Institutioneller und struktureller Rassismus im Theater

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von Azadeh Sharifi

Rote Ampeln

Wann sind wir nur Zuschauer_innen und wann verschwimmt die Grenze zwischen der realen Welt und der Welt, die auf der Bühne gezeigt wird? Vielleicht dann, wenn das Trauma so präsent und über-
wältigend ist, dass nicht mehr zwischen Fiktion und Realität unterschieden werden kann, wenn die Reproduktion von rassistischen und diskriminierenden Strukturen nicht nur in Wort und Bild perpetuiert werden, wenn eine abstrakt differenzierte Auseinandersetzung nicht mehr möglich ist, weil das, was auf der Bühne passiert, im Magen, in den Beinen und in jeder Pore der Haut empfunden wird.
Während der Vorstellung von Urteile am Residenztheater München bin ich mehrmals in diesen Zustand verfallen. Nicht nur an den Stellen, die alle so tief treffen, weil sie mit dem Wahnsinn, mit der Ohnmacht und der Unfassbarkeit konfrontieren, die den Erfahrungen der Familien der Ermordeten eingeschrieben sind. Die Grenze verschwamm an den Stellen, die mit »Körper aus Scham« betitelt sind. Es handelt sich dabei um eine Art Schilderung von Kindheitserfahrungen rassifizierter Personen aus der Innensicht. Auch ich finde mich mit meinen Erfahrungen auf der Bühne wieder. »Mein klopfendes Herz, meine schwitzenden Hände. Mein zerbröckelnder Name.« Erfahrungen von Rassismus in Deutschland. »Mein glühender Kopf. Schweigen. Scham. Scham, ein Gefühl meiner Kindheit.« Ich höre nur »Alles richtig machen, sich keinen Fehler erlauben« wie eine Dauerschleife in meinem Kopf. »Alles richtig machen, sich keinen Fehler erlauben, nicht bei Rot über die Ampel, damit niemand rufen kann: ›Bei euch gibt es wohl keine Ampeln!‹« Die Sätze treffen mich bis ins Mark, ich kann dem Geschehen auf der Bühne nicht mehr richtig folgen, weil ich mit meinem eigenen Trauma konfrontiert bin. Mit Erfahrungen, die jeden Tag und in jedem Moment passieren. In öffentlichen Räumen und in privaten Lebenssphären.
Es ist nicht nur der nationalsozialistische Terror, der rassifizierten und marginalisierten Menschen den Boden unter den Füßen wegzieht. Es ist die strukturelle und institutionelle Diskriminierung, die sich beispielsweise in Schulempfehlungen der Lehrer_innen, in Abweisungen bei der Wohnungs- und Arbeitssuche aufgrund des Namens oder des ›ausländischen‹ Aussehens, im Racial Profiling bei Polizeikontrollen oder eben in sprachlichen Diffamierungen wie ›Döner-Morde‹ manifestiert und bestehende hegemoniale Machtverhältnisse weiter verfestigt. Die rassistische Gewalt zeigt sich nur selten in ihrer rohsten Form. Meistens ist sie als anhaltender, dumpfer Ton in unseren Leben präsent, der uns stets daran erinnert, dass wir niemals frei von ihr sein werden.
Im dokumentarischen Theaterstück Urteile geht es nicht nur darum, Habil Kılıç, Theodoros Boulgarides und ihren Familien eine würdige und respektvolle öffentliche Auseinandersetzung, wenigstens auf der Theaterbühne, zu ermöglichen. Es geht auch darum, die verschiedenen Dimensionen von strukturellem und institutionellem Rassismus aufzudecken und zur Verhandlung zu stellen. Die Kritik des Theaterstückes geht soweit, dass auch das eigene Medium, das Theater, zur Verhandlung gestellt wird.
Ich möchte diese Dimension herausgreifen und diskutieren, wie im Theater als einer staatlichen Kulturinstitution struktureller und institutioneller Rassismus immer wieder reproduziert wird. Einerseits geht es um die Übersetzbarkeit des Themas ins Theatrale, andererseits sollen Möglichkeiten der Repräsentation und (Selbst-) Ermächtigung diskutiert werden.

