Der Prozess zum Mord an Walter Lübcke und zum Angriff auf Ahmed I. – Die Verhandlungstage 16 bis 18.

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16. Prozesstag, 07.09.2020

Am 16. Verhandlungstag im Prozess gegen Stephan Ernst und Markus Hartmann wurde der aktuelle Verteidiger von Ernst, RA Kaplan und ein ehemaliger Verteidiger von Ernst, RA Waldschmidt vor Gericht als Zeugen befragt. Hintergrund waren Angaben von Ernst, von zwei seiner Anwälte, RA Waldschmidt und RA Hannig, zu Falschaussagen überredet worden zu sein. Um darüber vor Gericht aussagen zu können, hatte Ernst seine ehemaligen Anwälte und RA Kaplan teilweise von der Schweigepflicht entbunden. Auch Stephan Ernst wurde heute wieder befragt und zum Ende des Verhandlungstages noch ein Beitrag des TV-Magazins Panorama und das gesamte von Hartmann aufgenommene Handyvideo der Bürgerversammlung in Lohfelden gezeigt.

Gleich zu Beginn des Verhandlungstages wurde RA Kaplan als Zeuge vernommen. Er sagte, am 3. Juli 2020 habe es ein Gespräch zwischen ihm und RA Hannig gegeben, zu dem er hier Auskunft geben dürfte. Hannig habe ihm mitgeteilt, dass die Version des Mordes an Walter Lübcke vom Januar/Februar 2020, nach der sich aus der von Hartmann gehaltenen Waffe ein Schuss gelöst habe, seine Erfindung gewesen sei. Kaplan gab an ihn damals gefragt zu haben, warum er das tue. Hannig habe ihm darauf geantwortet, er tue dies, weil er in einem Strafverfahren lügen dürfe. Der Vorsitzende Richter Sagebiel hakte nach, wie es zu dem Gespräch gekommen sei. Kaplan führte aus, Hannig und er hätten sich an dem Tag morgens vor der Hauptverhandlung treffen wollen, um den Tag vorzubereiten. Er habe allerdings vergeblich auf Hannig gewartet, der ihm eine Whatsapp-Nachricht mit einem abfotografierten Zettel geschickt habe, anstatt zum Treffen zu kommen. Hannig habe dazu geschrieben, dass Ernst im Prozess sagen solle, seine Frau habe ihn angerufen, um zu fragen, warum es so lange mit der Einlassung dauere, er solle endlich reden. Kaplan erzählte weiter, er habe Hannig an dem 3. Juli dann gegen 9:45 Uhr am Gericht getroffen und ihn gefragt, ob dies stimme. Hannig habe gesagt, das stimme nicht, aber er wolle, dass Ernst es so erzähle, wie er es auf dem Zettel, den er Kaplan geschickt hatte, aufgeschrieben habe. Das sei gut „wegen der Öffentlichkeit“. Sagebiel sagte, das sei ja abstrus, Telefonate würden ja überwacht. Kaplan stimmte zu, daher habe er nachgefragt und in diesem Zuge habe ihm Hannig auch davon erzählt, die Geständnisversion erfunden zu haben. Allerdings sei nur der Teil, in dem Hartmann die Waffe gehalten habe, erfunden, der Rest des zweiten Geständnisses von Stephan Ernst träfe zu, auch was die Anwesenheit von Hartmann am Tatort betreffe. Hannig habe gesagt, er habe damit eine Aussage von Hartmann provozieren wollen. Richter Dr. Koller fragte, ob Hannig ihm berichtet habe, was Ernst ihm erzählt habe. Kaplan bejahte dies, das sei in der Einlassung vor Gericht wiedergegeben worden. Koller fragte nach, also habe Hannig die dritte Version gekannt und diese in die zweite modifiziert. Kaplan: „So ist es.“ Ob er dies zuvor gewusst habe, ließ Kaplan während seiner Aussage offen, da Gespräche dazu an anderen Tagen stattgefunden hätten, zu diesen sei er aber nicht von seiner Schweigepflicht befreit.

