Tageszusammenfassungen der Plädoyers im NSU-Prozess – fortlaufend ergänzt

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Während der Plädoyerphase des Prozesses werden hier tagesaktuell und fortlaufend Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Diese Zusammenfassungen sind auch auf unserer Protokoll-Seite unter dem jeweiligen Termin zu finden. Dort werden dann durch die jeweiligen Protokolle ersetzt werden.

Tageszusammenfassung des 379. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 01.08.2017
Fünfter Tag des Plädoyers der Bundesanwaltschaft

„Aller-, allerspätestens nach der Taschenlampengeschichte muss Carsten Schultze klargeworden sein, dass die ‘Typen’ ernst machen könnten mit der Waffe“, so fasste Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof, Jochen Weingarten, die Erörterung des fünften Tages des Plädoyers der Bundesanwaltschaft zum Angeklagten Schultze zusammen. Es ging noch einmal ausführlich um die Genese der Aussagen des einzig geständigen Angeklagten Schultze und ihre zeitliche Einordnung und Verknüpfung mit Ereignissen, die von Schultze darin erwähnt werden. Bei der Übergabe der Ceska 83 in Chemnitz sei Schultze mitgeteilt worden, dass die beiden untergetauchten Männer in Nürnberg in einem Laden „eine Taschenlampe“ abgestellt hätten. Bei der Taschenlampe, mit deren Abstellen sich die beiden NSU-Mitglieder gegenüber Schultze rühmten, handelt es sich um den Rohrbombenanschlag auf die Kneipe eines türkisch-stämmigen Betreibers in Nürnberg. Außerdem hatte Carsten Schultze berichtet, der Mitangeklagte Ralf Wohlleben habe ihm einmal am Ende eines Telefonats lachend erzählt, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hätten jemanden angeschossen. Weingarten versuchte nun den indiziellen Nachweis zu führen, dass es sich bei dem Vorfall um den Schuss auf einen jungen Mann gehandelt haben muss, der ihnen nach ihrem ersten bekannten Überfall auf einen Edeka-Markt in Chemnitz Ende 1998 nachgeeilt war. Der Schuss verfehlte den Zeugen und Nebenkläger F. K. um Haaresbreite. Auf keinen Fall könne es sich bei dieser Episode um den ersten NSU-Mord der Ceska-Serie gehandelt haben, so Weingarten, da auf Enver Şimşek am 09.09.2000 neunmal geschossen worden sei, davon sechsmal in den Kopf. Das hätten die Mörder Şimşeks schwerlich als „angeschossen“ bezeichnen können, so Weingarten.

Diese diffizile Analyse dessen, was Schultze im Laufe der Zeit nach Auffliegen des NSU ausgesagt hatte, diente dazu, Carsten Schultzes Tatvorsatz, der für Schuld- und Strafzumessung relevant ist, schonungslos herauszuarbeiten– trotz Schultzes Aussagebereitschaft und der glaubhaften Reue und Kooperation mit den Ermittler_innen. Weingarten gelang es in einem weiteren Block am Ende dieses Verhandlungstages nachzuweisen, dass Schultze – zur fraglichen Zeit noch überzeugter Anhänger und Aktivist der rechten Szene Jenas, der sich von seiner „verantwortungsvollen“ Aufgabe der Kontaktpflege mit den gesuchten Kameraden jedenfalls geehrt und gefördert gefühlt hat, – durch die erwähnten Mitteilungen sehr wohl wissen konnte, welchen Zweck die von ihm abgelieferte Waffen haben sollte, was seine Mitverantwortung an der Mordserie des NSU und seine bewusste Beihilfe unterstreiche. Letztlich stellte Weingarten fest, dass Schultze die Mordwaffe Ceska – deren Zwecksetzung durch den von ihm bestellten und vom Waffenschieber Andreas Schultz mitgelieferten Schalldämpfer noch offensichtlicher geworden sei – trotz dieser Ahnungen, die Schultze selbst als „Bauchschmerzen“ bezeichnete, im Jahr 2000 bewusst an die ihm als fanatisch-ideologische und gewaltaffine Nazis bekannten Mundlos und Böhnhardt übergeben habe.

Noch eindeutiger und vernichtender fiel die Beurteilung der Rolle des Angeklagten Ralf Wohlleben durch die Bundesanwaltschaft aus: In langen argumentativen Bögen arbeitete Weingarten dessen zentrale Rolle als „Konspirationszuchtmeister“ und „Mastermind mit überlegenem Sonderwissen“ heraus. Bei Wohlleben seien alle Fäden der Jenaer Unterstützerszene zusammengelaufen und er habe im Hintergrund steuernd die Unterstützung der Untergetauchten organisiert und auch für deren Bewaffnung gesorgt. Letzteres auch nicht nur einmal durch Schultze und die Ceska 83, sondern ein weiteres Mal durch den Mitangeklagten Holger Gerlach, der eine weitere Waffe – ohne Schalldämpfer – zu einem Zeitpunkt nach den ersten Morden in Zwickau abgeliefert habe. Die Aussage Gerlachs bei der Polizei, Schultzes nach der Festnahme und im Gerichtssal, aber auch die Einlassungen zahlreicher anderer Angehöriger der Jenaer Naziszene ergeben nach Weingartens Interpretation eindeutig diese „zuchtmeisterliche“ Position Wohllebens und den Umfang seiner wissentlichen und – im ideologischen Kontext – willentlichen Beihilfehandlungen.