Der schmale Grat der theatralen Auseinandersetzung

Als sich 2011 durch den Selbstmord der zwei rechtsradikalen Neonazis und Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos der Nationalsozialistische Untergrund selbst enttarnte, wurde sehr bald versucht, den gesellschaftlichen Schock – oder vielmehr die Bewahrheitung von dem, was von der migrantischen Bevölkerung seit Langem befürchtet wurde – in der Kunst und insbesondere im Theater zu verarbeiten. Mit fiktionalen, dokumentarischen und diskursiven Strategien wurde versucht, der Unfassbarkeit dieses nationalsozialistischen Terrors habhaft zu werden. In den folgenden Jahren sind viele Theaterstücke entstanden, die aus unterschiedlichen Perspektiven ein Begreifen ermöglichen sollten. Urteile wählt die Strategien des dokumentarischen Theaters. Im Mittelpunkt des Stückes stehen die zwei Münchner Opfer des NSU-Terrors, Habil Kılıç und Theodoros Boulgarides. Fragmente aus den Interviews mit den Familienangehörigen, ihren Anwält_innen, ehemaligen Arbeitgeber_innen und mit Journalist_innen setzen sich wie Puzzle­teile zusammen und vermitteln ein Gefühl für die physische und psychische Gewalt, die die Betroffenen erfahren haben und immer noch erfahren. Als eine der wenigen Produktionen wird in Urteile die psychologische Dimension von Rassismus aufgegriffen und die ›besondere‹ Gewalt des NSU mit alltäglichem Rassismus verknüpft.
Aber ist es überhaupt möglich, solche unfassbaren und unbeschreiblichen Erfahrungen in ein Theaterstück zu übersetzen? Viele der Theaterproduktionen, die sich mit Rassismus beschäftigen, gehen erst gar nicht auf die emotionale und psychologische Dimension der rassistischen Gewalt ein. Denn meist haben die Künstler_innen keine eigenen Erfahrungen mit rassistischer Gewalt und damit verbleiben die Inszenierungen oft auf einer rein intellektuellen Ebene. Wird über diese Ebene hinausgegangen, so geschieht dies, wie so oft im deutschen Theater, unter Ausschluss
der Betroffenen, der Personen mit eigenen Marginalisierungs- und Diskriminierungserfahrungen. Es lassen sich unzählige Beispiele aus der jüngsten deutschen Theatergeschichte nennen, bei
denen Künstler_innen, anstatt sich mit Rassismus auseinanderzusetzen, in ihren persönlichen Befindlichkeiten verhaftet bleiben. Sehr oft werden auf der Erzählebene, aber auch in ästhetischen
Mitteln, rassistische Zuschreibungen und koloniale Stereotypisierungen aufgenommen und reproduziert. So sei hier auf die immer wieder auftretende Blackface [1] -Debatte (Sharifi 2015) und die N-Wort [2] -Debatte (Kilomba 2009) verwiesen. Beim Ersten handelt es sich um ein rassistisches theatrales Mittel, beim Zweiten um ein gewaltvolles, aus der Kolonialzeit stammendes Wort, das von weißen [3] Theatermacher_innen benutzt wird, um einen gesellschaftlichen Rassismus-Diskurs >anzuregen‹.
»Aber gerade weil er [N-Wort] provoziert, befördert er auch die wichtige Debatte über vergangenen und gegenwärtigen Rassismus. Wir müssen in unserer künstlerischen Arbeit auch frei sein, schmerzende Wege zu gehen.« (Simons 2014)
Die gewaltvolle – euphemistisch als ›schmerzend‹ bezeichnete – Auseinandersetzung mit strukturellem Rassismus wird immer wieder von Künstler_innen of Color kritisiert. Aber diese Kritik wird nicht etwa als konstruktives Moment zur Neuausrichtung und Neugestaltung ästhetischer und damit auch politischer Diskursräume, die dem Theater innewohnen, gedeutet, sondern nur als Angriff auf die Kunstfreiheit. Aus der Verletzung der Würde wird nur ein ›Gefühl‹ konstruiert – eine gefährliche Umdeutung, die die Kritik zu einem individuellen Problem degradiert, das der heiligen ›Kunstfreiheit‹ gegenüber gestellt wird.
»Mag sein, dass davon die Gefühle mancher Afrodeutscher verletzt worden wären. Doch bislang rechtfertigte man dieses Risiko mit der Heiligkeit der Kunstfreiheit.« (Heine 2012)