Der Senat befragte dann erneut den Angeklagten Stephan Ernst. Dabei machte es sich auch Fragen der Verteidigung Hartmann zu Eigen, die Ernst nicht beantwortet hatte. Es ging zunächst um Details zum Tatablauf beim Mord an Walter Lübcke. Ernst gab dazu unter anderem an, dass er den Schuss zwischen 23:10 und 23:40 abgegeben habe und davor zwischen 30 und 50 Minuten das Haus beobachtet habe. Er habe auf der Terrasse ein Smartphone bei Lübcke wahrgenommen, kein Tablet. Sagebiel fragte nach dem Bild der Wärmebildkamera, das Ernst versehentlich gemacht habe. Ernst gab an, er habe bemerkt, dass er dies gemacht habe und habe eigentlich gedacht, dass er es gelöscht habe. Sagebiel stellte dann die Frage nach Notizen und Zeichnungen, die bei Ernst gefunden wurden. Diese wurden in Augenschein genommen, wobei sichtbar wurde, dass es dabei um das Konstruktionen von Zündmechanismen und Pistolen handelte. Ernst gab an, mit diesen Notizen habe er sich bei seiner Haft Mitte der 1990er „die Zeit vertrieben“. Sagebiel sagte, bei den Notizen seien auch Namen von Schützenvereinen dabei gewesen und fragte nach Ernsts Interesse daran. Ernst: „Interesse für Schützenvereine würde ich so nicht sagen.“ Er habe sich mit einem Mithäftling unterhalten, wie man sich bewaffnen könne und da sei ihnen der Eintritt in einen Schützenverein eingefallen. Sagebiel fragte nach Ernsts Mitgliedschaft in der NPD, die dieser bestätigte. Er sei nie formal ausgetreten, er habe einfach keine Mitgliedsbeiträge mehr bezahlt, so Ernst. Er sei drei Jahre lang aktiv gewesen, er habe damit aufgehört, als er in die freie Kameradschaftsszene gewechselt sei. Der Senat machte sich außerdem eine Frage der Verteidigung Hartmann zu Eigen, die auf die Vernehmung von Alexander Sch. zurückgeht. Dieser hatte angeben, Ernst und Hartmann bei der Demonstration in Chemnitz getroffen zu haben. Ernst antwortete, daran könne er sich nicht erinnern, aber bei Demonstrationen in Erfurt hätten sie Sch. zweimal getroffen. Sagebiel fragte, warum Ernst zu Hartmann nicht gesagt habe, „machs doch selber“, als Hartmann ihn für den Mord agitiert habe. Ernst sagte, er habe ihn gefragt, aber er habe sich dann dazu bereit erklärt. „[D]ie Situation war aufgeladen“ durch die Ereignisse im Laufe des Jahres, er habe dagegen vorgehen wollen, daher sei er dazu bereit gewesen. Über die Risikoverteilung hätten sie nicht gesprochen, so Ernst auf Nachfrage. Sagebiel fragte weiter, warum sie mit dem Mord ein halbes Jahr nach den Ereignissen von Chemnitz gewartet hätten. Ernst sagte, sie hätten andauernd darüber gesprochen und Mitte April 2019 hätten sie mit der konkreten Planung begonnen. Ernst konkretisierte auf die Frage nach dem genauen Datum, dass es an diesem Tag eine Vorstandssitzung im Schützenverein gegeben habe, er an einer Tankstelle mit EC-Karte gezahlt habe und er und Hartmann ihre Handys mitgehabt hätten. Sagebiel fragte, ob Lübcke 2019 für ihn die gleiche Bedeutung gehabt habe wie 2015. Das verneinte Ernst, es habe sich radikalisiert. Als „auslösende Ereignisse“ nannte Ernst „Nizza, Chemnitz, Köthen, Magnitz, die Morde an den Rucksacktouristinnen, den Angriff auf den Weihnachtsmarkt“, eben „diese ganzen Ereignisse“. Ernst bejahte die Frage Sagebiels, dass er „Leuten wie Lübcke“ die Schuld an diesen Ereignissen gegeben habe. Auf Nachfrage sagte er, er habe wahrgenommen, dass das Video von Lohfelden Anfang 2019 erneut gepostet wurde und er habe den Post von Erika Steinbach zu Walter Lübcke gesehen, das sei aber nicht entscheidend für die Tat gewesen.

