Zusammenfassung des 389. Verhandlungstag – 21. November 2017

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Während der Plädoyerphase des Prozesses werden vorerst anstatt der Kurz-Protokolle Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Diese werden dann durch die jeweiligen Kurz-Protokolle ersetzt werden.

Tageszusammenfassung des 389. Hauptverhandlungstages im NSU-Prozess am 21.11.2017

Dritter Tag der Plädoyers der Nebenklage

Erwartungsgemäß konnte zunächst Nebenklage-Anwalt Mehmet Daimagüler, der Angehörige der Mordopfer Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar im NSU-Prozess vertritt, sein Plädoyer fortsetzen und ging ein weiteres Mal ausführlich auf die haltlosen Verdächtigungen der ermittelnden Polizeibeamt_innen gegen die Ermordeten und ihre Angehörigen ein: „Tatsächliche Hinweise auf die Täter wurden übersehen, stattdessen Mutmaßung über Mutmaßung, die dann die Richtung der Ermittlungen vorgeben.“ Nach der von Özüdoğru getrennt lebenden Ehefrau seien dann „aufgrund aberwitziger Annahmen“ ein völlig unbeteiligter Mann und eine Frau verdächtigt worden, so Daimagüler.
Daimagüler ging auch noch einmal auf die rassistischen Äußerungen eines Tatortfotografen der Polizei ein, dem es besonders wichtig gewesen sei, dass in der Schneiderei und der Wohnung des ermordeten Özüdoğru eine „gewachsene Unordnung“ geherrscht habe. Dieser Beamte bezeichnete die Zustände in der Wohnung des Mordopfers beispielsweise als „wahllos“ und „chaotisch“, es ist die Rede von „für Wohnungen von Türken nicht unüblichem Nippes“. Ganz so, kommentierte Daimagüler, „als ob ‚Deutsche‘ keinen Nippes in ihren Wohnzimmern herumstehen hätten“. Das Gericht hätte hier einschreiten müssen, meint Daimagüler: „Es hätte die postmortalen Persönlichkeitsrechte des Verstorbenen schützen müssen – und hat es dennoch nicht getan.“ Daimagüler schilderte die Anreise von BKA-Beamt_innen in das beschauliche türkische Herkunftsdörfchen Özüdoğrus, wo sie die Bewohner_innen mit Fragen danach überzogen hätten, ob der Ermordete mit Drogen gehandelt habe und welche Besitztümer er im Dorf habe. Deutsche Polizisten habe man in dem Dorf für absolut objektiv, akribisch und unbestechlich gehalten. Auf diese Weise sei aus den Fragen der Polizisten nach Drogen bereits ein Urteil über den Verstorbenen, aber auch über seine Verwandten, geworden. „Niemand in diesem Saal kann sich wahrscheinlich vorstellen, was ein solches Urteil in einer so engen Dorfgemeinschaft bedeutet“, sagte Daimagüler.

Ausführlich ging Daimagüler auf den Mord an İsmail Yaşar ein, um ein weiteres Mal auf vorgefertigte Meinungen, rassistische Vorannahmen und unterlassene Ermittlungsschritte hinzuweisen. So sei bei Yaşar sofort von einem Zusammenhang mit Drogen ausgegangen worden: „Hätte bei einem Gastronomen namens Müller unmittelbar nach dessen Erschießung ‚eine Rauschgiftsache‘ im Raum gestanden?“, fragte er rhetorisch. Die Vielzahl dieser kleinen rassistischen Ermittlungsmaßnahmen, die den Tod einer als migrantisch angesehenen Person stets mit Organisierter Kriminalität in Verbindung gebracht hätten, habe dann eben zu dem Staatsversagen geführt, das es den Terroristen des NSU erst ermöglicht habe, immer weiter Menschen zu töten. Mehrere Zeugen hätten die Rad fahrenden Täter in der Nürnberger Scharrerstraße gesehen und eine Zeugin sie gar beim Umpacken einer Plastiktüte mit einem schweren Gegenstand, mutmaßlich der Tatwaffe, beobachtet. Die sehr genauen Angaben der Zeugin hätten, wie die weiterer drei, zu genauen Phantombildern geführt. Der einen Zeugin seien dann nach dem Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße Überwachungsvideos mit den Tätern vorgespielt worden und sie habe sie zweifelsfrei erkannt. Für Daimagüler und seine Mandantschaft sei es „eins der größten Rätsel“ des NSU-Komplexes, warum man einer Zeugin im Mordfall Yaşar eigentlich dieses Video gezeigt habe. Und wenn es dafür einen Grund gegeben habe, warum es nicht allen Nürnberger Zeugen gezeigt worden sei. Bei der Bewertung der Straf- und Schuldfrage im Falle von Beate Zschäpe erklärte Daimagüler, dass er davon ausgehe, dass die Angeklagte Zschäpe auch an der Begehung des Mordes im Fall Yaşar ganz unmittelbar beteiligt gewesen sei. Sie sei in einem Supermarkt nahe dem späteren Tatort von einer Zeugin identifiziert worden.