Institutioneller und struktureller Rassismus im Theater

Die Frage, die sich bei diesen meist gutgemeinten, aber oft problematischen Ansätzen stellt, ist, wem oder was diese Form der künstlerischen Diskurse etwas bringt: Wer darf mitdiskutieren?
Wer darf den Diskurs mitgestalten? Und wer spricht für wen?
Fast am Schluss des Stückes Urteile sagt die Schauspielerin Demet Gül: »Ich bin hier nur Gast. Engagiert für die Ausländerrolle. Ich bin schon fast wieder weg.«
Diese Aussage referiert möglicherweise auf die eigene Erfahrung der Schauspielerin, sie lässt sich darüber hinaus aber in die Reihe von Diskriminierungserfahrungen von Theater­macher_innen of Color einreihen. Diese sind in den letzten Jahren vermehrt öffentlich gemacht worden und haben den Diskurs geprägt. Ein prominentes Beispiel ist der Ende 2013 veröffentlichte offene Brief des Schauspielers Murali Perumal, der als Antwort auf den in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikel Offene Türen (Lutz 2013) entstanden ist. Im SZ -Artikel wurde eine Diskussionsrunde zur Situation von Theater­­macher_‌innen mit Migrationshintergrund in München besprochen. Im Artikel wurde behauptet, dass die »Türen« der Stadt- und Staatstheater »offen stünden« und die Theatermacher_innen mit Migrationshintergrund« aufgrund ihrer mangelnden künstlerischen Qualität an diesen Häusern nicht beschäftigt seien.
Der Schauspieler Murali Perumal entgegnete in seinem offenen Brief: »In all den Jahren, die ich am Theater erlebt habe, spielen deutsche Schauspieler mit sichtbarem Migrationshintergrund auf unseren hiesigen Bühnen keine Rolle.« Er werde, wenn überhaupt, nur als »Gast(arbeiter) […] für Ausländerrollen« engagiert oder in ›speziellen Migrantenstücken‹ auf Nebenbühnen [besetzt], aber eben nicht im Haupthaus, da man das ›Silbermeer‹ im Zuschauerraum nicht ›verstören‹ will. »Das Ensemble spiegelt in keinster Weise unsere Gesellschaft wieder und das ist meiner Meinung nach ein Armutszeugnis für die deutschsprachige Theaterwelt. Es ist keine ästhetische Frage […], sondern eine Haltung zu unserer heutigen durchmischten Gesellschaft, die auf der Bühne nicht existent ist. […] Es wird Theater von ›Weißen‹ für ›Weiße‹ gemacht.« (Perumal 2013)
Perumals Brief basiert auf persönlichen Erfahrungen, die allerdings für viele Künstler_innen of Color zutreffen. Dass diese Erfahrungen kollektiviert werden müssen, um Beachtung zu finden, ist ein Symptom der strukturell schwachen Position marginalisierter Subjekte im hegemonialen Diskurs. Weiße Künstler_innen befinden sich meist im Einklang mit dominanten Normen und sehen daher keine Notwendigkeit, diese zu thematisieren. So sind es nur die Stimmen von Künstler_innen of Color, die Kritik an ihrer Diskriminierung üben und die sich dabei explizit auf kollektive Identitätszuschreibungen beziehen müssen, um wahrgenommen zu werden (Weiß 2013: 281).
In ihrer Abschlussarbeit am Mozarteum Salzburg hat sich die Regisseurin Julia Wissert mit den Erfahrungen von Schwarzen Schauspieler_innen, Regisseur_innen und Choreograph_innen beschäftigt. So waren die Erfahrungen bei den Vorsprechen immer wieder gleich: »Ich hab dann an der … vorgesprochen. Bin in die letzte Runde gekommen. Da hat der Schulleiter mir aber direkt gesagt, dass ich mir dessen bewusst sein muss, dass ich immer die Putzfrau oder die Prostituierte spielen werde.« (Wissert 2014: 20) Ähnlich beschreibt es der mittlerweile erfolgreiche Regisseur Nurkan Erpulat, dessen Theaterstück Verrücktes Blut dem Ballhaus Naunynstraße 2011 zum Durchbruch in der deutschen Theaterszene verholfen hat, immer wieder in Interviews: »Shakespeare durfte ich nicht machen, das wurde mir an der Hochschule für Schauspielkunst in Berlin nicht zugetraut.« (Sevil 2012)
»Das läuft ganz automatisch ab, weil das das Weltbild ist. Und das färbt auf eine Fragestellung, auf die Interpretation von Antworten, auf die Formulierung von Antworten, das färbt ab, welchen Spuren ich nachgehe, welche Spuren ich favorisiere, welche Spuren ich eher ausschließe. Das ist das Problem … institutioneller Rassismus.« (Urteile)
