17. Prozesstag, 08.09.2020 – Prozess zum Mord an Walter Lübcke und zum Angriff auf Ahmed I.

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An diesem Verhandlungstag sagte ein weiterer ehemaliger Arbeitskollege des Hauptangeklagten Stephan Ernst aus. Holger M. war der einzige Zeuge des Tages, er arbeitete seit 2003 mit Ernst zusammen. Seinen Schilderungen war zu entnehmen, dass Ernst sich wiederholt extrem rechts äußerte, Kolleg*innen die Junge Freiheit und die Compact empfahl und sie mit zu Kagida nahm. Wichtig war die Aussage des Zeugen M. auch für die Beweisaufnahme zum Angriff auf Ahmed I. M. berichtete von einem Gespräch, in dem Ernst erzählt habe, 2015 oder 2016 habe er auf dem Fahrradweg nach Hause einer Person „eine gegeben“, die ihn vorher mit einem Stein beworfen habe. Ahmed I. wurde am 6. Januar 2016 von hinten von einer Person auf dem Fahrrad niedergestochen. Nach der Aussage von Ernst selbst, er habe am 6. Januar 2016 „einen Ausländer“ angeschrien, ist dies die zweite Aussage, dass es rund um diesen Zeitpunkt einen Vorfall gab. Ernst leugnet bislang diese Tat.

Als einziger Zeuge wurde an diesem Verhandlungstag Holger M. in den Gerichtssaal gerufen. Der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel begann mit der Befragung. Auf dessen Fragen sagte M., er kenne nur Stephan Ernst näher, Markus Hartmann kenne er nur vom Sehen. Er kenne Ernst von der Arbeit, als Kollege. Sie hätten 10 bis 20 Meter voneinander weg in der gleichen Schicht gearbeitet. Er selbst sei seit 1991 in der Firma tätig, Ernst kenne er seit 2003. Sagebiel fragte, ob M. gewusst habe, dass Ernst und Hartmann miteinander bekannt seien. M. sagte, das wisse er nur aus der Presse, Ernst habe nur von „seinem Kumpel“ gesprochen. Er habe nicht beobachtet, dass Hartmann und Ernst miteinander Zeit verbracht hätten, allerdings seien er und Ernst auch durch eine Wand räumlich voneinander getrennt gewesen. Auf weitere Fragen Sagebiels antwortete M., er habe Ernst nur rein beruflich gekannt, er habe ihn ein paar mal nach Hause gefahren, sie hätten sich über Belangloses aber auch über Politik unterhalten. Ernst sei einer der wenigen Kollegen gewesen, mit dem man sich über Politik unterhalten habe können, andere habe das nicht interessiert. Ernst sei „mal so, mal so“ eingestellt gewesen, er habe „alle Lager bedient“, liberal und rechts. Sagebiel hakte nach, was „rechts“ bedeute. M. gab an, Ernst habe gesagt, man müsse „Migranten in ein Flugzeug stecken und über dem Mittelmeer rauslassen“. Allerdings habe Ernst „differenzieren“ können, er habe nicht alle Migranten gemeint, sondern nur „kriminelle“ oder diejenigen ohne Aufenthaltserlaubnis. Gegenüber dem Kollegen A. [siehe 14. Prozesstag]sei er normal gewesen, so M. weiter.

Sagebiel fragte nach Gesprächen über Demonstrationen. M. antwortete, Ernst sei bei der „verhängnisvollen Bürgerversammlung“ gewesen und habe ihm das Video gezeigt. Auch in Chemnitz sei Ernst mit seinem Kumpel dabei gewesen. Sagebiel fragte nach Chemnitz und M. sprach davon, dort seien „angebliche Hetzjagden hinein interpretiert“ worden, da sei Ernst dabei gewesen. Sagebiel widersprach dem Begriff „hinein interpretiert“ und fragte weiter nach Ernsts Verhalten. M. sagte, Ernst habe sich in letzter Zeit ziemlich zurückgezogen, er sei in den Arbeitspausen spazieren gegangen, so habe er es ausgedrückt, und habe sie nicht zusammen mit seinen Kollegen verbracht. M. sagte auf Nachfrage, dies sei spätestens seit Juni 2019 so gewesen. Sagebiel fragte, ob M. von Ernsts Aktivitäten im Schützenverein gewusst habe. Dies bejahte dieser, Ernst habe dort mit Bogen geschossen, von den scharfen Waffen wisse er, M., nur aus der Presse. Er selbst sei nicht waffenaffin. Als weitere enge Kontakte von Ernst in der Firma nannte M. Lu. und Ac., er habe gesehen, dass sie miteinander geredet hätten, er wisse aber nicht, was. Mit Lu. habe er auch mal geredet, sagte M. auf Sagebiels Frage, und zur Einordnung sagte er, „sagen wir mal rechte Ecke“.