Im Namen und im Auftrag der fünf Geschwister von Abdurrahim Özüdoğru und der einzigen Tochter von İsmail Yaşar erklärte ihr Anwalt Mehmet Daimagüler: „Wir nehmen Ihre Entschuldigung nicht an. Wir verzeihen Ihnen nicht. Wir verzeihen Ihnen nicht den Mord an unserem Bruder. Wir verzeihen Ihnen nicht den Mord an meinem Vater. Wir verzeihen Ihnen nicht die Lügen, die Sie uns hier aufgetischt haben.“

Als Daimagüler – nachdem er die Schuld der Hauptangeklagten Zschäpe erörtert und lebenslange Haft bei besonderer Schwere der Schuld verlangt hatte – sich der Bewertung des Angeklagten André Eminger zuwenden wollte, beanstandete dessen Verteidigung dieses Ansinnen. Daimagüler sei nicht dazu befugt, meinte Eminger-Verteidiger Kaiser, sich zu seinem Mandanten zu äußern, da diesem im Zusammenhang mit den Morden an Özüdoğru und Yaşar nichts vorgeworfen werde. Stellungnahmen zu dieser Frage fielen überwiegend zugunsten Daimagülers und einer weiten Auslegung des Schlussvortragsrechts aus. Selbst Bundesanwalt Diemer sah es als vom Recht gedeckt an, dass der Vortragende sich zu Eminger äußert, zumal die Unterstützung der angeklagten terroristischen Vereinigung unerlässliche Voraussetzung für die Morde gewesen sei. Nach einer kurzen Pause, die sich Daimagüler erbeten hatte, um sich mit Kolleg_innen zu beraten, blieb er bei seiner Auffassung und begrüßte eine grundsätzliche Entscheidung des Senats, da die Frage ja Thema auch bei den folgenden Nebenklage-Plädoyers bleiben werde. Als jedoch der Vorsitzende Richter Götzl erklärte, dass, wenn es um Ausführungen zu Eminger im Hinblick auf die terroristische Vereinigung gehe, seines Erachtens ein mittelbarer Zusammenhang mit dem Nebenklagedelikt gegeben wäre, eskalierte die Diskussion. Es folgten Interventionen von Zschäpe-Alt-Verteidigerin Sturm und Wohlleben-Verteidigerin Schneiders. Diese berief sich auf das Beschleunigungsgebot und schloss ihre Stellungnahme mit den Worten „Wehret den Anfängen“. Dagegen verwahrte sich Nebenklage-Anwalt Hoffmann und forderte die Zurückweisung dieser Worte aus dem Munde einer „ehemals aktiven Neonazistin“. Schneiders forderte die Protokollierung dieser „Straftat in der Hauptverhandlung“. Im Fortgang wurden beide Themen – Rederecht Daimagülers und Protokollierung – parallel diskutiert und Oberstaatsanwalt Weingarten empfahl Rechtsanwalt Hoffmann, seine Äußerung gegenüber Rechtsanwältin Schneiders zu konkretisieren, wodurch sich die Protokollierung vielleicht erübrige. Nebenklage-Anwalt Hoffmann meinte, die Protokollierung sei zwar abzulehnen, er habe aber nichts dagegen, wenn seine Äußerung, Frau Schneiders sei eine „ehemals aktive Neonazistin“ protokolliert werde, da es sich um eine zulässige Meinungsäußerung mit Tatsachenkern handele, was er mit Vergnügen und mit Freude vor dem Strafgericht belegen werde.

Nach der Mittagspause ließ Götzl die Äußerung Hoffmanns tatsächlich im Kontext des Wortwechsels protokollieren. Außerdem lehnte der Senat das Ansinnen ab, Daimagüler das Wort zu entziehen, was Rechtsanwalt Kaiser zum Anlass nahm, erneut eine Beratungspause zu fordern, um diesen Gerichtsbeschluss „in Ruhe“ zu lesen und mit seinem Mandanten eventuelle Schritte zu beraten. Prozessbeobachter_innen befürchteten nach dieser Ankündigung einen weiteren Befangenheitsantrag. Doch nach der Pause konnte Rechtsanwalt Daimagüler sein Plädoyer endlich fortsetzen, nicht ohne sein Unverständnis darüber auszudrücken, dass angesichts der Anwesenheit zweier Betroffener der NSU-Verbrechen, nämlich Ehefrau und Tochter des ermordeten Mehmet Kubaşık, an Dingen weiterdiskutiert werde, die seit zwei Stunden ausgeräumt seien. Mit zwei dürren Sätzen ging er auf den Angeklagten Eminger ein, forderte für den Angeklagten Wohlleben 14,5 Jahre Haft, für den Mitangeklagten Schultze eine milde Bewährungsstrafe.