In sehr seltenen Fällen wird von den Leitenden und den Theaterinstitutionen offen ausgesprochen, was ihre Entscheidungen moti­viert. Eine der unfreiwilligen, aber sehr deutlichen Motivationsoffenbarungen war der Brief des Schlossparktheaters Berlin, in dem die Verwendung von ›Blackface‹ bei dem Theaterstück I am not Rappaport begründet werden sollte:
»Unsere Besetzung des ›Schwarzen Amerikaners‹ mit einem ›weißen Schauspieler‹ folgt einer langen Tradition im deutschsprachigen Raum, die nicht rassistisch ist. Kaum einem Ensemble eines Theaters in Deutschland, Österreich und der Schweiz gehören schwarze Schauspieler an. Allein deswegen, weil das Stückrepertoire der Theater ihnen zu wenige Rollen in einer Spielzeit bieten könnte, die ein Festengagement rechtfertigten.« (zit. nach Wissert 2014: 51)
Die Antwort zeigt, wie mehrschichtig struktureller und institutioneller Rassismus im Theater verankert ist und wie sich dieser durch solche Ausschlussmechanismen immer wieder selbst stabilisiert. So wird hier behauptet, dass aus ›deutschsprachiger Tradition‹ heraus die Besetzung eine_r weißen Schauspieler_in für eine Schwarze Rolle nicht rassistisch sein kann. Diese Tradition nährt sich daraus, dass es angeblich keine Schwarzen Schauspieler_innen in Deutschland gäbe. Und wenn es Schwarze Schauspieler_innen gäbe, dann gäbe es für diese nicht genug Theaterrollen, denn scheinbar können Schwarze Schauspieler_innen keine weißen Rollen spielen. Weswegen Schwarze Schauspieler_innen nicht in den Ensembles eingestellt werden. Die Argumentation entlarvt die Normsetzungen auf der Bühne, bei denen nicht-weiße Körper und Subjekte als Abweichung deklariert werden.
Die eigentlich gängige – und sehr verschleiernde – Argumen­tation ist allerdings die Unterstellung des Fehlens von künstlerischer Qualität. Karin Beier, die Intendantin des Schauspielhauses Hamburg und ehemalige Intendantin des Schauspiels Köln, nutze eine solche Argumentation, um das Scheitern ihres ›multiethnischen‹ En­sembles zu begründen. 2007 hatte sie die Intendanz des Schauspiels Köln mit dem Anspruch angetreten, die Diversität der Stadt Köln in ihrem Schauspielensemble abbilden zu wollen. Das ›multiethnische‹ Ensemble wurde aber nach einer Spielzeit wieder aufgelöst und viele Schauspieler_innen of Color haben ihr (Nicht-) Engagement am Schauspiel Köln kritisiert (Aras / Hart 2011). In einem Interview der Berliner Zeitung wurde Karin Beier gefragt, wie es komme, dass »wenige Schauspieler mit Migrationshintergrund engagiert« werden, worauf sie antwortete: »Wir würden jeden engagieren, den wir gut finden! Aber es gibt da nicht so viele. Das ist ein soziales Problem!« (Pilz 2011). Hier werden zum einen Menschen aus unterschiedlichen ethnischen, sozialen und kulturellen Lebenskontexten zu einer Gruppe – ›Menschen mit Migrationshintergrund‹ – konstruiert und als ›Andere‹ klassifiziert. Ihre Arbeit und ihre Person werden ethnisiert und rassifiziert (Mecheril 2007: 220). Neben den rassistischen Strukturen, die sich in der Konstruktion der ›Anderen‹ zeigen, wird aber auch die klassistische Ausgrenzung deutlich. Denn wenn Karin Beier in ihrer Begründung den ›Migrationshintergrund‹ der Künstler_innen als ›soziales Problem‹ einstuft, bezieht sie sich auf die Verwobenheit von ›ästhetischer Qualität‹ und ›Klasse‹, die im Sinne von Bourdieu als Geschmack des weißen Bildungsbürgertums an den Stadt- und Staatstheatern als Qualität institutionalisiert ist (vgl. Bourdieu 1982). Die Exklusion ist also in vielfacher Hinsicht strukturell in die Institution Theater verwoben. Diese Diskriminierungsstrukturen existieren nicht nur im Theater, sondern sind symptomatisch für eine immer noch existierende gesellschaftliche Negierung einer gelebten Realität in Deutschland, die von Migration und Diversität geprägt ist. Aber wie können längst gelebte Realitäten auf die Bühne gebracht werden? Durch Widerstands- und Ermächtigungs­strategien von Künstler_innen und Theater­macher_innen, die neue Narrative schaffen, neue ästhetische Ansätze umsetzen und diskrimierungskritische Wege einschlagen.

