur noch von Betroffenen wahrgenommen wurde, während Weißdeutsche ihn z.B. mit Verweis auf Schwarze Menschen und People of Colour in der Nationalmannschaft wegzudiskutieren versuchten. Dies war auch die Zeit, in der 2006 bei Demonstration der Betroffenen der „Ceska-Mordserie“ in Kassel tausende Menschen „Kein Zehntes Opfer“ forderten. Sie blieben unbemerkt. Parallel war die „Welt zu Gast bei Freunden“ – die Fussball-WM der Herren tauchte ganz Deutschland in schwarz-rot-gold und der NSU mordete dazu. Das Buch schafft es so immer wieder, an (linken) Gewissheiten zu rütteln, wenn beispielsweise aufgezeigt wird, wie 2002 in der taz über „Überfremdung“ philosophiert wurde.
Auch die gesellschaftliche (Nicht-)Aufarbeitung des NSU-Komplex und die vielen offenen Fragen werden immer wieder kritisiert und betont. Daraus folgen in einigen Beiträgen Forderungen: Die Stimmen von Migrant_innen müssen endlich auf Augenhöhe gehört werden, es sollte eine breitere gesellschaftliche Beschäftigung mit Rassismus geben. Dabei soll sich an die Seite der Betroffenen gestellt werden und ihnen so der Rücken gestärkt werden. Vielen Autor_innen fehlt gesellschaftliche Empörung – auch bei (potentiell) Betroffen.

Irritationen

Die Breite der abgedruckten Text wird auf der anderen Seite zur Schwäche des Sammelbandes. Parteiangehörige von CDU bis Linke lassen mitunter eine distanzierte Sichtweise missen und versteigen sich teilweise in unkritisches Lob der Arbeit der eigenen Partei oder gleich der Bundesrepublik selbst. Sogar ärgerlich und irritiert können einzelne Texte zurücklassen. So werden u.a. mit veralteten Quellen die immer selben verschwörungstheoretischen Antworten auf offene Fragen aufgewärmt. Ein weiterer Text spricht dem NSU gar die terroristische Dimension ab und lässt sich im gleichen Atemzug über extremistische Tendenzen innerhalb von Migrant_innenorganisationen aus.
Eine weniger pluralistische Textauswahl hätte „Die haben gedacht, wir waren das“ sicherlich gut zu Gesicht gestanden. Trotzdem zeigt dieser Band auf, dass Betroffenenperspektiven viel stärker ins Zentrum der Aufarbeitung des NSU-Komplex gehören, weil erst durch sie die Dimension der Taten des NSU und des gesamtgesellschaftlichen Rassismus klar werden.

Bozay, Kemal / Aslan, Bahar / Mangitay, Orhan / Özfirat, Funda (Hg.):
Die haben gedacht, wir waren das – MigrantInnen über rechten Terror und Rassismus
Neue Kleine Bibliothek 228, 293 Seiten
ISBN 978-3-89438-614-6
PapyRossa Verlag

Der Text aus dem Buch, „Trauer und Wut, aber mehr noch die Entschlossenheit: Wir bleiben hier!“ von Özge Pınar Sarp, ist hier zu finden.

Der Text aus dem Buch, „Zum mangelnden Interesse am NSU-Komplex – Deutschland 2016: Kultureller Rassismus ist jetzt Mainstream“ von Çağan Varol ist hier zu finden.