Nach der Mittagspause trat Rechtsanwalt Dirk Waldschmidt in den Zeugenstand. Sagebiel fragte, wer ihn mit dem Mandat für Stephan Ernst beauftragt habe. Waldschmidt antwortete, das wisse er nicht, ein Mann, der sich nicht vorstellte, habe ihn in seiner Kanzlei angerufen und habe gesagt, Ernst sei in Kassel inhaftiert wegen eines Tötungsdeliktes, er solle das Mandat übernehmen. Er, Waldschmidt, habe gesagt, auf Zuruf sei das nicht möglich, er werde mit Ernst reden. Er habe dann bei der Staatsanwaltschaft einen Sprechschein beantragt und sei zu Ernst in die Untersuchungshaft gefahren. Waldschmidt verneinte auf Frage, Hartmann zu kennen. Er antwortete auf weitere Fragen, der Anrufer sei niemand gewesen, den er in der rechten Subkultur verorten würde, es sei eine Art „Aktenvortrag“ am Telefon gewesen und habe keinen Szeneduktus, wie „Gesinnungsknast“, beinhaltet. Der Anrufer habe sich nicht nochmal gemeldet. Sagebiel fragte nach Ernsts Reaktion auf den Besuch Waldschmidts. Dieser sagte, Ernst sei froh gewesen, dass jemand da war, dass ein Anwalt da war, er habe keinen gehabt. Es sei dann direkt aus Ernst heraus gesprudelt, dass er damit nichts zu tun habe. Er, Waldschmidt, habe geantwortet, er wolle sich alles angucken, Ernst solle erst einmal nichts sagen. Ernst habe gesagt, er müsse unbedingt aus der Haft raus, er habe einen Alibizeugen, er sei nicht am Tatort gewesen, das sei unmöglich. Waldschmidt habe gesagt, er werde sich schlau machen und habe nach dem Zeugen gefragt, könne sich aber nicht an den Namen erinnern Sagebiel fragte, ob es sich um A. [siehe 14. Prozesstag]handele. Waldschmidt: „Kann sein.“ Ernst habe gesagt, er habe sich mit A. getroffen, sie hätten sich über die Meisterschule unterhalten. Waldschmidt berichtete, er habe dann zu Ernst gesagt, es ginge hier nicht um Diebstahl, da gehe man nicht raus aus der Untersuchungshaft. Zu der DNA-Spur habe Ernst gesagt, diese sei vom Verfassungs- oder Staatsschutz platziert worden, der Mord habe etwa mit Immobilien und der Mafia zu tun. Waldschmidt sagte im Zeugenstand, das sei für ihn abwegig gewesen, und er habe darauf nicht eingehen wollen, um das Ansehen Lübckes nicht zu besudeln. Dies habe Ernst zu Kenntnis genommen. Er, Waldschmidt, habe sich trotzdem das Alibi ansehen wollen. Er habe dann im Radio von dem Geständnis von Ernst erfahren, er sei „aus allen Wolken“ gefallen. Er habe ihm „sicher nicht“ zu einem Geständnis geraten, nicht vor Akteneinsicht. Er habe ihm auch abgeraten, einen Alibizeugen zu präsentieren, weil er sich sonst lächerlich mache. Sagebiel fragte, ob er mit Ernsts Ehefrau über finanzielle Probleme gesprochen habe. Der Zeugenbeistand Waldschmidts intervenierte, das sei nicht von der Entbindung der Schweigepflicht gedeckt, weil auch hier ein Mandatsverhältnis bestanden habe. Nach einer kurzen Diskussion und Pause verkündete Sagebiel, man werde das klären und den Zeugen erneut für den 3. November laden.