Ermächtigungsräume und Selbstermächtigungsstrukturen

In den letzten Jahren ist durch die Präsenz von Künstler_innen of Color und den von ihnen geschaffenen Orten der Ermächtigung und des Widerstandes eine Verschiebung der Kunst-Diskurse entstanden, sodass beispielsweise Kritik an strukturellem Rassismus und den hegemonialen Verhältnissen auch in den Mainstream-Medien diskutiert wird.
Die Arbeiten von Künstler_innen of Color können als ›sites of resistance‹ gelesen werden – als Widerstands- und Überlebensstrategien.
Das prominenteste Beispiel im Theaterkontext ist das Ballhaus Naunynstraße, das sich aus der Notwendigkeit einer Institutionalisierung und Sichtbarmachung von marginalisierten künstlerischen Positionen entwickelt hat. Mit seiner Gründung durch Shermin Langhoff und ihrem künstlerischen Team im Jahre 2008 wurde für Theatermacher_innen der zweiten und dritten Migrations­generation ein theatraler Raum geschaffen, in dem bis dahin überhörte Geschichten über die deutsche Gesellschaft aus der Perspektive von Menschen, »die selbst nicht mehr migriert sind, diesen Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung mitbringen« (Langhoff 2011: 400), erzählt werden konnten. Das Theater bezeichnet sich selbst als ›postmigrantisches Theater‹, eine Bezeichnung, die bald auch von anderen künstlerischen Be­reichen sowie der Wissenschaft aufgegriffen wurde. ›Postmigration‹ ist ein diskurstheoretischer Begriff, der eine Auseinandersetzung mit Migration kritisch und reflexiv ermöglicht (Lornsen 2007: 211). Einerseits soll die homogene und problemfokussierte Diskussion um Migration aufgebrochen werden und andererseits sollen Perspektiven von Menschen mit – eigener oder intergenerativer – Migrationsgeschichte in den Diskurs eingebracht werden, damit ein gemeinsamer Assoziations- und Denkraum eröffnet werden kann. Shermin Langhoff verdeutlicht, dass in der postmigrantischen Kulturpraxis des Ballhauses Naunynstraße nationale Kategorisierungen zurückgewiesen werden: »Das Haus hat sich einer postmigrantischen Positionierung verschrieben, die die Künstler_innen bewusst ›Beyond Belonging‹ nennen.« ( nah & fern 2009: 21) ›Beyond Belonging‹ bedeutet übersetzt ›Jenseits von Zugehörigkeit‹ und kann als eine transnationale Perspektive verstanden werden, in der Theatergeschichten nicht mehr national und regional, sondern translokal verortet werden.
Im Jahr 2013 hat Shermin Langhoff die Intendanz des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin übernommen, das es sich nun zur Aufgabe gemacht hat, ein ›Migration Mainstreaming‹ in der gesamten Struktur des Stadttheaters durchzusetzen. Wagner Carvalho hat die künstlerische Leitung des Ballhaus Naunynstraße übernommen und Schwarze und Afropolitane künstlerische Positionen in den Diskurs des postmigrantischen Theaters eingeführt.
Ein anderer, ebenfalls in Berlin angesiedelter Ort des Empower­ments ist das JugendtheaterBüro Berlin, das sich als künstlerischer Betrieb versteht und von Jugendlichen und Mitarbeiter_innen gemeinsam getragen und gestaltet wird. In seinen Grundsätzen orientiert es sich an der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der sechziger und siebziger Jahre. So wurde beispielsweise die eigene Bühne Theater X nach Malcolm X benannt. In der Theaterarbeit werden selbst gewählte, politisch und gesellschaftlich relevante Themen in künstlerische Performances umgesetzt. Die Performer_innen, meist Jugendliche of Color, gestalten aktiv alle Bereiche des Theaterbetriebs mit und übernehmen zunehmend Verantwortung. Beim jährlich stattfindenden, selbstorganisierten Jugendtheaterfestival Festiwalla sind die jugendlichen Künstler_innen für die konzeptionelle, organisatorische und ästhetische Umsetzung zuständig. Bei der Kampagne KulTür auf! nutzen die Jugendlichen die Methodik der ästhetischen Forschung, um Kulturinstitutionen für ihre Diskriminierung produzierenden Strukturen zu kritisieren und eine machtkritische Institutionsöffnung zu erzeugen. Schließlich wurde in der Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Berlin Spandau der Refugee Club Impulse gegründet. Refugee Club Impulse ist eine Theatergruppe, die sich in ihren künstlerischen Arbeiten mit der Situation von Geflüchteten auseinandersetzt. Im Vordergrund stehen die Ermächtigung und die Stärkung des Selbstbewusstseins der Menschen, deren Leben durch das Asylregime fremdbestimmt wird.
Die Ansätze des postmigrantischen Theaters haben auch auf europäischer Ebene für einen gemeinsamen Diskursraum gesorgt. So gab es von 2011 bis 2013 das Projekt Europe Now als Zusammenschluss von Theatermacher_innen of Color und Theaterhäusern mit einer postmigrantischen Ausrichtung. Die Idee hinter dem Europe Now-Projekt war die Schaffung einer Plattform, die in Europa verstreute Künstler_innen of Color zusammenbringt. Es wurden gemeinsame Geschichten entwickelt und einem breiteren, europäischen Publikum zugänglich gemacht.

