Zusammenfassung 380. Verhandlungstag – 31. August 2017

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Während der Plädoyerphase des Prozesses werden vorerst anstatt ausführlicher Protokolle Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Diese werden dann durch die jeweiligen Protokolle ersetzt werden.

Tageszusammenfassung des 380. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 31.08.2017
Sechster Tag des Plädoyers der Bundesanwaltschaft

Der Tag begann mit Protest: Vor dem Haus fand eine Dauerkundgebung statt, um auf die zwiespältige Rolle der Bundesanwaltschaft in der Aufarbeitung des NSU-Komplexes hinzuweisen. Aktivist_innen machten die beim NSU-Tribunal Mitte Mai in Köln vorgetragene Anklage u.a. gegen die BAW mit Transparenten und Ansprachen bis 14 Uhr weithin sicht- und hörbar.
Aber auch im Saal A 101 rührte sich Unmut: In dem Moment, als Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten zur Fortsetzung des Plädoyers der Bundesanwaltschaft ansetzte, begannen auf der Zuschauer_innentribune eine Handvoll Aktivist_innen mit Protestrufen. „Wir klagen an“, war zu hören und der Satz richtete sich gegen die BAW, namentlich wurden die drei Sitzungsvertreter_innen des Generalbundesanwalts im Saal, Herbert Diemer, Anette Greger und Jochen Weingarten aufgerufen, sie hätten sich der „Fortsetzung des institutionellen Rassismus'“ in den NSU-Ermittlungen schuldig gemacht und der „Missachtung der Betroffenen“. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl rief ein paar mal „Hören Sie auf!“ und unterbrach dann für einige Minuten die Hauptverhandlung, während derer die Aktivist_innen hinauskomplimentiert wurden. Im ganzen Saal war aufgeregte Diskussion, sowohl zustimmende wie ablehnende Bemerkungen waren zu hören. Die Intervention aus dem Umfeld von „NSU-Komplex auflösen“ war der erste wahrnehmbare Protest im Saal in den nun 380 Prozesstagen.

Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, setzte Weingarten das Plädoyer in viereinhalb dreiviertelstündigen Blöcken fort. Er wandte sich dem Angeklagten André Eminger zu, der als schwieriger Fall gilt, weil die Beweislage bei ihm etwas dünner ist als bei anderen Angeklagten. Eminger schweigt von Beginn an hartnäckig und ist bis heute ungebrochen als gewaltbereiter Neonazi aktiv und zeigt sich auch schon mal auf einer Pegida-Demo in München oder dem Rechtsrock-Großevent mit rund 6000 Teilnehmer_innen im thüringischen Themar, wo u.a. auch für seinen Mitangeklagten Ralf Wohlleben Geld gesammelt worden sein soll. Außerdem provozierte der nicht inhaftierte Eminger im Laufe der Prozessjahre immer wieder mit T- und Sweatshirt-Motiven und durch sein Verhalten in und vor dem Gerichtsgebäude.

Entsprechend scharf fiel Weingartens Einschätzung des Angeklagten aus und er ließ durchblicken, dass sich das auch in der rechtlichen Würdigung der Handlungen Emingers im NSU-Kontext niederschlagen werde. Zunächst jedoch zählte der OStA die Vorwürfe auf, die Eminger in der Anklage gemacht werden und ihn auf die Anklagebank gebracht haben: Eminger soll für den NSU mehrfach Fahrzeuge ausgeliehen haben, mit denen diese zu „vereinigungsbedingten Reisebewegungen“, also zu Raubüberfällen und zu mindestens einem Sprengstoffanschlag aufgebrochen sein sollen. Außerdem versorgte er die Untergetauchten mit Bahncards, die u.a. von Beate Zschäpe auch als Identifikationsmittel für den Notfall dienen sollten, und sprang persönlich als Zeuge an der Seite Zschäpes bei einer für die Gesuchten außerordentlich gefährlichen polizeilichen Vernehmung in Zwickau als falscher Ehemann ein und deckte so die Legende der Untergetauchten.

Weingarten stellte fest, dass Eminger viel näher am NSU dran gewesen sei und weit mehr über deren Aktivitäten gewusst habe, als etwa die Angeklagten Schultze, Gerlach und Wohlleben. Er habe gewusst, dass sich Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe dauerhaft zusammengeschlossen hätten, um „rechtsextremistische und fremdenfeindliche“ Anschläge zu verüben und Menschen auch durch Sprengstoff zu töten. Er sei insoweit und was seine Unterstützungsleistungen für die terroristische Vereinigung NSU angehe, nach der Beweisaufnahme überführt, so Weingarten. Nun sei die Frage, ob Eminger vorsätzlich handelte und was er im „persönlichen Näheverhältnis“ vom Tun der Drei hielt und von ihrer politisch-ideologischen Einstellung. Weingarten musste jedoch eingestehen: Es fehlten unmittelbar aussagekräftige Beweismittel dafür, dass er über die Tatabsichten informiert war, Beweise auch für die billigende Inkaufnahme und die vorsätzliche Unterstützung einer terroristischen Vereinigung gebe es nicht. Gleichwohl sei die BAW zu der sicheren Überzeugung gelangt, dass Eminger „genau wusste, was da gemacht wurde und wer diese Leute waren“. Er habe schon früh nach dem Untertauchen zum Vertrauenskreis gehört, er sei „ideologisch kompatibel“ gewesen und voller Bewunderung gegenüber der Kompromisslosigkeit und Handlungsfähigkeit von Mundlos und Böhnhardt, er habe „live und in Farbe“ die Entschlossenheit der u.a. mit Sprengstoff Bewaffneten erlebt, führte Weingarten aus. Insofern dränge sich die Frage auf, ob nicht Eminger die vierte Paulchen-Panther-Figur sei, die im Bekennervideo auftauche. Das Vertrauensverhältnis habe sich im Laufe der Jahre zu einer engen und persönlichen Freundschaft entwickelt, die Weingarten als „Wahlverwandtschaft“ bezeichnete und in die Emingers Familie, Frau und Kinder, einbezogen gewesen seien.