Im Anschluss wurden zwei Videos in Augenschein genommen. Zunächst ein kurzer Beitrag des Nachrichtenmagazins „Panorama“, der sich um die Ankündigung des zweiten Geständnisses von Stephan Ernst dreht. Der Hauptprotagonist des Beitrags ist RA Hannig. Danach wurde das gesamte von Hartmann bei der Bürgerversammlung aufgenommene Video in Augenschein genommen. Hier sind ca. elf Minuten der Rede von Walter Lübcke zu sehen, nicht nur der Ausschnitt, der später von Hartmann hochgeladen wurde. Direkt danach sagte Nebenkläger Jan-Hendrik Lübcke: „Ich bin echt stolz auf meinen Papa. Alles was er da gesagt hat, da hat er recht und das stimmt immer noch!“ Richter Sagebiel antwortete, das habe ihm jetzt nicht zugestanden. Richterin Adlhoch fragte Ernst, ob er im Video noch etwas gesagt habe, das bejahte dieser, er habe noch zwei Sätze gerufen. Danach endete der Prozesstag.

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17. Prozesstag, 08.09.2020

An diesem Verhandlungstag sagte ein weiterer ehemaliger Arbeitskollege des Hauptangeklagten Stephan Ernst aus. Holger M. war der einzige Zeuge des Tages, er arbeitete seit 2003 mit Ernst zusammen. Seinen Schilderungen war zu entnehmen, dass Ernst sich wiederholt extrem rechts äußerte, Kolleg*innen die Junge Freiheit und die Compact empfahl und sie mit zu Kagida nahm. Wichtig war die Aussage des Zeugen M. auch für die Beweisaufnahme zum Angriff auf Ahmed I. M. berichtete von einem Gespräch, in dem Ernst erzählt habe, 2015 oder 2016 habe er auf dem Fahrradweg nach Hause einer Person „eine gegeben“, die ihn vorher mit einem Stein beworfen habe. Ahmed I. wurde am 6. Januar 2016 von hinten von einer Person auf dem Fahrrad niedergestochen. Nach der Aussage von Ernst selbst, er habe am 6. Januar 2016 „einen Ausländer“ angeschrien, ist dies die zweite Aussage, dass es rund um diesen Zeitpunkt einen Vorfall gab. Ernst leugnet bislang diese Tat.

Als einziger Zeuge wurde an diesem Verhandlungstag Holger M. in den Gerichtssaal gerufen. Der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel begann mit der Befragung. Auf dessen Fragen sagte M., er kenne nur Stephan Ernst näher, Markus Hartmann kenne er nur vom Sehen. Er kenne Ernst von der Arbeit, als Kollege. Sie hätten 10 bis 20 Meter voneinander weg in der gleichen Schicht gearbeitet. Er selbst sei seit 1991 in der Firma tätig, Ernst kenne er seit 2003. Sagebiel fragte, ob M. gewusst habe, dass Ernst und Hartmann miteinander bekannt seien. M. sagte, das wisse er nur aus der Presse, Ernst habe nur von „seinem Kumpel“ gesprochen. Er habe nicht beobachtet, dass Hartmann und Ernst miteinander Zeit verbracht hätten, allerdings seien er und Ernst auch durch eine Wand räumlich voneinander getrennt gewesen. Auf weitere Fragen Sagebiels antwortete M., er habe Ernst nur rein beruflich gekannt, er habe ihn ein paar mal nach Hause gefahren, sie hätten sich über Belangloses aber auch über Politik unterhalten. Ernst sei einer der wenigen Kollegen gewesen, mit dem man sich über Politik unterhalten habe können, andere habe das nicht interessiert. Ernst sei „mal so, mal so“ eingestellt gewesen, er habe „alle Lager bedient“, liberal und rechts. Sagebiel hakte nach, was „rechts“ bedeute. M. gab an, Ernst habe gesagt, man müsse „Migranten in ein Flugzeug stecken und über dem Mittelmeer rauslassen“. Allerdings habe Ernst „differenzieren“ können, er habe nicht alle Migranten gemeint, sondern nur „kriminelle“ oder diejenigen ohne Aufenthaltserlaubnis. Gegenüber dem Kollegen A. [siehe 14. Prozesstag]sei er normal gewesen, so M. weiter.

