Kurz-Protokoll 351. Verhandlungstag – 07. März 2017

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Der Senat verliest zu Beginn des Prozesstages einige Schriftstücke, es werden außerdem Abbildungen in Augenschein genommen. Danach lehnt Götzl einige Beweisanträge von Vertreter*innen der Nebenklage sowie der Verteidigung von Ralf Wohlleben ab und verkündet dann, dass nun über alle vorliegenden Anträgen von Seiten des Senats entschieden worden sei. Die Verteidigung Wohlleben beantragt währenddessen immer wieder eine Unterbrechung des Verhandlungstages. Dies wird zurückgestellt. Vor Ende des Prozesstages stellt NKRA Fresenius einen Beweisantrag zum Behördenverhalten bzgl. des Anschlags in der Kölner Keupstraße. Er legt darin dar, dass sowohl bei der Polizei als auch beim Verfassungsschutz ein rechtes Motiv für den Anschlag sehr zeitnah ernsthaft in Betracht gezogen wurde. Dennoch sei dies nie öffentlich kommuniziert worden, vielmehr habe sich der damalige Bundesinnenminister Otto Schily kurz nach dem Anschlag gegenteilig geäußert und einen möglichen terroristischen Hintergrund verneint.

Der Verhandlungstag beginnt um 09:47 Uhr. Götzl: „Wir kommen nunmehr zur Verkündung von Beschlüssen.“ Götzl verkündet den Beschluss, dass der Beweisanregung von NK-Vertreter RA Elberling, über die VS-Behörde Hamburg ein Behördenzeugnis zur „Hetendorfer Tagungswoche“ einzuholen, nicht entsprochen wird.

Danach verkündet Götzl den Beschluss, dass der Beweisantrag von NK-Vertreter RA Reinecke auf Vernehmung von Chris Me., Leiter der Unternehmenskommunikation bei der dpa, Lars Fr. von der Freien Presse Chemnitz und Michael Ta., Geschäftsführer der Mediengruppe Thüringen Verlag GmbH, abgelehnt wird, weil die unter Beweis gestellten Tatsachen für die Entscheidung tatsächlich ohne Bedeutung seien.
Die Beweistatsachen, die durch die drei Zeugen bewiesen werden sollen, belegen, dass weder die dpa noch in Sachsen und Thüringen verbreitete Lokalzeitungen über den Anschlag in der Probsteigasse in Köln im Jahr 2001 berichtet haben. Hieraus, so die Antragsteller, sei zu schließen, dass die Angeklagte Zschäpe in ihrer Einlassung vom 09.12.2015 nicht die Wahrheit gesagt habe. Sie habe dort nämlich ausgeführt, sie habe von dem Bombenanschlag in der Probsteigasse in Köln erst erfahren, als sie Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach Berichten in der Presse darauf angesprochen habe. Aus der ihr zugänglichen Presse könne sie aber davon nicht erfahren haben. Dies ist aber nach der durchgeführten Beweisaufnahme nicht der Fall. Die Angeklagte Zschäpe hatte in der von ihr und Mundlos und Böhnhardt genutzten Wohnung Zugriff auf zumindest drei Zeitungsartikel zur „Probsteigasse“.

Es folgt die Ablehnung des Beweisantrags der Verteidigung Wohlleben auf Vernehmung des Jenaer Staatsschutzbeamten Tu. Die unter Beweis gestellten Tatsachen als erwiesen unterstellt, belegten zusammengefasst, so Götzl weiter, verschiedene Umstände, welche der Zeuge und der ebenfalls benannte und bereits in der Hauptverhandlung gehörte Zeuge Kö. als Mitglieder des polizeilichen Staatsschutzdezernats in Jena ab Mitte der 1990er Jahre bis in die 2000er Jahre im Zusammenhang mit dem Angeklagten Wohlleben erfuhren sowie verschiedene Umstände im Zusammenhang mit der „sogenannten rechten Szene“ in Jena. Diese unter Beweis gestellten Tatsachen seien aber einzeln und in ihrer Gesamtheit für eine mögliche Schuld- und/oder Rechtsfolgenfrage bei den Angeklagten tatsächlich ohne Bedeutung:
Bei den Beweistatsachen handelt es sich um Einschätzungen der Zeugen Tu. und Kö., nämlich dass Ausländer- und Asylpolitik eine „untergeordnete Rolle“ spielte, dass es dem Angeklagten Wohlleben „darum ging“, dass nationale Positionen Gehör finden und dass der Angeklagte dem medialen Totschweigen nationaler politischer Positionen „entgegenwirken wollte“. Die Einschätzungen würden lediglich die subjektive Überzeugungen im Hinblick auf die Beweistatsachen belegen.