Visionen und Strategien diskriminierungskritischer Kunst

Es gibt zwar erst wenige solcher Orte des Empowerments, an denen die Positionen der noch immer marginalisierten Künstler_innen of Color thematisiert und abgebildet werden, jedoch sind diese
bereits heute so machtvoll, dass sie in der Theaterlandschaft und darüber hinaus nicht länger ignoriert werden können. Sie schaffen neue und gemeinsame Narrative, um »Erfahrung von Zerstreutheit und Fragmentierung […] einen imaginären Zusammenhang zu verleihen« (Hall 1994: 28). Aber sollte diese Aufgabe nicht auch von anderen Theaterhäusern übernommen werden? Und: Was können die einzelnen Orte des postmigrantischen Theaters leisten und wo sind auch ihre Grenzen in Bezug auf Ressourcen und Expertise?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich das Bündnis kritischer Kulturpraktiker_innen, das sich während einer Berliner Konferenz über ›niedrigschwellige Kulturvermittlung‹ in den Kulturinstitutionen aus Protest gegen die auf der Konferenz eingenommenen Perspektiven gründete. Während bei der Konferenz der Fokus auf der Frage lag, wie Gruppen, die bisher kaum Kulturinstitutionen besuchen, an diese herangeführt werden könnten, kritisierte das Bündnis, dass dabei unterlassen wurde, die diskriminierenden Strukturen zu untersuchen, mittels derer die Kulturinstitutionen Ausschlüsse produzieren.
Mit dieser Perspektive steht das Bündnis kritischer Kultur­praktiker_innen »in einer langen Reihe von Kämpfen und Protesten, die versuchen, die bestehende, kulturelle Deutungshoheit aus den Angeln zu heben und zur Disposition zu stellen« (Sharifi/ Scheibner 2015). [4] Es fordert eine institutionelle und personelle Umstrukturierung öffentlich finanzierter Kulturbetriebe und eine damit einhergehende Umverteilung finanzieller Ressourcen, bei der Vertreter_innen marginalisierter Communitys an Entscheidungen beteiligt werden, indem sie auch in den Gremien der staatlichen Kulturförderung mitwirken. Darüber hinaus fordert es eine langfristige Förderung von Räumen, in denen auch jenseits eurozentristischer ästhetischer Traditionen Kunstproduktionen entwickelt werden können.
»Um über diskriminierungskritische Kulturproduktion nachzudenken, braucht es Raum zum Denken, zum Ver-Lernen, zum Neu- und Wieder-Erfinden. Raum für Visionen, in dem vornehmlich jene Perspektiven zu Wort kommen, die sonst selten gehört werden, weil ihnen die Relevanz abgesprochen wird. Diskriminierung wirkt nicht nur in eine Richtung, sondern in zahlreiche und das zugleich. Rassismus, Sexismus, Ableismus, Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und Religion etc. sind nicht unabhängig voneinander zu denken, sondern in vielfacher Art und Weise miteinander verwoben. Um die tiefgreifenden Verflechtungsformen diskriminierender Strukturen im Kulturbetrieb benennen zu können muss es also Orte geben, an denen es möglich ist, die verschiedenen Variationen
von Ausschlüssen zusammen zu denken.« (Sharifi/Scheibner 2015)
Auf der vom Bündnis organisierten Konferenz Vernetzt Euch! Strategien und Visionen für diskriminierungskritische Kunst wurde ein Austausch von Selbstorganisationen geschaffen, um exkludierende Mechanismen sichtbar zu machen und abbauen zu können. Das ›aktivistische (Alltags-)Wissen‹ der teilnehmenden Akteur_innen bildet die Grundlage des gemeinsamen Denk- und Erfindungsprozesses, aus dem gemeinsame Handlungsfelder entstehen sollen, um Strukturen im Kulturbetrieb aufzubrechen und Raum für Neues zu schaffen.