Sagebiel fragte nach Gesprächen über Demonstrationen. M. antwortete, Ernst sei bei der „verhängnisvollen Bürgerversammlung“ gewesen und habe ihm das Video gezeigt. Auch in Chemnitz sei Ernst mit seinem Kumpel dabei gewesen. Sagebiel fragte nach Chemnitz und M. sprach davon, dort seien „angebliche Hetzjagden hinein interpretiert“ worden, da sei Ernst dabei gewesen. Sagebiel widersprach dem Begriff „hinein interpretiert“ und fragte weiter nach Ernsts Verhalten. M. sagte, Ernst habe sich in letzter Zeit ziemlich zurückgezogen, er sei in den Arbeitspausen spazieren gegangen, so habe er es ausgedrückt, und habe sie nicht zusammen mit seinen Kollegen verbracht. M. sagte auf Nachfrage, dies sei spätestens seit Juni 2019 so gewesen. Sagebiel fragte, ob M. von Ernsts Aktivitäten im Schützenverein gewusst habe. Dies bejahte dieser, Ernst habe dort mit Bogen geschossen, von den scharfen Waffen wisse er, M., nur aus der Presse. Er selbst sei nicht waffenaffin. Als weitere enge Kontakte von Ernst in der Firma nannte M. Lu. und Ac., er habe gesehen, dass sie miteinander geredet hätten, er wisse aber nicht, was. Mit Lu. habe er auch mal geredet, sagte M. auf Sagebiels Frage, und zur Einordnung sagte er, „sagen wir mal rechte Ecke“.

Auf die Frage nach Fahrzeugen von Ernst nannte M. zunächst den VW Daddy, außerdem sei Ernst mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren. Hier hakte Sagebiel nach und ließ M. zwischen drei Fahrrädern, deren Fotos auf die Leinwand projiziert wurden, das auswählen, welches er Ernst zuordnete. Richter Dr. Koller fragte noch einmal nach der Wahrnehmung M.s von Ernsts politischer Einstellung, er habe da bei der Polizei mehr dazu gesagt. M. antwortete, Ernst habe ihm erzählt, er sei in der NPD gewesen, habe für die AfD Plakate geklebt und sei bei deren Stammtischen gewesen, „ansonsten nichts“. Koller hält vor, M. habe bei der Polizei angegeben, Ernst habe das Wort „Volksverräter“ verwendet. M.: „Könnte sein.“ Koller hält weiter vor: „Volksverräter sollte man aufhängen oder an die Wand stellen.“ M.: „Möglich.“ Auf weitere Nachfrage sagte M., er habe das „sinngemäß“ bei der Polizei wiedergegeben. Zum Thema Ausländer habe sich Ernst „differenziert“ geäußert, aber er sei „ziemlich besorgt“ gewesen, dass die die abgeschoben werden müssten, nicht abgeschoben werden und wegen der „kriminellen Ausländer“. Koller hielt vor, M. habe in seiner Vernehmung von einem ausgeprägten Hass gesprochen. M. sagte, das sei seine Interpretation gewesen. Koller hielt weitere Angaben M.s zu von Ernst geäußerte rassistischen Gewaltphantasien vor und dass er Hitlers „Mein Kampf“ gut fände. M. sagte, das könnte sein. Richter Koller sagte, er verstehe nicht, warum sich M. hier nicht erinnere, er solle sich anstrengen.

Auf weitere Nachfragen Sagebiels führte M. aus, Ernst habe ihm erzählt, dass er mal mit dem Fahrrad gefahren sei, da habe ihn jemand mit Steinen beworfen, ihn nicht vorbei gelassen, Ernst sei abgestiegen und habe der Person „eine mitgegeben“, die Person sei dann in den Straßengraben gefallen. Das sei 2015/2016 auf dem Arbeitsweg nach der Spätschicht nach Hause gewesen. Die Spätschicht ende bei ihnen in der Firma um 22:00 Uhr. M. sagte auf Nachfragen, Ernst habe ihm dies beiläufig im Frühjahr 2018 erzählt, da habe das Ereignis schon eine Weile zurückgelegen. Koller fragte dann erneut nach der politischen Einstellung Ernsts, M. gab dazu an, Ernst sei ihm vorgekommen, „wie ein Tiger auf dem Sprung“, unnahbar und geheimnisvoll. Auf die Frage nach Aggressionen durch Ernst, sagte M. es habe zweimal „Schubsereien“ am Arbeitsplatz gegeben, die von Ernst ausgegangen seien. Ernst sei zurückhaltend, aber manchmal aggressiv gewesen, meistens habe er aber gute Arbeit geleistet. Koller fragte nach der typischen Kleidung von Ernst und M. antwortete, Ernst habe meist Arbeitskleidung und eine Kappe getragen.