Zwei Beispiele verdeutlichen die Stringenz von Weingartens Aufbereitung sogar der in Wohllebens eigenen Sinne überaus fragwürdigen Einlassungen selbst. So sei etwa die – von Weingarten als Schutzbehauptung bezeichnete – Version Wohllebens, er habe sich geziert, überhaupt eine Waffe für Uwe Böhnhardt zu besorgen, da er befürchtet habe, Böhnhardt wolle sie zum Suizid im Falle seiner Entdeckung durch die Verfolgungsbehörden verwenden, wofür er, Wohlleben, auf keinen Fall mitverantwortlich habe sein wollen., „abseitig“: Wenn man der Feststellung folgt, dass die über Wohlleben von Schultze besorgten 50 Schuss Munition und der Schalldämpfer von vornherein mit bestellt worden sind. Geradezu genüsslich ventilierte Weingarten die Frage, wozu der „Suizident“ denn für die einmalige Schussabgabe so viel Munition brauche und ob ihm in der Stunde der Selbsttötung noch sein eigenes oder das Gehör anderer in der Umgebung noch derart wichtig sein könne, dass er einen Schalldämpfer gebrauchen wolle. Auch die angebliche Bestellung ausdrücklich „einer Pistole und keines Revolvers“, und zwar eines „deutschen Fabrikats“, bestätige den reinen Schutzcharakter von Wohllebens Schilderungen, denn für einen Suizid sei die Waffenart und auch – „Neonazi hin oder her“ (Weingarten) – eine deutsche Herkunft des Tötungsinstruments völlig unerheblich.

Wohlleben habe sich, so Weingarten, vielfach in seiner Aussage „verheddert“ und „verplappert“ oder sie sei durch Aussagen wie die des Zeugen St. eindrucksvoll widerlegt. St. hatte berichtet, das Wohlleben ihn nach dem Untertauchen der drei aufgefordert habe, einen größeren Betrag für sie in die Solidaritätskasse einzuzahlen. St. habe sich geweigert und Wohlleben habe ihn daraufhin mit seiner Beteiligung an der „Puppentorso“-Aktion zu erpressen versucht. In seiner Aussage verwies St. auf die vor deren Untertauchen durch „Puppentorso“, Drohbriefe, Bombenattrappen und den Sprengstoff in der Garage offenbar gewordene Eskalation der operativen Radikalisierung von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Er habe sich damals gefragt, was denn von den dreien als nächstes kommen solle. Weingarten: „St. hat bereits 1998 mit allem gerechnet, und das obwohl er zu keinem Zeitpunkt eine Pistole mit Schalldämpfer und 50 Schuss Munition liefern sollte. Die rhetorische Frage sei erlaubt: Und ausgerechnet Ralf Wohlleben soll sich die Unkalkulierbarkeit der drei nicht aufgedrängt haben?“

Auch der Zeuge Jürgen Helbig – „ebenfalls nicht mit seherischen Kräften, sondern mit einem bodenständigen Realitätssinn ausgestattet“ (Weingarten) – habe bereits 1999 bei einer Vernehmung durch den MAD die drei Untergetauchten mit Rechtsterroristen auf einer Stufe gesehen und Uwe Böhnhardt des Waffeneinsatzes gegen „Ausländer“ für fähig eingeschätzt, erklärte Weingarten. Nebenbei bestätige Wohllebens Verhalten in der Episode mit St. nochmals seine zentrale Rolle des Organisators der Unterstützung für den NSU. St. habe die Sache richtig erkannt und seine Unterstützungshandlungen eingestellt und die „Kameradschaftspflicht verweigert“
Dass sich Wohlleben keiner Illusionen über die Zwecksetzung der beschafften Waffen hingegeben haben kann, kann nach den Fakten, die Weingartens hierzu zusammengefasst hat, als nachgewiesen angesehen werden.

In einem weiteren Block befragte Weingarten die Aussagen Wohllebens und später auch Schultzes nach deren „intrinsischen und extrinsischen Motivation“, den untergetauchten „Kameraden“ zu helfen. Weingarten fördert dabei eine „völlig entgrenzte Radikalität“ und eine „völkisch motivierte Ausländerfeindlichkeit“ zutage, die eine Verbundenheit untereinander auf „von allen geteilte nationalsozialistische Einstellungen“ zurückführt. Und ausgerechnet Wohlleben, der in alle „Aktivitäten“ von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe – vor und zumindest in den ersten Jahren nach dem Untertauchen – eingeweiht war und den Kontakt zu ihnen in Sachsen herrisch koordinierte, soll nicht geahnt haben, noch überhaupt in Erwägung gezogen haben, dass die Untergetauchten drei mit dieser Schalldämpfer-Pistole Menschen töten wollten? Weingarten ließ auch diese Frage rhetorisch im Saal A 101 des Münchener Strafjustizzentrums stehen, der sich am Ende des Tages in die Sommerpause entleerte.

Nach der Sommerpause geht es am Donnerstag, 31. August 2017, um 09:30 Uhr weiter, nach Ankündigung der BAW mit der Würdigung der Angeklagten André Eminger und Holger Gerlach.

Presseerklärung von Vertreter_innen Nebenklage zum Zwischenstand des BAW-Plädoyers.

Tageszusammenfassung des 378. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 31.07.2017
Vierter Tag des Plädoyers der Bundesanwaltschaft

Heute plädierte Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof, Jochen Weingarten, für die Bundesanwaltschaft. Sein erstes und umfangreiches Thema war „der Weg der Ceska“, der Tatwaffe bei den neun rassistischen Morden des NSU. Die Ausführlichkeit und Detailversessenheit der ersten vier von fünf Dreiviertelstunden-Blöcken am heutigen Tag war einer, wie Weingarten es nannte, „zwingenden Indizienlage“ geschuldet, die zweifelsfrei zu entwickeln war. Und das schon deshalb, weil die Verteidigung des Angeklagten Wohlleben bis heute steif und fest behauptet, der Weg der Waffe vom tschechischen Hersteller der Waffe über die Waffenhändler „Schläfli & Zbinden“ in der Schweiz und fünf Zwischenstationen zu den Angeklagten Carsten Schultze und Ralf Wohlleben sei keineswegs indiziell nachweisbar oder gar bewiesen. Diese Frage ist also von kardinaler Bedeutung für Anklage und Verurteilung der beiden wegen der Beihilfe zum neunfachen Mord angeklagten Schultze und Wohlleben.

