Kurz-Protokoll 437. Verhandlungstag – 03. Juli 2018

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Am vorletzten Prozesstag stellt NK-Vertreter RA Erdal zunächst erneut den Antrag, das Kreuz im Gerichtssaal für die Urteilsverkündung abzunehmen. Er begründet dies mit der Neutralitätspflicht des Staates gegenüber Religion. Danach haben die Angeklagten die Gelegenheit, letzte Worte vor der Urteilsverkündung zu sprechen.

Im Publikum sitzt heute der Neonazi Thomas Gerlach in Begleitung einer Frau. Die Publikums- und Presseempore ist fast bis auf den letzten Platz besetzt, so voll war es in Saal A101 des Münchner Strafjustizzentrums nicht mehr seit der ersten Einlassung Zschäpes im Dezember 2015. Ralf Wohlleben winkt nach oben, vermutlich in Richtung von Thomas Gerlach.

Der Verhandlungstag beginnt um 09:47 Uhr. Götzl: „Wir setzen fort und kommen zunächst zur Feststellung der Präsenz.“ Auf Seiten der Verteidigung ist Zschäpe-Verteidiger RA Borchert heute anwesend, Wohlleben-Verteidiger RA Klemke jedoch nicht. Susann Eminger nimmt als „rechtlicher Beistand“ am heutigen Verhandlungstag teil und neben ihrem Ehemann, dem Angeklagten André Eminger, Platz.
Nach der Präsenzfeststellung sagt Götzl: „Herr Rechtsanwalt Erdal, sie wollten einen Antrag stellen?“ NK-Vertreter RA Erdal: „Ich beantrage eine Entscheidung des Senats, da der Vorsitzende den Antrag meines Mandanten vom 07.02.2018 [phon.] hinsichtlich des Kreuzes mit Verfügung vom 02.07.2018 abgelehnt hat.“ [Es geht um den Antrag, das Kreuz, das über einem Ausgang des Saals hängt, während der Urteilsverkündung abzuhängen.]
Erdal: „Das Gericht ist keine Einrichtung einer bestimmten Religion oder einer bestimmten Regierung. Das Gericht ist eine Einrichtung des Staates. Der Staat hat aber nach dem Grundgesetz hinsichtlich der Religion eine Neutralitätspflicht. Diese Neutralitätspflicht beruht im Wesentlichen auf den Erfahrungen mit dem ‚Tausendjährigen Reich‘. Deshalb muss die Verfassung, muss das Grundgesetz auch in Bayern gelten.“
Danach sagt Götzl: „Die Beanstandung des Rechtsanwalts Erdal gegen die Verfügung des Vorsitzenden, mit der er die Entfernung des Holzkreuzes während der Urteilsverkündung abgelehnt hatte, wird als unzulässig verworfen.“ Die Beanstandung von Erdal sei, so Götzl weiter, als unzulässig zu verwerfen gewesen, da es sich nicht um eine sachleitende Entscheidung des Vorsitzenden gehandelt habe, die einer Überprüfung durch den Senat unterliegt.

Dann sagt Götzl: „Sind noch Anträge oder Erklärungen?“ Niemand meldet sich. Götzl: „Dann wird die Verhandlung geschlossen. Sollen noch Schlussvorträge erfolgen?“ Wieder meldet sich niemand. Götzl: „Nein. Dann würden wir zu den Schlussausführungen der Angeklagten selbst kommen. Frau Zschäpe, wollen Sie Schlussausführungen machen?“