OStA Killmer fragte, woran M. es fest mache, dass sich Ernst im Juni 2019 zurückgezogen habe. M. sagte, Ernst habe seltener Gespräche gesucht und es sei gewesen, nachdem der Mord an Walter Lübcke durch die Presse gegangen sei. Auf Fragen sagte M., der Mord an Lübcke sei in der Firma Thema gewesen. Sagebiel fragte, was mit dem Begriff „Volksverräter“ gemeint gewesen sei. M. antwortete, er denke, das solle heißen, dass die Politik am Volk vorbei gemacht werde. Auf Frage sagte er, er denke nicht, dass Ernst Lübcke als „Volksverräter“ bezeichnet habe, zum Lohfelden-Video habe er gesagt, ein „Politiker hat die Maske fallen lassen“.

Nebenklagevertreter RA Björn Elberling fragte nach der politischen Einstellung von Ernst zur Bundesregierung und zu Angela Merkel. M. gab an, Ernst sei der Meinung gewesen, man müsse härter durchgreifen, „gegen Asylanten sage ich mal“, aber habe es eher allgemein gehalten. Auf Fragen von Nebenklagevertreter RA Matt, dazu dass M. in seiner polizeilichen Vernehmung angegeben hatte, Ernst sei ihm suspekt gewesen, habe eine aggressive Grundhaltung gehabt, sei wie ein Pulverfass mit kurzer Lunte gewesen, bestätigte M., das hätten ein paar Kollegen zu spüren bekommen, wenn Ernst etwas „gegen den Strich“ gegangen sie, sei er handgreiflich geworden. Matt fragte außerdem nach AfD-Stammtischen. M. antwortete, da sei Ernst öfter gewesen, „ da gibt es Leute, die ihn verstehen würden“ und „ihn in seinen Ansichten bestärken“.

Ernst-Verteidiger RA Kaplan hielt ebenfalls aus der Vernehmung der Polizei vor. Dort habe M. angegeben, dass er Ernst diese Tat nicht zugetraut habe. M.: „Ganz ehrlich, mir fällt es schwer, dass er das mutmaßlich gewesen ist.“ Kaplan hakte nach, dass M. bei der Polizei gesagt habe, er habe Ernst Planung und Durchführung nicht zugetraut. M. sagte, das habe er auf die generelle Durchführung bezogen. Kaplan fragte erneut nach der Planung. M. sagte, er schätze Ernst als Macher ein, nicht als Planer. M. verneinte die Frage, ob sich Ernst in der Zeit, die er ihn gekannt habe, radikalisiert habe. Kaplan fragte dann nach privaten Begegnungen mit Ernst. M.: „Na gut, auf der Kagida war ich mal dabei“, sie hätten sich vor der Arbeit getroffen und er habe sich das mal mit angeguckt, es seien noch andere von der Arbeit dabei gewesen, sagte M. und nannte Namen. Ernst habe ihn „laufend bekniet“, mitzukommen und es sich mal anzugucken, er habe schließlich eingewilligt. Er sei dann enttäuscht gewesen, es seien wenige Leute da gewesen und auch „Gestalten“, die ihm suspekt gewesen seien. Auch habe sich die Antifa versammelt und sei ihnen „auf die Pelle gerückt“. Das sei ca. 2015 gewesen. Kaplan fragte auch nach dem Vorfall mit dem Fahrrad und ob Ernst gesagt, hätte, ob der Fußgänger einen Migrationshintergrund gehabt habe. M. sagte, das habe Ernst nicht gesagt. Kaplan sagte, M. habe Ernst und Lu. als „rechte Ecke“ eingeschätzt, und fragte, wo er sich verorten würde. M.: „Regierungskritisch“, er finde nicht alles gut, was die „Regierung der Bevölkerung antut“. M. weiter: „Ich bin kein Nazi, das will ich vorweg schicken.“ Auf Frage Kaplans sagte er, er sei „Mitte rechts“. Kaplan: „Mitte rechts, CDU?“ M.: „Eher nicht.“ Wenn schon, dann würde er sich bei der AfD sehen. Kaplan fragte weiter, ob er in den Pausen auf der Arbeit Zeitschriften verteilt habe. M. bejahte das, das sei die Junge Freiheit, das sei „eine, die mal sagt, was Sache ist“. Diese sei „allgemein politisch“, werde in Berlin verlegt und sei frei verkäuflich. Kaplan fragte, in welcher politischen Ecke er die Junge Freiheit verorten würde. M.: „Im Prinzip wird aufgezeigt, was ist“, es finde keine Bewertung statt. Auf weitere Fragen sagte M., er würde sie „Mitte Rechts“ wie die AfD verorten. Kaplan fragte, ob er noch weitere Zeitschriften verteilt habe. M. bejaht, er habe auch die Compact mitgebracht. Er habe sie selbst gelesen und dann hingelegt für Kollegen, die das auch interessiere. Das „hat ja der Stephan vorgeschlagen“. Er, M., habe die Zeitschriften vorher nicht gekannt. M. führte aus, dass die „allgemeine Presse“ Mitte-grün-links sei, man könne sich nicht sicher sein, was stimme, „ich bin ja einer, sage ich mal, ich muss die Dinge von zwei Seiten betrachten“, also lese er die Junge Freiheit und die Compact mit der HNA (Hessisch-Nassauische Allgemeine) gegen.