Entsprechend ausführlich und penibel gestaltete Weingarten die Erörterung des Indizienbeweises gegen die beiden. Die Waffe „Ceska 83“ stamme von der tschechischen Firma Luxik und sei mit dem dazugehörigen Schalldämpfer in einer bestimmten Charge an das Schweizer Waffengeschäft verkauft worden. Diese hätten die Ceska gegen Vorlage eines in der Schweiz notwendigen Waffenerwerbsscheins an den zeitweise Beschuldigten Anton Ge. versandt, der jedoch nur Strohmann eines weiteren Zwischenhändlers, Hans-Ulrich Mü. gewesen sei, der die Waffe nach Deutschland verkaufen wollte, weil es dort für „gewisse Kreise“ schwer sei, an Waffen heranzukommen, wie Mü. sich laut Ge. eingelassen habe. Mü. habe die Waffe an seinen Freund Enrico Theile weitergereicht, der in der Hauptverhandlung als Zeuge gehört worden ist. Der wiederum habe die Waffe dem Jenaer Jürgen Länger übergeben, der ebenfalls als Zeuge im Prozess gehört wurde. Auf Länger kam der Angestellte Andreas Schultz des Jenaer Szeneladens „Madley“ zu, bei dem der Angeklagte Carsten Schultze eine Waffe mit Schalldämpfer bestellt habe, was Carsten Schultze in seinen Einlassungen eingestanden habe. Schultze habe die Bestellung auf Anregung und Kosten des Angeklagten Wohlleben aufgegeben, die Anforderung sei von den Untergetauchten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gekommen. Weingarten deduzierte aus den Vernehmungen und Einlassungen aller genannten Beteiligten an dem Geschäft, warum die Indizienlage zum „Weg der Ceska“ tatsächlich „zwingend“ und stimmig sei. Es gebe, so Weingarten, keine Zweifel, dass die Waffe im Waffenbuch der Schweizer Händler mit der im Bauschutt der Frühlingsstraße aufgefundenen Tatwaffe identisch sei; dass etwas mit dem Eintrag im Waffenbuch nicht stimmen könnte, worauf die Verteidigung Wohlleben insistiere, habe sich in der Beweisaufnahme nicht ergeben, weshalb die BAW keine Zweifel an der Identität mit der Tatwaffe habe, so Weingarten.

Der Angestellte des Szeneladens, Andreas Schultz, sei, betonte Weingarten, ein ganz zentraler Zeuge dieses Strafverfahrens mit Blick auf Schultze und Wohlleben; er gehöre zu den drei Auskunftspersonen, die den lückenlosen Weg der Ceska bezeugten, ohne die die Anklage wegen Beihilfe zum 9-fachen Mord „hinwegfallen müsste“. Andreas Schultz habe nach einigen Notlügen zugegeben, die Waffe von Jürgen Länger für 2.000 Euro gekauft zu haben und sie dann für 2.500 Euro an Schultze weiterveräußert zu haben – und zwar mit dem Schalldämpfer, der als „geradezu klischeehaftes Instrument eines Profikillers“ gelten könne. Das Geld habe Wohlleben aus dem Depot von 10.000 DM entnommen, das ihm der NSU anvertraut habe. Auf ihrem Blog machen die Nebenklageanwälte Hoffmann und Elberling darauf aufmerksam, dass die BAW an dieser Stelle „den untauglichen Versuch, die Ermittlungsbehörden der damals noch sog. Döner-Morde in Schutz zu nehmen: eine Pistole mit Schalldämpfer sei ja ein geradezu klischeehaftes Anzeichen für organisierte Allgemeinkriminalität, deswegen seien die Ermittlungen eben in diese Richtung gelaufen.“ Einmal mehr versuche die BAW den Aspekt des institutionellen Rassismus zu kaschieren, so die beiden Nebenklagevertreter.

Sodann widmete sich Weingarten ausführlich und geradezu überschwänglich dem Angeklagten Carsten Schultze, seiner Aussagebereitschaft und seiner Glaubwürdigkeit: „Die BAW nimmt Schultze ohne jeden Zweifel ab, an rückhaltloser Aufklärung der Verbrechen des NSU, seiner Beteiligung und der Beteiligung anderer interessiert zu sein, ausschließlich aus einem Motivbündel einer tief empfunden Reue heraus, das Teilnahmeunrecht wiedergutzumachen.“ Es gebe keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Schultze dabei interessegeleitet vorgegangen sei oder überschießender Belastungseifer festzustellen sei: Schultze sei allein vom Ringen um die Wahrheit getrieben, so Weingarten. Von Anfang an habe er zwanglos weit mehr eingeräumt als ihm laut Haftbefehl vorgeworfen worden sei und habe alle Anwesenden und an den Vernehmungen Beteiligten mit dem Detail des Schalldämpfers geradezu überrascht und vor Gericht noch den so genannten Taschenlampenanschlag in Nürnberg 1999 erinnert.