Zum Schluss ging er noch einmal auf die nach wie vor offenen Fragen im NSU-Kontext ein und erwähnte auch die ungeklärte Verstrickung von Verfassungsschutzbehörden, die etwa durch Aktenvernichtung vertuscht werden sollte und als Vermeidungsstrategie einen tiefen Schatten auf das ganze Verfahren geworfen habe. „Das sind alles Fragen, die nicht nur die Opferangehörigen interessieren sollten. Im Gegenteil: Gerade in diesen Tagen sind dies Fragen, die für uns alle in diesem Land wichtig sind“, erklärte Daimagüler und schloss mit einem Zitat aus Brechts „Guten Menschen von Sezuan“: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Daimagüler: „Hier müsste es heißen: viele Fragen offen. Der Vorhang in diesem Verfahren wird fallen, aber die Suche nach Antworten im NSU-Komplex wird weitergehen.“

Nach einer kurzen Umbaupause ergriff die Nebenklägerin Elif Kubaşık das Wort und gab eine bewegende Erklärung zu ihrem und dem Schicksal ihrer Familie nach der Ermordung des geliebten Familienvaters ab. Sie erzählte von ihrer Liebe, der Hochzeit und der „Schönheit“ ihres Mannes als Mann, Vater und Mensch. Frau Kubaşık: „Jeder Mensch, ob klein oder groß, jung oder alt, mochte ihn. (…) Ich glaube, die Stärke, die ich heute zeigen kann, kommt einfach von der Beziehung mit ihm“. Ihr Herz, so sagte sie, sei mit Mehmet begraben worden. Es sei schwer für sie, in diesen Prozess zu kommen und – mit Blick auf die Angeklagten – diese Leute zu sehen. Besonders schwer sei ihr der Anblick „dieser Frau“ gewesen, sagte Kubaşık in Bezug auf die Hauptangeklagte Beate Zschäpe: „Ekelhaft, einfach ekelhaft aber war ihre Aussage. Es ist alles Lüge, was sie sagte. Sogar die Form, wie sie sich entschuldigt hat, war verletzend. Das war so, als würde sie uns beleidigen.“ In diesem Prozess seien ihre Fragen nicht beantwortet worden: „Warum Mehmet? Warum ein Mord in Dortmund? Gab es Helfer in Dortmund? Sehe ich sie heute vielleicht immer noch? Es gibt so viele Nazis in Dortmund. Und für mich ist es so wichtig: Was wusste der Staat?“ Bundeskanzlerin Merkel habe ihr Versprechen der „lückenlosen Aufklärung“ nicht gehalten. Kämpferisch klangen ihre abschließenden Worte: „Die, die das gemacht haben, die diese Taten begangen haben, sollen nicht denken, weil sie neun Leben ausgelöscht haben, dass wir dieses Land verlassen werden. Ich lebe in diesem Land und gehöre zu diesem Land. Ich habe zwei Kinder in diesem Land zur Welt gebracht. Mein Enkel Mehmet ist hier in diesem Land zur Welt gekommen. Wir sind ein Teil dieses Landes und wir werden hier weiter leben.“

Danach ergriff ihr Anwalt Carsten Ilius das Wort für seinen Schlussvortrag. Er wurde zunächst noch kurz von den Zschäpe-Alt-Verteidigern Stahl und Heer gestört. Doch dann führte er ausführlich seine Sicht zu den Ermittlungen im Mordfall Mehmet Kubaşık aus: Mit der Art der Ermittlungen sei „die vom NSU beabsichtigte Tatwirkung der Verunsicherung der migrantischstämmigen Bevölkerung verstärkt“ worden. Es habe den Zielen des NSU entsprochen, dass die Opfer der Anschläge und ihr Umfeld auch noch Opfer der Ermittlungen der Polizei und Staatsanwaltschaft würden und mit der Stigmatisierung zu leben hätten, so Ilius. Es sei als „normale Polizeiarbeit“ bezeichnet worden, dass im Umfeld der Opfer ermittelt worden sei. Dass die Ermittlungen diskriminierend und von falschen Vorannahmen geprägt gewesen seien, so Ilius, zeige die Tatsache, dass nicht nur im Falle der NSU-Mordopfer, sondern auch vielen anderen Fällen nie in Richtung neonazistischer Täter ermittelt worden sei. Namentlich nannte Ilius die Anschläge von Hattingen, Erbendorf, Stuttgart, Herford oder Lübeck: „In all diesen Fällen wurden Nazis als Täter ausgeschlossen und die Betroffenen festgenommen oder sogar angeklagt – wobei am Ende stets deren Freispruch stand.“ An dieser Stelle grätschten erneut die beiden Zschäpe-Verteidiger Heer und Stahl in Ilius‘ Plädoyer und ernteten dafür die Zurückweisung von Nebenklagevertreter Scharmer: „Lassen Sie es! Sie stören das Plädoyer doch, weil ihnen das Plädoyer nicht gefällt.“