Hartmann-Verteidiger Clemens fragte, ob Ernst bei Kagida Leute gekannt hätte. Dies bejahte M., diesen Eindruck habe er gehabt. M. bestätigte außerdem auf Fragen, dass die Kollegen Lu. und Ac. wegen illegaler Waffengeschäfte aus der Firma entlassen worden seien. RAin Schneiders hält aus der Vernehmung eines weitere Kollegen, Lo., vor, dass Ernst in der Firma Gespräche gesucht habe mit Fragen wie: „Habt ihr schon gehört, der Lübcke ist ermordet worden.“ Darauf sagte M., das wisse er nicht. M. verneinte außerdem die Frage von NK-Vertreter Elberling, ob er Hartmann auf der Kagida-Kundgebung gesehen habe. Danach endete der Prozesstag.

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18. Prozesstag, 10.09.2020

Am 18. Prozesstag im Verfahren gegen Stephan Ernst und Markus Hartmann wurden ein ehemaliger Verteidiger von Stephan Ernst und zwei Sachverständige des BKA befragt. Der Rechtsanwalt Bernd Pfläging wurde zu dem Zustandekommen der ersten beiden Aussagen von Stephan Ernst und dem Einfluss von dessen ehemaligen Verteidigern hierauf befragt. Letztere gaben Auskunft zu Schmauchspuren und der verwendeten Schusswaffe.

Zuerst sagte der Rechtsanwalt Bernd Pfläging aus Kassel aus. Pfläging vertrat Stephan Ernst als Anwalt zwischen September 2019 und März 2020. Geladen war er, um zu den Rollen von Ernsts vorherigem Anwalt Dirk Waldschmidt und seinem inzwischen ebenfalls entlassenen Anwalt Frank Hannig auszusagen. Hierfür wurde er von Ernst in Teilen von seiner Schweigepflicht entbunden. Die Beauftragung von Waldschmidt als Ernsts Anwalt sei nicht von Ernst ausgegangen, sondern von Waldschmidt initiiert worden, erwähnte der vorsitzende Richter Thomas Sagebiel in dem Zusammenhang. Pfläging sagte aus, Ernst habe ihm gegenüber gesagt, dass Dirk Waldschmidt „schuld“ sei an seinem erstem Geständnis. Außerdem habe Ernst gesagt, dass Waldschmidt ihm finanzielle Unterstützung durch „Kameraden“ angeboten habe, sollte er Hartmann „aus der Geschichte rauslassen“. Pfläging erwähnte in diesem Zusammenhang die „Nationale Gefangenenhilfe“. Auf Nachfrage vom Senat konnte Pfläging aber nicht mehr zweifelsfrei sagen, ob dies tatsächlich im Gespräch mit Ernst gefallen sei. Sicher konnte er nur sagen, dass der Tenor aus seinem Gespräch mit Ernst war, dass dessen erster Verteidiger Dirk Waldschmidt laut Ernst Schuld an dem ersten Geständnis gewesen sei.