Auch der Abgleich der Aussagen Schultzes mit denen Wohllebens, des Zwischenhändlers Andreas Schultz und auch Zschäpes ergebe einen übereinstimmenden Ablauf des Waffenkaufs, so Weingarten. Und – entgegen den Einlassungen des Angeklagten Schultze – sei die BAW davon überzeugt, dass Böhnhardt und Mundlos von vornherein und ausdrücklich eine Schalldämpferwaffe bestellt hätten und diesen Wunsch Schultze auch telefonisch so übermittelt hätten. Schließlich entspreche der Schalldämpfer der Zwecksetzung des NSU, nämlich die Ermordung von in Deutschland lebenden Ausländern ohne Bekennung, aber als Mordserie erkennbar. Auf diese Weise sollte der Verdacht auf andere umgeleitet und Verängstigung und Vertreibung von in Deutschland lebenden Ausländern erreicht werden.

Am letzten Prozesstag vor der Sommerpause wird sich Weingarten mit den Aussagen Schultzes und Wohllebens beschäftigen, um nach der Sommerpause Anfang September zu den beiden Angeklagten André Eminger und Holger Gerlach zu kommen.

Die Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.

Tageszusammenfassung des 377. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 27.07.2017
Dritter Tag des Plädoyers der Bundesanwaltschaft

Am heutigen dritten Tag des Plädoyers der Bundesanwaltschaft trug Oberstaatsanwältin Anette Greger in sechs wieder etwa dreiviertelstündigen Blöcken die Erkenntnisse und Schlussfolgerungen der obersten Verfolgungsbehörde vor. Dabei ging es um die politischen Hintergründe der Gruppe und die Bedeutung des Bekennervideos, dann vollzog sie im Plädoyer die Mordanschläge des NSU und dessen Bombenanschläge nach und ging auch auf die Zerstörung des letzten Unterschlupfs des NSU in der Zwickauer Frühlingsstraße ein.

Doch zunächst ging es um den Slogan „Taten statt Worte“, dem der NSU bis zu seiner „Auflösung“ konsequent folgte. Erst mit dem Bekennervideo sollte die Öffentlichkeit über die Urheberschaft der Verbrechen informiert werden. Dass Beate Zschäpe von den aufwändigen Videoarbeiten nichts mitbekommen haben will sei, so Greger, fernliegend. Sie sei mit der Archivierung von Zeitungsausschnitten und der Dokumentation des Terrors betraut gewesen. Einzelne Zeitungsschnipsel trügen Fingerspuren der Angeklagten. Dass sie am Ende gedacht haben will, die Bekennervideos würden sich auf die Banküberfälle des NSU beziehen, sei noch abwegiger, so Greger. Ebenso Zschäpes Behauptung sie habe von den Taten immer erst im Nachhinein erfahren und Artikel nur zur Information gelesen: Allein die TV-Berichte zum Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße seien nicht mobil von den Tätern mitgeschnitten worden, sondern seien live und manuell in der Zwickauer Polenzstraße von der Angeklagten aufgenommen worden. Auch gebe es eine in einer Datei auf Zschäpes Rechner dokumentierte Wette der drei, in welcher es um Gewichtsabnahme gegangen sei und „Liese“ (Zschäpe), „Killer“ und „Cleaner“ (Mundlos und Böhnhardt) wetten, dass sie bis zu einem bestimmten Datum ein bestimmtes Gewicht erreicht haben wollen, widrigenfalls sie 200 Videoschnitte zu tätigen hätten. Die Beweisaufnahme und Asservatenauswertung habe eindeutig ergeben, dass es sich dabei nicht etwa um das Herausschneiden von Werbeblöcken aus TV-Serien gegangen sei, wie Zschäpe behauptet, sondern um den Schnitt des Paulchen-Panther-Bekennervideos. Diese Erwägungen sind der BAW nur durch die akribische Recherchearbeit einzelner Nebenklagevertreter zu technischen Voraussetzungen und zur Entschlüsselung der Wette überhaupt möglich.

Greger beschrieb ausführlich das erhaltene Drehbuch zum Video und die verschiedenen Schnittfassungen des Bekennervideos und zitierte daraus die Passage „Der NSU ist ein Netzwerk von Kameraden…“ – ohne dass ihr der offensichtliche Widerspruch zur Kernthese der BAW aufgefallen wäre, der NSU sei im Wesentlichen ein „isoliertes Trio“ gewesen. Die Videos seien für den Tag des Endes des NSU in der Wohnung und im letzten Wohnmobil der beiden Männer verpackt, adressiert und frankiert bereitgehalten worden, um dann am 04.11. von Beate Zschäpe – wie vereinbart – versandt bzw. im ausgebrannten Wohnmobil gefunden zu werden.
Zschäpe sei eines der drei Gründungsmitglieder der terroristischen Vereinigung NSU und keine bloße Mitläuferin; sie sei auch nicht durch staatlichen Verfolgungsdruck zum Leben im Untergrund gezwungen gewesen, sie hätte sich jederzeit stellen können, da bis September 1998 noch keine Straftaten begangen waren. Sie habe den Entschluss zu einem Leben im Untergrund und für den Weg in den Terror freiwillig und ganz bewusst getroffen, so Greger. Bei ihrer Festnahme stellte Zschäpe selbst fest, sie sei zu nichts gezwungen worden. Bei ihrer Aufgabe der Verschleierung und Legendierung der Gruppe sei sie weit über das Notwendige hinausgegangen. Immer und immer wieder arbeitete Greger die angeblich exklusive Dreierkonstellation des NSU heraus, um stoisch die fragwürdige Grundthese der BAW zu unterstützen.