Dann verliest Götzl die Ablehnung des Beweisantrags der Verteidigung Wohlleben auf Vernehmung des Jenaer Staatsschutzbeamten Kö.
Es ist nicht ersichtlich, welche Haupttatsache durch die Beweistatsachen potentiell berührt sein sollte. Die Antragsteller haben in ihrem schriftlich abgefassten Beweisantrag kein Beweisziel formuliert. Die Frage, dass der Angeklagte Wohlleben nicht als „Chefsache“ behandelt wurde und dass der Zeuge Kö. dies auch niemals äußerte, hat keinerlei Auswirkungen auf eine mögliche Schuld- und/oder Rechtsfolgenfrage. Aus dem Nichtbestehen einer „Chefsache“ und einer diesbezüglichen Nichtäußerung des angebotenen Zeugen Kö. lassen sich auch keinerlei Schlüsse im Hinblick auf eine Bedeutung oder Nicht-Bedeutung des Angeklagten Wohlleben für das Dezernat Staatsschutz in Jena ziehen.

Danach verkündet Götzl, dass auch der Antrag der Verteidigung Wohlleben auf Ladung und Vernehmung von insgesamt 17 Zeug_innen – neun Kontaktpersonen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt und acht Personen, die zu Wohllebens angeblicher Ablehnung von Gewalt und dazu, dass er „Ausländern nicht feindselig oder gar mit Hass“ begegnet sei, vernommen werden sollen – abgelehnt wird. Die unter Beweis gestellten Tatsachen seien für die Entscheidung jedoch tatsächlich ohne Bedeutung.

Götzl verliest dann, dass dem Antrag der Verteidigung Wohlleben, im Wege des Freibeweisverfahrens die Unterlagen des behandelnden Arztes, bei dem sich Schultze einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie unterzogen habe zu verlesen, nicht nachgekommen wird, und die Anträge, einen psychiatrischen SV zur Aussagetüchtigkeit von Carsten Schultze sowie einen aussagepsychologischen SV zu bestimmten Angaben von Schultze zu vernehmen, abgelehnt werden:
Der psychiatrische Sachverständige Prof. Dr. Leygraf führte im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur möglichen Reifeverzögerung beim Angeklagten Schultze aus, er habe den Angeklagten Schultze während des Ermittlungsverfahrens an drei Tagen ausführlich exploriert. Es gebe, so seine Zusammenfassung, beim Angeklagten Schultze keinen Hinweis auf einen psychopathologischen Zustand oder eine psychiatrische Erkrankung.

Dann verliest Götzl: „Es wird festgestellt, dass aus Sicht des Senats keine Anträge der Prozessbeteiligten, also Beweisanträge, Beweisermittlungsanträge oder Anträge im Sinne
von Beweisanregungen mehr zu entscheiden sind, da diesen entweder nachgegangen worden ist oder diese abschlägig verbeschieden worden sind.“

Dann verkündet Götzl eine weitere Verfügung: „Es ergeht sodann Fristsetzung für den Fall, dass noch weitere Beweisanträge gestellt werden sollen.“ Götzl: „Es wird für die Stellung von Beweisanträgen eine Frist bis zum 14.03.2017 gesetzt.“