Beate Zschäpe spricht ihre Schlussausführungen selbst:
Hoher Senat, sehr geehrte Anwesende,
heute möchte ich die Chance der letzten Worte nutzen, was mir zugegebenermaßen nicht
leicht fällt. Die im Prozess gemachten Erfahrungen sowie die mediale Berichterstattung verunsichern mich bis heute. Ich habe das Gefühl, dass jedes Wort, und sei es von mir noch so ernst und ehrlich gemeint, falsch bzw. mir nachteilig ausgelegt wird. Dies war auch der hauptsächliche Grund für die schriftliche Einlassung und Beantwortung aller Fragen des Senats. Zu diesem fortgeschrittenen Zeitpunkt des Verfahrens fehlte es mir längst an der dafür nötigen körperlichen und seelischen Kraft. Ich gehe davon aus, dass beides zu Beginn des Prozesses noch möglich gewesen wäre. Auch jetzt fällt es mir schwer, da über die Jahre in Untersuchungshaft u.a. immer mehr Konzentrationsstörungen aufgetreten sind. Hinzu kommt, dass ich mich schon immer schwer getan habe, bei offiziellen Gelegenheiten frei vor großer Runde zu sprechen. Das viel zitierte und völlig falsch interpretierte Selbstbewusstsein greift in solchen Fällen – wie auch bei anderen Gelegenheiten – nicht. Trotzdem habe ich den Entschluss gefasst, diesen Schritt zu gehen und weise darauf hin, dass diese Worte keinerlei anwaltliche Formulierungen enthalten.
Nach der viertägigen Irrfahrt, in der ich mich mit dem Resultat der vergangenen 13 Jahre, mit all meinen Fehlentscheidungen konfrontiert sah, musste ich feststellen, dass es nicht mehr möglich war, wie sonst Teile der Realität zu verdrängen. Bewusst traf ich die Entscheidung, mich selbst zu stellen, um endlich einen Schlussstrich unter alles zu ziehen. „Ich habe mich nicht gestellt, um nichts zu sagen.“ Dieser Satz am Tage der Selbststellung war und ist bis heute keine leere Phrase für mich. Rückwirkend betrachtet war der 08.11.2011 eine Art Befreiung für mich.
Ich wollte und will die Verantwortung für die Dinge übernehmen, die ich selbst verschuldet habe und entschuldige mich für das Leid, was ich verursacht habe. Ich bedaure, dass die Angehörigen der Mordopfer einen geliebten Menschen verloren haben. Sie haben mein aufrichtiges Mitgefühl. Die letzten fünf Jahre des laufenden Verfahrens waren für mich die Fortsetzung eines Lern- und Entwicklungsprozesses. Ich sah die Auswirkungen der Brandstiftung auf Frau E. und die traumatisierten Bankangestellten. Des weiteren sah ich Tatortfotos, erfuhr die grausamen Einzelheiten und erfasste Stück für Stück das ganze Ausmaß der schrecklichen Taten von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos.
Jedes Wort meiner am 09.12.2015 verlesenen Entschuldigung war und ist deshalb absolut ernst gemeint. Leider gibt es nicht mehr als diese Worte des aufrichtigen Bedauerns. Ich kann den Hinterbliebenen ihre Angehörigen nicht mehr zurückgeben. Wiederholt wurde mir vorgeworfen, dass ich wider besseren Wissens nicht zur Aufklärung der näheren Umstände beitragen würde.
Deshalb hier nochmals: Ich hatte und habe keinerlei Kenntnisse darüber, warum gerade diese Menschen an gerade diesen Orten von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos ausgewählt wurden. Hätte ich weitere Kenntnisse, würde ich sie spätestens jetzt hier preisgeben, da es für mich keinerlei Grund mehr gibt, irgendetwas zu verschweigen.
Vermutungen und daraus resultierende Spekulationen helfen hier niemandem weiter. Ich möchte nur noch eines: einen Abschluss finden, um irgendwann ein Leben ohne Abhängigkeit, ohne Gewalt und Ängste jeglicher Art führen zu können.
Auf die Frage der Mutter des Halit Yozgat, ob ich überhaupt noch ruhig schlafen könne, möchte ich heute erwidern: Auch wenn die Bundesanwaltschaft, Nebenklägeranwälte und die Medien mir genau das absprechen, ich bin ein mitfühlender Mensch und habe sehr wohl den Schmerz und die Wut der Angehörigen sehen und spüren können. All dies hat mich selbstverständlich betroffen gemacht und belastet mich bis heute sehr. Die Tatsache, dass ich für Sie alle hier im Saal nicht die gewünschte Reaktion darauf gezeigt habe, heißt nicht, dass ich nicht erschüttert und entsetzt bin. Eigene Gefühle zu unterdrücken, sie nicht nach außen zu tragen, so verfahre ich schon seit frühester Jugend. Diese mir anerzogene Verhaltensweise hat mein Prozessverhalten sicherlich negativ beeinflusst.
Ich bin ein Mensch, der gravierende Fehler gemacht hat und habe diese in einem jahrelang andauernden Lernprozess – der übrigens schon vor den Ereignissen des 04.11.2011 begonnen hat – eingesehen. Der Inhalt meiner am 29.09.2016 selbst verlesenen Distanzierung von der rechten Szene soll deshalb als klares Zeichen gesehen werden, dass ich mit diesem Kapitel unwiderruflich abgeschlossen habe. Ich ließ mich von der durch die Wendezeit nachhaltig beeinflussten Ideologie mitreißen. Die dadurch entstandenen Auswirkungen, meine damalige Unfähigkeit, die Dinge
aufzuhalten und meine Schwäche, mich von Uwe Böhnhardt zu trennen, bereue ich zutiefst. Zwar akzeptiere ich die Meinung und Gesinnung der Mitangeklagten, habe aber für mich die Entscheidung getroffen, dass rechtes Gedankengut keine, aber auch gar keine Bedeutung mehr für mich hat.
Ich möchte jetzt den Senat und Sie, Herr Richter Götzl, darum bitten, ein Urteil zu fällen, welches unbelastet von öffentlichem oder politischem Druck ist. Bitte verurteilen Sie mich nicht stellvertretend für etwas, was ich weder gewollt noch getan habe. Danke.