„Meine Überschrift lautet ‚Verblendung’“, so führte die Oberstaatsanwältin in den Komplex der Mordanschläge des NSU ein. Sie gab den einzelnen Hinrichtungen der Ceska-Mordserie viel Raum und referierte ausführlich ihre Sicht auf die prozessuale Beweisaufnahme. Zwar ging sie chronologisch und quälend detailliert auf die Tötung und tödlichen Verletzungen von Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat ein, zumindest an diesem Tag jedoch kaum auf die Folgen der Morde für die Familien der Opfer, geschweige denn auf die rassistische Ermittlungsarbeit der Behörden. Aus Sicht der BAW war Andreas Temme, Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen, bei der Hinrichtung Yozgats natürlich nur „zufällig anwesend“ und, wie es der Zufall will, war er auch der einzige der anwesenden fünf Kund_innen, der auch keine Schüsse oder überhaupt irgendetwas wahrgenommen haben will. An dieser Stelle leistete sich die Plädierende für diesen Tag den heftigsten Ausfall, indem sie Nebenklageverteter_innen beleidigende und haltlose Vorwürfe machte: „Eine Existenz von rechten Hintermännern an den Tatorten, die einige Rechtsanwälte ihren Mandanten offensichtlich versprochen hatten, hat sich bislang weder in den seit sechs Jahren laufenden Ermittlungen und der Hinweisbearbeitung, noch in der 360-tägigen Beweisaufnahme, wo wieder jedem Hinweise darauf nachgegangen wurde – und ich erinnere an die dramaturgische Inszenierung der Zeugin von A. –, noch in den breit angelegten Beweiserhebungen der zahlreichen Untersuchungsausschüsse bewahrheitet.“ Dieser Affront trug ihr zeitnah eine geharnischte Replik von Nebenklageanwalt Sebastian Scharmer ein (siehe Link unten), zumal der Hinweis auf die Untersuchungsausschüsse schlicht unrichtig ist: Der Bundestagsuntersuchungsausschuss hatte hier mangelnde Ermittlungen ausdrücklich moniert und geht selbst von einem Unterstützungsnetzwerk des NSU aus.

Im nächsten Block erörterte Greger detailliert und umfassend die Sprengstoffanschläge des NSU in der Nürnberger Scheuerlstraße 1999, der nicht Teil der Anklage ist, in der Kölner Probsteigasse 2001, bei dem die 19-jährige Tochter der Inhaber eines Lebensmittelgeschäftes sich lebensgefährliche Verletzungen bei der Explosion der Stollendosenbombe zuzog und den brutale Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße 2004. Auch hier, insbesondere im Kontext der Probsteigasse, vermied es Greger stur, mögliche Helfer des NSU an den Anschlagsorten überhaupt in Erwägung zu ziehen. Dass Vater und Schwester des Attentatsopfers einen Mann als Täter beschrieben hatten, der einem V-Mann des dortigen Verfassungsschutzes zum Verwechseln ähnlich sah, war Greger aus nachvollziehbaren Gründen keine Erwähnung wert. Beeindruckend waren ihre Beschreibungen der in der Keupstraße zur Explosion gebrachten Nagelbombe mit etwa 800 zehn Zentimeter langen Zimmermannsnägeln und der potentiell tödlichen Sprengwirkung und Wucht, bei deren Explosion 23 Menschen zum Teil sehr schwer verletzt wurden. Die Zuordnung der Höllenmaschine zu den Verbrechen des NSU erfolgte ebenfalls ohne die Erwägung ortskundiger Unterstützer_innen der Täter.

Auch die bedrückende Beschreibung der Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetter und des Mordanschlags auf ihren Kollegen Martin A. folgte im Wesentlichen der Version der Anklageschrift und weist einmal mehr jede Beteiligung weiterer Helfer_innen vor Ort zurück, obwohl gerade im Heilbronner Fall – trotz der eindeutigen Täterschaft Mundlos‘ und Böhnhardts – viele offene Fragen nach wie vor in Richtung weiterer Mittäter weisen. Greger lapidar: „Anhaltspunkte, dass weitere Mittäter und Mitwisser vor Ort beteiligt waren, ergab die Beweisaufnahme nicht.“

Der lange Prozesstag ging mit einer ausführlichen Beschreibung und Bewertung der Zerstörung des letzten Unterschlupfs des NSU in Zwickau zu Ende. Beate Zschäpe sei bei der Brandstiftung ruhig und geordnet zu Werke gegangen und habe dabei den Tod anderer Menschen im Haus oder der Umgebung der mit einkalkulierten Explosion der Wohnung billigend in Kauf genommen, so etwa den Tod der in ihrer Mobilität eingeschränkten 89-jährigen Nachbarin. Ihre Katzen und die Bekennervideos habe sie gerettet, auf die Rettung potentiell Gefährdeter habe sie nach Meinung der BAW nicht allzu viel Energie verwendet.

Presseerklärung von Sebastian Scharmer.

Blog „NSU-Nebenklage“ zum 377. Verhandlungstag

Das Protokoll des Blogs NSU-Nebenklage vom 27.07.2017.