Carsten Ilius setzte im Plädoyer fort und zitierte aus einer Rede der 2015 verstorbenen Nebenklageanwältin Angelika Lex: „Rassistische Taten werden nicht als das wahrgenommen, was sie sind, nämlich rassistische Taten straff organisierter Rechtsradikaler und rechtsterroristischer Strukturen.“ Obwohl schnell klar gewesen sei, so Ilius, dass es keine Anhaltspunkte für ein an der Person Mehmet Kubaşık anknüpfendes Motiv gab, hätten sich die Ermittlungen der Dortmunder Polizei mit fatalen Folgen für Elif Kubaşık und die drei Kinder über Monate hinweg gegen die Familie gerichtet. Die Ermittler hätten nicht nur von einer „Mauer des Schweigens“ gesprochen, sondern die Opfer der Taten auch immer wieder mit demselben Potpourri des Verdachts überzogen und öffentlich gebrandmarkt, indem etwa die Wohnung der Familie und das Auto für das ganze Umfeld sichtbar mit Drogenhunden untersucht worden sei. Bei der Beerdigung Kubaşıks seien Autokennzeichen notiert, in der Wohnstraße der Familie mit Bildern von dem Mordopfer dessen vermeintliche Drogendealer-Tätigkeit durch Befragung von Jugendlichen recherchiert worden. Es sei den Ermittlern nicht gelungen sich von ihren gewohnten, rassistischen Deutungsmustern zu lösen, trotz entsprechender Hinweise und Fallanalysen, die durchaus andere Ergebnisse nahegelegt hätten, so Ilius. So hätten sich Ermittlungen gegen Nazis als mögliche Täter aufgrund der 2. Operativen Fallanalyse nach den Morden an Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat bundesweit aufgedrängt. Mehr noch: Es habe in Dortmund selbst Hinweise auf Nazi-Täter gegeben. Eine Zeugin etwa habe angegeben, am Tatort zwei „Deutsche“ gesehen zu haben, die ihr wie „Junkies oder Nazis“ vorgekommen seien.

Trotz aller Hinweise und auch trotz zweier Demonstrationen einiger Betroffenenfamilien unter dem Motto „Kein 10. Opfer“ in Kassel und Dortmund kurz nach den beiden Morden hätten, so Ilius, „weder die dem Gericht vorgelegten Akten aus Dortmund, noch die beim GBA liegenden Dortmunder Spurenakten auch nur eine einzige Ermittlungsmaßnahme in Richtung auf ein rassistisches Motiv und rechte Täter“ enthalten. Er glaube, sagte Ilius abschließend, dass dieses bewusste Heraushalten einer solchen Möglichkeit aus den Ermittlungsberichten mit der bevorstehenden Fußball-WM im Zusammenhang zu sehen sei: Attentate wie die Ermordungen Kubaşıks und Yozgats hätten weltöffentlich vielleicht ein anderes als das von Bundesanwalt Diemer beschworene Bild eines „friedlichen und freundlichen Deutschlands“ ergeben.

Zum Schluss versuchte Wohlleben-Verteidigerin Schneiders dann doch noch andere Schlagzeilen zu produzieren, indem sie beantragte, der Senat möge darauf hinwirken, dass Oberstaatsanwalt Weingarten ersetzt werde. Dieser habe in der Auseinandersetzung über Nebenklage-Anwalt Hoffmanns Bemerkung über sie als „ehemals aktive Neonazistin“ seine Neutralitätspflicht verletzt und mehrfach Jargon der „so genannten Antifa“ verwendet (u.a. betrachtet Schneiders offenbar die Begriffe „völkisch“ und „nazistisch“ als ‚Antifa-Jargon‘). Der Verhandlungstag endete um 16:21 Uhr.

Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.