Der Blick nach vorn

Was kann also Theater leisten? Oder wie kann sich Theater verändern, um nicht bei der Reproduktion von Diskriminierung stehen zu bleiben?
Theater kann einen Raum schaffen, einen Raum ermöglichen, in dem subalterne Perspektiven und Positionen sichtbar werden. Dabei muss es seine eigenen Strukturen und theatralen Mittel permanent kritisch in Betracht ziehen.
Dem Theaterstück Urteile ist es gelungen, das Trauma der rassistischen Gewalt, unter dem subalterne Subjekte in der deutschen Gesellschaft leben, in seiner Mehrdimensionalität abzubilden. Zusätzlich zur Theaterproduktion wurde ein kulturpolitisches Rahmenprogramm am Residenztheater geschaffen, bei dem struktureller und institutioneller Rassismus in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen diskutiert wurde. Es bleibt die Frage, wie der Diskurs im Residenztheater München und in anderen Theater­häusern weitergeführt wird. Räume und Diskurse können geschaffen, aber auch wieder abgeschafft und abgebrochen werden. Die Notwendigkeit besteht in einer beständigen und fortwährenden Auseinandersetzung, die die Gegebenheiten immer wieder in Frage stellt.

Azadeh Sharifi ist Kultur- und Theaterwissenschaftlerin, Autorin und Aktivistin. Sie forscht zu (post)migrantischem Theater, Theater und Rassismus und Postkolonialismus. Sie war Fellow am Internationalen For­­schungs­­kolleg Interweaving Performance Cultures der Freien Universität Berlin und forscht seit 2016 an der Theaterwissenschaft München zu: (Post)migrantisches Theater in der deutschen Theatergeschichte – (Dis)Kontinuitäten von Ästhetiken und Narrativen.

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Fußnoten:

[1] Blackface ist eine aus dem 19. Jahrhundert stammende Tradition aus den Minstrel Shows,
bei der sich weiße Schauspieler_innen das Gesicht schwarz anmalen, um in einer ›närri-
schen Art‹ Schwarze Menschen darzustellen.

[2] »Ursprünglich kommt das N-Wort aus dem Lateinischen als Bezeichnung für die Farbe
Schwarz: niger. Am Ende des 18. Jh. war jedoch das N-Wort bereits ein abwertender Begriff
mit verletzendem Charakter, der durchaus strategisch genutzt wurde, um das Gefühl
von Verlust, Minderwertigkeit und die Unterwerfung unter weiße koloniale Herrschaft
zu implementieren.« (Kilomba 2009, o.S.)

[2] Der Begriff ›weiß‹ wird im Schriftbild kursiv gesetzt, um die privilegierte Position von
Weißen in Bezug auf Rassismus zu benennen und sichtbar zu machen. ›Schwarz‹ wird mit
einem großen ›S‹ geschrieben, auch in der adjektivistischen Verwendung, um die biolo-
gisierende Vorstellung von (Haut-)Farbe zu brechen und die soziale Realität, die aufgrund
dieser kolonialisierten Vorstellung hergestelltwird, zum Ausdruck zu bringen.