Tageszusammenfassung des 376. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 26.07.2017
Zweiter Tag des Plädoyers der Bundesanwaltschaft

Am heutigen 376. Hauptverhandlungstag fuhr die Sitzungsvertreterin des Generalbundesanwalts im NSU-Verfahren, Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof Greger, mit ihrem Teil des Plädoyers fort. Sie erörterte in vier etwa dreiviertelstündigen Blöcken das „Innenleben der Gruppe“, ihre Art Geld, falsche Papiere und Unterschlüpfe zu besorgen, die Bewaffnung und Waffenbeschaffung, die Kassengewalt in der Gruppe und die Vorbereitung von Anschlägen und Überfällen. Im Zentrum ihrer Ausführungen stand dabei stets Beate Zschäpes Rolle im NSU und inwieweit ihre eigenen Angaben dazu mit der Beweiserhebung im Prozess in Übereinstimmung gebracht werden können. Die Gruppe habe effektiv zusammengewirkt und sei lange Zeit unentdeckt geblieben, was nur bei maximalem Zusammenhalt und Zusammenspiel der Mitglieder möglich gewesen sei. Herzstück des Lebens im Untergrund seien die verschiedenen Wohnungen des NSU in Chemnitz und Zwickau gewesen, wo Beate Zschäpe mit der Abtarnung und Legendierung der Gruppenaktivitäten, der „Chimäre des ganz normalen Lebens“ gegenüber Nachbar_innen, betraut gewesen sei. Zeug_innenaussagen, Asservate und Auffindesituationen belegten ein nach außen abgesichertes Leben ohne exklusive Zimmer für jedes Gruppenmitglied. Einer der beiden Computer etwa habe sich unter Beate Zschäpes Hochbett befunden und sei für alle drei frei zugänglich gewesen, was sich anhand von Browserverläufen stimmig nachweisen lasse. Ebenso lasse sich eine klare Aufgabenverteilung und das Ineinandergreifen der drei Mitglieder nachweisen. Im Brandschutt des letzten Unterschlupfs in der Zwickauer Frühlingsstraße seien Datenträger geborgen worden, die offen herumlagen und viele hochbrisante Datensätze zu Ausspähungen und „Aktionen“, Hitlers „Mein Kampf“, den sog. NSU-Brief, aber auch Urlaubsfotos enthalten hätten, so Greger.

Beate Zschäpe sei Inhaberin und Beschafferin der Handys der Gruppe gewesen, über die sich viele Ausspähungen, Anschläge (Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße), Überfälle (Stralsund), Morde (Mord an Theodoros Boulgarides in München) und entsprechende Anmietungen von Fahrzeugen u.a. zuordnen ließen.

Greger rekapitulierte noch einmal alle Verstecke des NSU in Chemnitz und Zwickau und nannte die jeweiligen Unterstützer_innen, mit deren Hilfe sie angemietet wurden. Sie kam dabei zu dem Schluss, dass diese Wohnungen von den drei Untergetauchten gemeinsam beschafft und benutzt worden seien.

Die eigene Legendierung, die Beschaffung falscher Personalpapiere und das Schlüpfen in Tarnidentitäten war ein weiteres Thema des Vortrages. Nach Greger habe sich auch Beate Zschäpe komplett auf ihre unterschiedlichen Identitäten als Liese, Lisa, Mandy oder Susann, Dienelt, Eminger, Rossberg, Pohl oder Mohl eingelassen, so dass sie selbst angegeben habe, nicht mehr auf „Beate“ zu reagieren. Die Angeklagte sei in Interaktion mit Mundlos und Böhnhardt mit Aliasnamen in der Nachbarschaft und gegenüber Urlaubsbekanntschaften unbefangen aufgetreten. Zschäpe sei nicht nur in die Organisation von manipulierten Ausweispapieren eingebunden, sondern sei auch für die Finanzverwaltung im Untergrund zuständig gewesen und habe damit eine zentrale Rolle in der Gruppe gespielt. So sei sie persönlich noch im Jahr 2011 von Zwickau in den Raum Hannover gereist, um von dem Mitangeklagten Holger Gerlach, der den Kumpanen bis 2011 die Treue hielt, ein neues Reisedokument für Böhnhardt abzuholen. Bei anderer Gelegenheit habe sie Gerlach, der sie im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung als integrale Figur der Dreierkonstellation schwer belastet hatte, nicht nur von ihm geliehene 3000 DM zurückgezahlt, sondern ihm auch 10.000 Mark als Depot für den NSU anvertraut. Auch dem Mitangeklagten Wohlleben seien zu diesem Zweck 10.000 Mark übergeben worden, habe Gerlach zu Protokoll gegeben. Aber auch Urlaubsbekanntschaften und andere Zeug_innen bestätigen die „Kassengewalt“ Beate Zschäpes im NSU.

Die Aussagen Gerlachs widerlegen auch Zschäpes Version des Umgangs mit Waffen; zwar habe sie, so Greger, behauptet, von den Waffen gewusst und sich geärgert zu haben, dass sie offen in der Wohnung herumgelegen hätten, und verlangt zu haben, dass sie „aufgeräumt“ würden. Doch Gerlach – der insgesamt keinen Belastungseifer gezeigt habe –, habe angegeben, zu einer Waffenübergabe von Zschäpe vom Bahnhof in Zwickau abgeholt worden zu sein und dass die von ihm überbrachte Pistole in seiner und Beate Zschäpes Anwesenheit ausgepackt und durchgeladen worden sei. Auf seine erschrockene Aussage hin, sie sollten sich „nicht anmaßen zu fünft die Welt zu retten“, hätten Beate Zschäpe und die beiden Männer ihn besänftigt.

Am Ende habe das Trio über 2,5 Kilo Schwarzpulver, 20 Schusswaffen (2 Maschinenpistolen, 2 Repetierflinten, 12 scharfe Revolver und Pistolen unterschiedlicher Kaliber, drei Schreckschusswaffen) und etwa 1600 Schuss Munition besessen. Als besorgniseregend bezeichnete Frau Greger außerdem den Fund einer in einer Kiste getarnten Schussvorrichtung im Bauschutt der Frühlingsstraße, in der eine der Maschinenpistolen mit einer Laservorrichtung verbaut gewesen sei, um unentdeckt in der Öffentlichkeit eine Salve Schüsse abzugeben. Das Arsenal unterstreiche das Gefahrenpotential der Gruppe.