Götzl: „Herr Eminger, Sie?“ Eminger verzichtet auf Schlussausführungen. Götzl: „Nein. Herr Gerlach?“ Holger Gerlach: „Hohes Gericht, ich möchte meine letzten Worte auch nochmal dazu nutzen, um mich bei den Hinterbliebenen zu entschuldigen, dass auch mein Handeln verantwortlich war, ihr Leid zu vergrößern, mich bei den Hinterbliebenen dafür zu entschuldigen, dass ich nicht in der Lage war, Nein zu sagen. Ansonsten möchte ich mich ausdrücklich den Worten meiner Anwälte anschließen und hoffe, dass Sie, hohes Gericht, ein gerechtes Urteil für mich finden werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.“

Götzl: „Herr Wohlleben?“ Ralf Wohlleben: „Alles was es aus meiner Sicht zu sagen gab in diesem Verfahren, habe ich am 16.12.2015 in der von mir verlesenen Einlassung vorgetragen. Ergänzend möchte ich mich den Ausführungen meiner Verteidiger im Ergebnis anschließen.“

Carsten Schultze: „Hoher Senat, verehrte Damen und Herren, ich war damals nicht ich selbst. Auf der Suche nach mir bin ich in eine falsche Richtung gelaufen. Ich habe mich da selbst herausgezogen, aber ich habe einen Fehler gemacht, der mich wieder eingeholt hat. Ich denke, ich habe getan, was ich konnte, um diesen Fehler wieder auszubügeln, aber der Fehler bleibt. Ich muss lernen, mit diesem Fehler zu leben. Die Schuld, die ich auf mich geladen habe, lässt sich nicht abtragen, aber ich werde so daran arbeiten, als ließe sie das [phon.]. Ich bin sehr dankbar für das Treffen mit Angehörigen der Familie Boulgarides, das hat mir sehr viel bedeutet. Aber auch die Worte von Abdulkerim Şimşek und die Worte von Gamze Kubaşık sind mir sehr wichtig. Auch die Rückmeldung von Dr. Daimagüler und im Plädoyer von Herrn Bliwier zu deren Mandanten sind mir sehr wichtig.“

Götzl: „Dann haben Sie alle noch das letzte Wort, wollen Sie etwas hinzufügen? Frau Zschäpe, Herr Eminger, Herr Wohlleben, Herr Gerlach, Herr Schultze?“ Niemand meldet sich noch einmal zu Wort. Götzl: „Dann ist der nächste Termin Mittwoch, 11.07., um 09:30 Uhr. Dafür ist dann die Urteilsverkündung vorgesehen.“ Der Verhandlungstag endet um 10:34 Uhr.

Kommentar des Blogs NSU-Nebenklage, hier.

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