[4] Dabei beziehen sie sich unter anderem auf die jüdische Gemeinde, die gegen den Antisemitismus des Fassbinder-Stückes Der Müll, die Stadt und der Tod im Jahr 1985 protestierte, und auf den Protest der Intitiative Schwarze Menschen in Deutschland im Jahre 2003 gegen den rassistischen Sprachgebrauch der Berliner Volksbühne.

Literatur:

Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main.
Crenshaw, Kimberlé W. (1995): Mapping the Margins: Intersectionality, Identity, Politics, and Violence against Women of Color. In: Dies. u. a. (Hg.): Critical Race Theory. The Key Writings that Formed the Movement, New York, 357-384.
Ha, Kien Nghi (2007): People of Color – Koloniale Ambivalenzen und historische Kämpfe. In: Ders./al-Samarai, Nicola Lauré/Mysorekar, Sheila (Hg.): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassis­mus, Kultur­po­litik und Widerstand in Deutschland, Münster, 31-40.
Hall, Stuart (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2,Hamburg.
Kilomba, Grada: Das N-Wort. www.bpb.de, letzter Zugriff: 26.04.2016. Mecheril, Paul/Broden, Anne (2007): Migrationsgesellschaftliche Re-­­Präsen­ta­tionen. Eine Einführung. In: Dies. (Hg.): Re-Präsentationen. Dynamiken der Migrationsgesellschaft, Düsseldorf, 7-28.
nah & fern (2009): »Theater kann eine Identitätsmaschine sein«, Interview mit Shermin Langhoff. In: nah & fern 43, 18-23.
Langhoff, Shermin/Kulaoglu, Tuncay/Kastner, Barbara (2011): Dialoge I: Migration dichten und deuten. Ein Gespräch zwischen Shermin Langhoff, Tunçay Kulaoğlu und Barbara Kastner. In: Artur Pelka/Stefan Tigges (Hg.): Das Drama nach dem Drama. Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945, Bielefeld 2011, 309-408
Lornsen, Karin (2007): Transgressive Topographien in der türkisch-­deutschen Post-Migranten-Literatur, Vancouver.
Lutz, Christiane (2013): Offene Türen. In: jetzt.de vom 11.12.2013. www.jetzt.sueddeutsche.de, letzter Zugriff: 26.04.2016.
Perumal, Murali (2013): Offener Brief. www.nachtkritik.de, letzter Zugriff: 26.04.2016.
Pilz, Dirk (2011): Man muss bestimmte Menschen meiden. In: Berliner Zeitung vom 04.04.2011. www.berliner-zeitung.de., letzter Zugriff: 26.04.2016.
Sevil, Canan (2012): Regisseur Erpulat: Ich verdanke meinen Erfolg Vorurteilen. Abrufbar unter: www.nrw-buehnen.de, letzter Zugriff: 26.04.2016.
Sharifi, Bahareh/Scheibner, Lisa (2015): Paradigmenwechsel mit Hindernissen – Diversität in der deutschen Kulturlandschaft, eine Bestandsaufnahme. mind­thetrapberlin.wordpress.com, letzter Zugriff: 26.04.2016.
Sharifi, Azadeh (2015): Moments of significance – On artists of Color in European Theatre. In: Pultz Moslund, Sten Ring Petersen, Anne/Schramm, Moritz: The Culture of Migration: politics, aesthetics and histories, London/ New York, 243-257.
Simons, Johan (2015): Regisseur Johan Simons zum Stück. Abrufbar unter: dshgenet.wordpress.com, letzter Zugriff: 26.04.2016.
Weiß, Anja (2013): Rassismus wider Willen. Ein anderer Blick auf eine Struktur sozialer Ungleichheit, Wiesbaden.
Wissert, Julia (2014): Schwarz. Macht. Weiß. Eine künstlerische Recherche zur Frage nach strukturellem Rassismus auf deutschsprachigen Bühnen, Salzburg.

Zuerst veröffentlicht in:
Tunay Önder, Christine Umpfenbach, Azar Mortazavi (Hg.)
URTEILE – Ein dokumentarisches Theaterstück über die Opfer des NSU. Mit Texten über alltäglichen und strukturellen Rassismus.
ISBN 978-3-89771-217-1
Unrast Verlag