Zu den wichtigsten Aufgaben Zschäpes, die das Haus hütete, während die beiden Männer oft lange abwesend waren, war die Legendierung der Dreiergruppe und die Erfindung plausibler Gründe und Geschichten zu deren häufiger Abwesenheit. Sie habe zumindest gleichberechtigt, wenn nicht – wie viele Zeug_innen bestätigten – bestimmend an den Entscheidungen der Gruppe mitgewirkt und die Gelder verwaltet und ausgegeben: Als Beispiel führte Greger etwa die Buchung einer „Belohnungsreise“ für die Familie Eminger ins Disneyland Paris an, welche Beate Zschäpe nachweislich vorgenommen habe. Mit der Kassenverwaltung habe sie eine „herausragende Stellung in der Gruppenhierarchie“ gehabt, sagte Greger.

Ausführlich ging Oberstaatsanwältin Greger auf das Ausspähen von Anschlagszielen ein, stützen diese Indizien doch die These der Bundesanwaltschaft, dass es sich um eine isolierte Drei-Personen-Gruppe mit wenigen handverlesenen Helfer_innen gehandelt habe. So seien die Mordanschläge, Bombenattentate und Bank- und Raubüberfälle stets gut vorbereitet gewesen, was sich anhand zahlreicher Spurenfunde im Eisenacher Wohnmobil und im Brandschutt der Frühlingsstraße nachweisen lasse, wo häufig von den Städten der späteren Anschläge markierte Karten, Ausspähnotizen, Routenplaner-Ausdrucke aus der zeitlichen Nähe der Taten und weitere Hinweise gefunden worden seien. Das gelte unter anderem für die Morde an İsmail Yaşar in Nürnberg, Halit Yozgat in Kassel, Mehmet Kubaşık in Dortmund und den Nagelbombenanschlag in der Keupstraße in Köln, aber auch für einige Banküberfälle. Ein Zettel mit einer Handynummer, die unter dem Wort „Aktion“ notiert war und die Beate Zschäpe kurz vor dem Mord an Theodorus Boulgarides von einer Telefonzelle aus angerufen habe, beweise, dass Beate Zschäpe über die Tötungsabsicht informiert war, denn das Wort „Aktion“ sei der Gruppencode für Anschläge gewesen.

Für die Frage, warum Beate Zschäpe selten bei Ausspähaktionen dabei gewesen sei und später überwiegend mit der „Stallwache“ (Greger) betraut war, präsentierte die Oberstaatsanwältin eine neue These, die sich auf ein von Nebenklageanwalt Yavuz Narin eingebrachtes Beweisthema stützt: Beim Auskundschaften der Synagoge in der Berliner Rykestraße im Mai 2000, mutmaßlich als potentielles Anschlagsziel, war Beate Zschäpe einem Objektschützer aufgefallen, der sie angestarrt habe, was wiederum Zschäpe aufgefallen sei. Der Zeuge habe Zschäpe dann in einer Fahndungssendung wiedererkannt und der Polizei gemeldet . Die BAW glaubt, dass die Gruppe nach diesem brisanten Zwischenfall in Berlin beschlossen habe, dass Ausspähungen nur noch von den „unauffälligeren“ Männer getätigt werden sollten.

Einschätzung des Blogs „NSU-Nebenklage“

Das Protokoll des Blogs NSU-Nebenklage vom 26.07.2017.

375. Verhandlungstag
1. Teil des Schlussvortrags der Bundesanwaltschaft

Nachdem zu Beginn des heutigen Verhandlungstages auch eine Gegenvorstellung mehrerer Verteidiger_innen vom letzten Mittwoch gegen den Beschluss des Senats, das Plädoyer des GBA nicht aufzuzeichnen, zurückgewiesen wurde, gab es zunächst erneut eine längere Pause zur Beratung. Einige Prozessbeobachter_innen erwarteten einen erneuten Befangenheitsantrag und mglw. die Absetzung der folgenden zwei Tage. Doch gegen 12 Uhr konnte der GBA tatsächlich mit seinem Schlussvortrag (Plädoyer) beginnen.

Den Anfang für den GBA am eigens für das Plädoyer aufgestellten Redepult macht Bundesanwalt Herbert Diemer persönlich. Seine kurze Einführungsrede dient offensichtlich dazu, die Sicht des GBA auf den NSU insgesamt und auf die NSU-Aufklärung möglichst wirksam und lautstark unter das zahlreich anwesende Publikum und wohl v.a. die Medienvertreter_innen zu bringen. Diemer macht dabei einmal mehr deutlich, dass der GBA eine politische Behörde ist. Seine Auffassung lautet kurz gefasst: Alles ist bestens gelaufen. Der Prozess habe zwar „das politische und mediale Interesse nicht immer befriedigen“ können, es sei aber „schlicht und einfach unzutreffend“, wenn immer noch ständig kolportiert werde, der NSU-Prozess habe seine Aufgabe nur teilweise erfüllen können. Mögliche Fehler staatlicher Behörden aufzuklären sei, so Diemer, Aufgabe politischer Gremien. Anhaltspunkte für eine strafrechtliche Verstrickung von Angehörigen staatlicher Stellen sieht Diemer nicht. Die Ermittlung eines weiteren Unterstützerumfelds sei bei Bestehen entsprechender Anhaltspunkte Aufgabe weiterer Ermittlungen. Diemer spricht im Zusammenhang mit Bemühungen um weitere Aufklärung von „selbsternannten Experten“, „Irrlichtern“ und „Fliegengesumme“. NK-Vertreter RA Elberling kommentiert das am Rande des Verfahrens: „Diemer sagt, das würde die Opfer verunsichern. Es geht aber darum, Antworten auf deren drängende Fragen zu erhalten.“ Die BAW sieht sich nach der Beweisaufnahme in der in ihrer Anklageschrift formulierten Sichtweise des NSU bestätigt. Es verwundert daher auch nicht, dass die BAW auch im Plädoyer unverbrüchlich bei ihrer These von der „kleinen Zelle“ NSU mit ebenfalls kleinem Unterstützerkreis bleibt.