Götzl: „Was man ja heute noch machen könnte, wäre, dass wir heute den Beweisantrag von Rechtsanwalt Fresenius noch hören. Bitte schön!“
RA Fresenius verliest den Beweisantrag:
Es wird beantragt, die am 09.06.2004 um 17:04 Uhr durch das LKA Nordrhein-Westfalen an alle Landeskriminalämter, das Innenministerium Nordrhein-Westfalen, den GBA, das BKA, das BfV und das BMI per Fernschreiben versandte Lageerstmeldung über das Nagelbombenattentat in der Keupstraße beizuziehen und zu verlesen zum Beweis der Tatsache, dass diese mit dem Betreff „terroristische Gewaltkriminalität“ überschrieben ist. Zudem wird beantragt, den ehemaligen nordrhein-westfälischen Innenminister Dr. Fritz Behrens als Zeugen zu vernehmen. Er wird bekunden, dass das LKA Nordrhein-Westfalen auf Weisung des Landesinnenministeriums die Lageerstmeldung durch ein weiteres Fernschreiben um 17:45 Uhr korrigierte und nunmehr angab, es lägen keine Hinweise auf terroristische Gewaltkriminalität vor, ohne dass zwischenzeitlich eine Änderung der Erkenntnislage eingetreten wäre.
Es wird weiter beantragt, die operative Fallanalyse des LKA Nordrhein-Westfalen zu dem Nagelbombenanschlag in der Keupstraße, die am 20.07.2004 vorgestellt wurde, und das diesbezügliche Schreiben der Bezirksregierung Köln an das Innenministerium Nordrhein-Westfalen vom 29.07.2004 beizuziehen und in der Hauptverhandlung zu verlesen sowie ihre jeweiligen Ersteller als Zeugen zu vernehmen. Die Beweisaufnahme wird hinsichtlich der operativen Fallanalyse ergeben, dass diese zu dem Ergebnis kam, bei den Opfern handele es sich um Zufallsopfer und auf Täterseite sei ein persönliches Motiv mit örtlichem Bezug in Kombination der Faktoren „Politisch motiviert (unorganisiert/fremden- bzw. türkenfeindlich)“ und „Machtausübung/Machtmotiv“ am wahrscheinlichsten.
Hinsichtlich des Schreibens der Bezirksregierung wird die Beweisaufnahme ergeben, dass das Polizeipräsidium Köln in Abstimmung mit dem LKA Nordrhein-Westfalen eine mögliche rassistische Motivation im Rahmen eines Pressetermins am 30. Juli 2004 trotz dahingehender Ergebnisse aus der OFA aus taktischen Gründen nicht thematisierte.
Weiter wird beantragt, das vom BfV am 08.07.2004 verfasste Dossier zum Sprengstoffanschlag in der Keupstraße vom 09.06.2004 beizuziehen und zu verlesen zum Beweis der Tatsache, dass das BfV zu diesem Zeitpunkt eine rechtsextremistische Motivation für die Tat nicht ausschloss, dass es bereits einleitend auf den bis dahin ungeklärten Sprengstoffanschlag auf ein Lebensmittelgeschäft einer iranischen Familie in der Probsteigasse in Köln im Jahr 2001 hinwies, und dass es aufgrund des verwendeten Tatmittels und der Opferauswahl davon ausging, dass eine Serie von Nagelbombenanschlägen mit rechtsradikalem Hintergrund, die sich im April 1999 in London ereigneten, als Muster für den Anschlag in der Keupstraße gedient haben könnten.
Schließlich wird beantragt, den ehemaligen Bundesinnenminister Otto Schily als Zeugen zu vernehmen zum Beweis der Tatsache, dass er gegenüber der Tagesschau am 10.06.2004 äußerte: „Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu, aber die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, so dass ich eine abschließende Beurteilung dieser Ereignisse jetzt nicht vornehmen kann.“ Der Zeuge wird weiter bekunden, dass er zu diesem Zeitpunkt keinerlei Erkenntnisse hatte, die auf ein kriminelles Milieu hindeuteten, dass er seine Aussage tätigte, um Schaden von dem Ruf der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden, den er im Falle öffentlicher Berichterstattung über einen wahrscheinlich rassistisch motivierten Terroranschlag befürchtete.
Begründung:
Die Bewohnerinnen und Bewohner und Gewerbetreibenden in der Keupstraße haben nicht nur die unmittelbaren Folgen der Nagelbombenexplosion am 9. Juni 2004 – die teilweise lebensgefährlichen körperlichen Verletzungen, die psychische Traumatisierung, die Verwüstung von Wohnhäusern, Geschäften und Restaurants – erlitten. Vielmehr haben Sie auch auf Grund der gegen sie selbst gerichteten Ermittlungen sowie auf Grund der durch diese Ermittlungen sowie öffentliche Meldungen staatlicher Behörden befeuerte Berichterstattung, die die Bewohnerinnen und Bewohner der Keupstraße bzw. mit diesen in Zusammenhang stehende Kreise der „organisierten Kriminalität“ als Urheber des Anschlags verdächtigten, zum einen erhebliche psychische Leiden, zum anderen aber auch handfeste finanzielle Verluste durch Ausbleiben von Kundinnen und Kunden in den Geschäften und Restaurants in der Keupstraße erlitten.
Dabei war schon aufgrund des objektiven Tatbildes, insbesondere der Auswahl des Tatortes in Verbindung mit dem eingesetzten Tatmittel, für die Ermittlungsbehörden von Anfang an erkennbar, dass der Nagelbombenanschlag in der Keupstraße in Köln einen rassistischen und damit wahrscheinlich neonazistischen Hintergrund hatte.
Nicht nur verschiedene Anwohnerinnen und Anwohner selbst gaben in ihren Vernehmungen an, angesichts der Zufälligkeit der individuellen Geschädigten lasse sich die Tat nur als eine rassistische erklären, sondern dieser zutreffende Schluss wurde zunächst auch aus Kreisen der Sicherheitsbehörden gezogen.
Darüber hinaus wies das BfV auf ein von „Combat 18“ propagiertes, zu Gewalt aufrufendes Konzept in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner hin. So informierte es über Veröffentlichungen im Stormer (Nr. 1 der deutschen Ausgabe), in denen die Frage nach gewaltsamen Aktionen aufgeworfen worden sei. Das BfV berichtete zudem explizit darüber, „dass ‚Combat 18‘ auch in der rechtsextremistischen Szene in Deutschland bekannt und beliebt sei“ und verwies darauf, dass Hinweise auf Sympathisanten von „Combat 18“ im Bereich Köln bestünden. Die Zeugin Do., Leiterin der Abteilung „Rechtsterrorismus“ im BfV zum Zeitpunkt des Sprengstoffanschlags in der Keupstraße, erläuterte im Untersuchungsausschuss die Gründe der Abteilung zur Abfassung des Dossiers: „Also, wir haben das zur Kenntnis genommen, dass es Anhaltspunkte geben sollte, die in eine andere Richtung zeigen. Wir haben aber unsere Einschätzung, dass es sehr wohl Rechtsextremisten gewesen sein könnten – die wollten wir an die zuständigen Stellen weitertransportieren.“
Zur Motivlage stellte die Operative Fallanalyse des LKA Nordrhein-Westfalen fest: „Zwei aus einem persönlichen Motiv handelnde Täter gleicher Gesinnung, hinter denen keine Organisation stehen dürfte. Sinnbildlich ausgedrückte Motivlage: ‚Wir zünden die ‚Bombe‘ mitten in eurem ‚Wohnzimmer‘ – Ihr werdet euch dort nie mehr so wohl, so sicher wie früher fühlen und besorgt sein, dass das noch mal passiert.“ Die Gesamtbewertung rechtfertige die Annahme, dass es sich bei den Tätern mit hoher Wahrscheinlichkeit um Deutsche handele, beide seien Mountainbikefahrer und hätten eine Affinität zu Waffen/Sprengstoff, eventuell seien sie schon früher damit aufgefallen, die Täter seien wahrscheinlich polizeilich schon in Erscheinung getreten, eventuell wegen fremdenfeindlicher Straftaten.
Diese frühe richtige und nach den objektiven Tatumständen auch äußerst naheliegende Einschätzung der verschiedenen Sicherheitsbehörden hat sich weder in dem der Öffentlichkeit kommunizierten Bild noch in dem Umgang mit den Betroffenen des Anschlags niedergeschlagen. Vielmehr erscheint es so, als habe man seitens der Behörden durchweg vermeiden wollen, dass der wahrscheinliche rassistische und neonazistische Hintergrund der Tat öffentlich bekannt würde.
So erklärte der Pressesprecher des BfV trotz der oben geschilderten Aktivitäten der Abteilung „Rechtsextremismus“ bereits am 10.06.2004, die Ermittlungen gingen in Richtung Organisierte Kriminalität. Auch in der Lageübersicht des BMI vom 10.06.2004 wurde ein terroristischer Hintergrund des Anschlags „derzeit“ ausgeschlossen. Aus dem in die Beweisaufnahme einzuführenden Schreiben der Bezirksregierung Köln an das Innenministerium Nordrhein-Westfalen vom 29.07.2004 geht hervor, dass das Polizeipräsidium Köln eine laut OFA-Ergebnissen möglicherweise vorliegende rassistische Motivation im Rahmen eines Pressetermins am 30.07.2004 nicht thematisieren werde. Diese taktische Vorgehensweise sei mit dem LKA Nordrhein-Westfalen abgestimmt.