Dieses ziemlich bedingungslose Vertrauensverhältnis habe sich am und nach dem 04.11.2011 nochmals erwiesen, an welchem Eminger schon vormittags in der Funkzelle der 26 mit seinem Handy auftaucht und offenbar mit Zschäpe eine Internetrecherche zum Eisenacher Bankraub veranstaltet habe. Am Nachmittag des Tages sei Eminger dann wieder „stante pede“ zur Stelle gewesen und habe die flüchtende Beate Zschäpe mit Klamotten seiner Frau versorgt, da ihre Kleidung mit Benzin verunreinigt war. Eine SMS habe er nach dem Auffliegen des NSU an seine offenbar eingeweihte Frau Susann abgesetzt und ausgerechnet diese, vermutlich äußerst kompromittierende Kurznachricht wenig später bei sich und seiner Frau gelöscht. Auch habe er ein Paulchen-Panther-Motiv und die „“ von seinem Rechner gelöscht, was Weingarten zu einer ausführlichen Würdigung dieses Handbuches rechtsterroristischer Aktion veranlasste, das nicht nur als „rassistische Erbauungsliteratur für ZOG-Verschwörungstheoretiker“, sondern auch als Blaupause für das Handeln des NSU gilt. Die politisch-ideologische Ausrichtung Emingers habe für den NSU Anlass gegeben, ihn einzubeziehen: er sei ein „ausgewiesener Rechtsextremist nationalsozialistischer Prägung“, sein Bauchtattoo „Die Jew Die“ – „Stirb Jude Stirb“ – offenbare die zutiefst antisemitische, den Holocaust fortsetzen wollende Haltung und völlige Übereinstimmung mit Mundlos, Böhnhardt und auch Zschäpe, die die paraindiustrielle Ermordung der europäischen Juden und Jüdinnen etwa im so genannten -Spiel zelebriert hätten. Eminger sei mithin kein „unsicherer Kantonist“ gewesen, sondern „wahrhaft einer von ihnen“.

Weingarten sorgte dann mit der Aussage, es liege ja auch ein Geständnis von Eminger vor, für Unruhe und Anspannung. Dieses habe er nicht „bei der Polizei, dem BKA oder gar der Bundesanwaltschaft abgelegt oder – ich sehe Unruhe aufkommen – beim Verfassungsschutz“, so Weingarten, sondern durch eine „geständnisgleiche Wohnzimmerwandgestaltung“. Weingarten geht damit auf den kerzenbeschienenen Altar für Mundlos und Böhnhardt ein, der bei einer Hausdurchsuchung bei Eminger festgestellt wurde und den gezeichnete Porträts der beiden „Verstorbenen“ und die Runeninschrift „Unvergessen“ geziert haben. Er sei also, so Weingarten weiter, nicht der ahnungslose Mordgehilfe, sondern stets im Bild gewesen, was Mordanschläge, Raubüberfälle und Unterstützung der terroristischen Vereinigung angehe. Trotz drohender Anklage habe er diese ehrende Gedenkstätte aufgebaut – trotz möglicher Konsequenzen für ihn, seine Familie und ihr Leben. Hier gehe es nicht nur um die Erinnerung an verstorbene Freunde, das sei nicht Totengedächtnis, sondern Heldenverehrung.

Zum Ende des Verhandlungstages ging Weingarten noch auf den Angeklagten Holger Gerlach ein, der der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung angeklagt ist. Die BAW hält Gerlach dieser Unterstützung vollinhaltlich für überführt. Angeklagt ist Gerlach wegen der Beschaffung eines Reisepasses, eines Führerscheins und einer AOK-Karte. So habe er „nationalsozialistische Tötungsdelikte“ gefördert und ermöglicht. Das Problem der Beweiswürdigung bei Gerlach sei die Frage, so Weingarten, ob er durch seine Unterstützungsleistung bewusst eine terroristische Vereinigung unterstützt habe und deren Tun gebilligt habe. „Dass er nichts wusste, kann als widerlegt gelten“, stellte Weingarten klar. Er habe sehr wohl gewusst, was da geschah: ihm sei die „hochextremistische“ Haltung seiner Freunde bekannt gewesen: „Viel Raum für Friedensfliegerei bleibt da nicht“, schließlich habe es sich um keinen „der theoretischen Philosophie zugetanen Teestubenzirkel“ gehandelt, sondern um hart gesottene Rechtsextremisten. Allerspätestens im Nachgang zur Übergabe einer Pistole durch Gerlach an Mundlos und Böhnhardt müsse er dies kapiert haben, schloss Weingarten seine heutigen Ausführungen. Der Prozesstag endete um 16:00 Uhr.

Die Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.

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