Den inhaltlichen Part, die Wiedergabe und Bewertung der Beweisaufnahme aus Sicht der BAW, übernimmt dann zunächst Oberstaatsanwältin Annette Greger. Sie geht zuerst auf Beate Zschäpe ein, die Mittäterin der in der Anklage vorgeworfenen Taten sei. Zu Beginn beschäftigt sich Greger mit den Einlassungen Zschäpes, die sie – zutreffend – als kläglich gescheiterten Versuch, Verantwortung abzuschütteln, bewertet. Richtig stellt Greger fest: „Vertan bleibt die historisch einmalige Chance für die Opfer und Angehörigen, dass ihre Fragen durch die Angeklagte beantwortet würden.“ Zur Rolle von Zschäpe stellt sie fest, dass Zschäpe gleichberechtigtes Mitglied des NSU und in die Organisation und Logistik der Taten arbeitsteilig eingebunden gewesen sei, Zschäpe habe das System NSU abgetarnt und auf diese Weise auch an den Taten mitgewirkt. Greger spricht in Bezug auf Zschäpe von „Tarnkappe“. Dann beschäftigt sich Greger – unterbrochen von der Mittagspause und einer weiteren Unterbrechung zur ärztlichen Untersuchung des angeblich unter Konzentrationsschwierigkeiten leidenden Angeklagten Wohlleben – mit der Entwicklung vor dem 26.01.1998, dem Datum des „Untertauchens“. Hier gibt Greger eine Zusammenfassung der früheren Taten der späteren NSU-Mitglieder, wie etwa die diversen Bombenattrappen, und legt auch Zschäpes schon damals wichtige Rolle anhand von Aussagen und anderen Beweismitteln aus dem Verfahren dar. In diesem Zusammenhang zeichnet die BAW – passend zu ihrer Vorstellung vom späteren NSU – schon für die Zeit vor dem „Untertauchen“ ein Bild eines immer mehr abgeschotteten „zunehmend exklusiven“ Dreierbunds, bestehend aus Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos. Später versteigt sich Greger sogar zu der Behauptung, weder der THS, noch Tino Brandt, noch die Verfassungsschutzbehörden hätten massiven Einfluss ausgeübt. NK-Vertreterin RAin von der Behrens kommentierte dies am Rande des Verfahrens: „Eine absurde Behauptung zum Schutz des Verfassungsschutzes, der den THS mit aufgebaut hat. Die Beweisaufnahme hat das Gegenteil gezeigt: Der THS war ideologische Heimat des späteren NSU.“

Greger geht auf das am 26.01.1998 in der Garage sichergestellte rassistische „Ali-Gedicht“ ein, der Begriff „Ali“ finde sich in einigen in der Frühlingsstraße gefundenen Beweismitteln und sei auch in dem NSU-Video enthalten, das Zschäpe noch am 04.11.2011 versendet hat. Der „Verzicht auf Bekennung“, die symbolische Verwendung einer „Signaturwaffe“ u.ä. hätten dazu geführt, dass die Polizei lange im Umfeld der Betroffenen gesucht habe. Rassismus als Grund für die Ermittlungen im Umfeld der Angehörigen kommt bei Greger bisher nicht vor. Dass Zschäpe das NSU-Video noch während ihrer Flucht verbreitet hat, zeige, dass Zschäpe auch noch hinter dem Begriff „Ali“ gestanden habe, als die Gruppe bereits aufgelöst gewesen sei, so Greger. Zschäpe sei es darauf angekommen, die Angehörigen der Opfer mit diesen Grausamkeiten zu konfrontieren, Zschäpe sei also noch im November 2011 „durchaus zu einem Stich ins Herz imstande“ gewesen. Zum Abschluss dieses Teils sagt Greger: „Eine Antwort, wann und weshalb sie von der Billigung ideologisch begründeter Gewalttaten abgerückt sein könnte, bleibt die Angeklagte schuldig.“

Greger nennt dann den Zeitraum, in dem die „Gründung der terroristischen Vereinigung“ NSU stattgefunden habe. Auch hier geht es wieder nur um die angeblich einzigen Mitglieder Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Die Gründung habe noch im Jahr 1998 stattgefunden. Hierbei geht Greger auf die Waffensuche ein und die Entscheidung der drei für den Verbleib in Deutschland. Als erste Tat des NSU bezeichnet Greger folgerichtig den Überfall auf einen Edeka-Markt am 18.12.1998 in Chemnitz. Sie geht hier aber interessanterweise nicht auf das Ergebnis der Beweisaufnahme ein, dass laut Zeugen drei Täter vor Ort waren. Auch im Zusammenhang mit der Zeit im Untergrund geht Greger auf Zeugenaussagen ein, die Zschäpe als selbstbewusst und nicht als isoliert von Mundlos und Böhnhardt beschreiben.

Insgesamt fällt auf, dass Greger sich auf einige Teile der Beweisaufnahme bezieht, die erst durch die Arbeit der Nebenklage ins Verfahren gebracht worden sind, so etwa die Ausspähung einer Synagoge in der Berliner Rykestraße oder die Teilnahme Zschäpes an der neonazistischen „Hetendorfer Tagungswoche“ (ohne Böhnhardt und Mundlos!).

NK-Vertreter_innen haben bereits ein Protokoll vom 25.07.2017 veröffentlicht
Einschätzung des Blogs „NSU-Nebenklage“