Den Gipfel dieser der Fakten- und Erkenntnislage diametral entgegenstehenden staatlichen Informationspolitik stellt die Aussage des Zeugen Schily, des damaligen Bundesinnenministers, dar, der trotz der genannten Erkenntnisse am 10.06.2004 gegenüber der Tagesschau äußerte, die Erkenntnisse deuteten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein sog. „kriminelles Milieu“. Mit dieser Aussage, die der Zeuge Presseberichten zu Folge noch 2012 als „schweren Fehler“ bezeichnet hat, die er inzwischen aber abstreitet und gegen ihre Erwähnung durch Dritte sogar rechtliche Schritte einleitet, hat er als damaliger Bundesinnenminister entgegen der klaren Fakten- und Erkenntnislage eine mögliche rassistische Motivation und Täterschaft durch deutsche Neonazis von Anfang an ausgeschlossen und stattdessen ohne jegliche Faktengrundlage ein „kriminelles Milieu“ ins Spiel gebracht.
Entsprechend der Äußerungen u.a. des Bundesinnenministers als „obersten Dienstherrn“ der Ermittlungsbehörden gestalteten sich auch die Ermittlungen gegenüber den Verletzten und den Anwohnerinnen und Anwohnern der Keupstraße. Wie diese durch die Ermittlungsbehörden behandelt wurden und welche psychischen Folgen dies auslöste, hat die hiesige Beweisaufnahme eindrücklich gezeigt.
Infolge dieser Ermittlungen sowie der durch eine Vielzahl weiterer Beispiele belegbaren Informationspolitik, deren planvolles Verschweigen der naheliegenden Möglichkeit eines neonazistischen terroristischen Tathintergrundes mit der durch nichts belegten Behauptung von Hinweisen auf den Bereich der organisierten Kriminalität korrespondierte, wurde frühzeitig eine Berichterstattung über den Anschlag mitverursacht, die die betroffenen Geschädigten in die Nähe der Täter rückte. Von den mittelbaren Folgen, die diese in der Keupstraße auch als „Anschlag nach dem Anschlag“ bezeichneten Handlungen der Ermittlungsbehörden und der Presse auslösten, haben viele Betroffene in der hiesigen Hauptverhandlung berichtet.
Diese Umstände sind für die Tat- und Schuldfrage von Bedeutung – und zwar auch dann, wenn man mit dem Generalbundesanwalt der Auffassung wäre, die Aufklärung der Taten des NSU und der Begleitumstände sei strikt auf die sehr eng gefasste Anklageschrift zu beschränken. Denn die Beweisaufnahme wird zeigen, dass die genannten, auf die Ermittlungen und der Presseberichterstattung zurückzuführenden psychischen und finanziellen Folgen für die Betroffenen nicht auf dem Bombenanschlag als solchem, sondern auf der Behandlung der Anwohnerinnen und Anwohner der Keupstraße durch Polizei, andere staatliche Behörden und die Öffentlichkeit beruhten. Nach den objektiven Umständen der Tat ist davon auszugehen, dass die Mitglieder und
Unterstützer des NSU bei der Vorbereitung und Durchführung dieser Tat von zweierlei ausgingen: erstens davon, dass die Ermittlungsbehörden von Anfang an erkennen würden, dass die Tat mit hoher Wahrscheinlichkeit einen rassistischen Terrorakt darstellt, und zweitens davon, dass sie in der Folge ihre Ermittlungen in diese Richtung lenken würden. Die beantragte Beweisaufnahme wird ergeben, dass die Behörden sehr wohl die erstgenannte Erkenntnis hatten, jedenfalls alle Fakten kannten, die zu dieser Erkenntnis hätten führen können, dass sie diese aber gerade nicht öffentlich kommunizierten oder bei ihren Ermittlungen berücksichtigten. War es aber für die Angeklagte Zschäpe nicht vorhersehbar, dass die Ermittlungsbehörden auch diese Geschädigten über Jahre wie Verdächtige behandeln und ein entsprechendes Bild der Öffentlichkeit kommunizieren würden, so ergibt sich, dass die oben benannten mittelbaren Folgen des Anschlags der Angeklagten Zschäpe im Verurteilungsfalle nicht strafschärfend zuzurechnen sind.
Dieser „Anschlag nach dem Anschlag“ ist also nicht dem NSU, sondern dem Staat zuzurechnen.

Der Antrag ist von mehreren NK-Vertreter_innen unterschrieben. Der Verhandlungstag endet um 16:39 Uhr.

Kommentar des Blogs NSU-Nebenklage, hier.

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