Des Weiteren sagte Pfläging zu Ernsts zweiter Aussage von Anfang 2020 aus: Dieses sei laut Ernst von dessen damaligem Anwalt Frank Hannig vorformuliert gewesen. Hannig hätte Pfläging gegenüber die neue Aussage als „Knaller“ angekündigt und eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit im Vorfeld lanciert, sei aber ihm gegenüber nicht ins Detail gegangen. Ziel von Hannig sei es gewesen, damit eine Aussage-gegen-Aussage-Situation zwischen Ernst und Hartmann zu bewirken. Pfläging sagte aus, er hätte dies für eine schlechte Idee gehalten und Ernst davon abgeraten, der unsicher bezüglich dieses Plans gewesen sei. Pfläging sagte weiter, er habe dies für einen „juristischen Blindflug“ gehalten.

Im Anschluss gaben beide Verteidigungen und ein Nebenklagevertreter Erklärungen zur Aussage von Holger M. im 17. Prozesstag ab. M. war ein Arbeitskollege von Ernst und Hartmann und hatte zu Ernst auch mindestens vereinzelte private Kontakte. Die Verteidigung von Stephan Ernst stellte die Aussage von Holger M. so dar, dass sie zeige, dass Ernst Nazi-Ideologie kein Thema mehr gewesen sei, weil die Themen „Ausländerkriminalität“ und „Ausländerhass“ im Vordergrund gestanden hätten. Außerdem hätte Holger M. das Bild von Ernst als dem „Macher“ und Hartmann als dem „Denker“ bestätigt. Die Verteidigung von Hartmann stellte die Aussage von M. als Beleg für das genaue Gegenteil dar: Die Aussage hätte gezeigt, dass Ernst ein „politischer Aktivist erster Ordnung“ sei, der andere agitiert hätte und niemanden gebraucht hätte, der ihn radikalisierte. Rechtsanwalt Alexander Hoffmann, Vertreter des Nebenklägers Ahmed I., sah in der Aussage von Holger M. einen weiteren Hinweis auf den Angriff auf seinen Mandanten. Ernst habe laut Holger M. ihm gegenüber von einem Vorfall auf einem Fahrradweg erzählt, bei dem er jemanden angegriffen hätte. Die Version, wie Ernst sie erzähle, könne so nicht stimmen, verweise aber auf den Mordversuch an seinen Mandanten am 6. Januar 2016, so Hoffmann. Hoffmann verwies auf das offenbare Bedürfnis von Ernst, seinem Umfeld von seinen Taten zu erzählen. Aus Angst vor Entdeckung habe er hier zwar eine Tarnversion erzählt, dies sei ein weiteres Indiz, das zur Verurteilung von Ernst wegen des Angriffs auf I. führen werde, so Hoffmann.

Im Anschluss daran waren zwei kriminaltechnische Sachverständige des Bundeskriminalamts (BKA) geladen, die Untersuchungen zu der verwendeten Waffe und Schmauchspuren im Zusammenhang mit dem Tod von Walter Lübcke vorgenommen haben. Der erste Sachverständige Ludwig N. erklärte, wie er aufgrund der Schmauchspuren zu dem Ergebnis kam, dass der Schuss auf Walter Lübcke aus einer Entfernung von einem bis eineinhalb Meter Entfernung abgegeben wurde. Außerdem erläuterte er, wo sich in Ernsts Auto ebenfalls Schmauchspuren befanden – am Lenkrad und auf Decken im Kofferraum – , dass diese aber beispielsweise zeitlich nicht genauer zugeordnet werden konnten. Der zweite Sachverständige Klaus H. berichtete über seine Ermittlungen und wie er zu dem Ergebnis kam, dass die mutmaßliche Tatwaffe, ein Revolver der Marke Rossi, zu der Ernst die Ermittler*innen geführt hatte, tatsächlich die Tatwaffe des Mordes an Walter Lübcke war. Damit endete der 18. Prozesstag.

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