Auf die Frage nach Fahrzeugen von Ernst nannte M. zunächst den VW Daddy, außerdem sei Ernst mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren. Hier hakte Sagebiel nach und ließ M. zwischen drei Fahrrädern, deren Fotos auf die Leinwand projiziert wurden, das auswählen, welches er Ernst zuordnete. Richter Dr. Koller fragte noch einmal nach der Wahrnehmung M.s von Ernsts politischer Einstellung, er habe da bei der Polizei mehr dazu gesagt. M. antwortete, Ernst habe ihm erzählt, er sei in der NPD gewesen, habe für die AfD Plakate geklebt und sei bei deren Stammtischen gewesen, „ansonsten nichts“. Koller hält vor, M. habe bei der Polizei angegeben, Ernst habe das Wort „Volksverräter“ verwendet. M.: „Könnte sein.“ Koller hält weiter vor: „Volksverräter sollte man aufhängen oder an die Wand stellen.“ M.: „Möglich.“ Auf weitere Nachfrage sagte M., er habe das „sinngemäß“ bei der Polizei wiedergegeben. Zum Thema Ausländer habe sich Ernst „differenziert“ geäußert, aber er sei „ziemlich besorgt“ gewesen, dass die die abgeschoben werden müssten, nicht abgeschoben werden und wegen der „kriminellen Ausländer“. Koller hielt vor, M. habe in seiner Vernehmung von einem ausgeprägten Hass gesprochen. M. sagte, das sei seine Interpretation gewesen. Koller hielt weitere Angaben M.s zu von Ernst geäußerte rassistischen Gewaltphantasien vor und dass er Hitlers „Mein Kampf“ gut fände. M. sagte, das könnte sein. Richter Koller sagte, er verstehe nicht, warum sich M. hier nicht erinnere, er solle sich anstrengen.

Auf weitere Nachfragen Sagebiels führte M. aus, Ernst habe ihm erzählt, dass er mal mit dem Fahrrad gefahren sei, da habe ihn jemand mit Steinen beworfen, ihn nicht vorbei gelassen, Ernst sei abgestiegen und habe der Person „eine mitgegeben“, die Person sei dann in den Straßengraben gefallen. Das sei 2015/2016 auf dem Arbeitsweg nach der Spätschicht nach Hause gewesen. Die Spätschicht ende bei ihnen in der Firma um 22:00 Uhr. M. sagte auf Nachfragen, Ernst habe ihm dies beiläufig im Frühjahr 2018 erzählt, da habe das Ereignis schon eine Weile zurückgelegen. Koller fragte dann erneut nach der politischen Einstellung Ernsts, M. gab dazu an, Ernst sei ihm vorgekommen, „wie ein Tiger auf dem Sprung“, unnahbar und geheimnisvoll. Auf die Frage nach Aggressionen durch Ernst, sagte M. es habe zweimal „Schubsereien“ am Arbeitsplatz gegeben, die von Ernst ausgegangen seien. Ernst sei zurückhaltend, aber manchmal aggressiv gewesen, meistens habe er aber gute Arbeit geleistet. Koller fragte nach der typischen Kleidung von Ernst und M. antwortete, Ernst habe meist Arbeitskleidung und eine Kappe getragen.

OStA Killmer fragte, woran M. es fest mache, dass sich Ernst im Juni 2019 zurückgezogen habe. M. sagte, Ernst habe seltener Gespräche gesucht und es sei gewesen, nachdem der Mord an Walter Lübcke durch die Presse gegangen sei. Auf Fragen sagte M., der Mord an Lübcke sei in der Firma Thema gewesen. Sagebiel fragte, was mit dem Begriff „Volksverräter“ gemeint gewesen sei. M. antwortete, er denke, das solle heißen, dass die Politik am Volk vorbei gemacht werde. Auf Frage sagte er, er denke nicht, dass Ernst Lübcke als „Volksverräter“ bezeichnet habe, zum Lohfelden-Video habe er gesagt, ein „Politiker hat die Maske fallen lassen“.

Nebenklagevertreter RA Björn Elberling fragte nach der politischen Einstellung von Ernst zur Bundesregierung und zu Angela Merkel. M. gab an, Ernst sei der Meinung gewesen, man müsse härter durchgreifen, „gegen Asylanten sage ich mal“, aber habe es eher allgemein gehalten. Auf Fragen von Nebenklagevertreter RA Matt, dazu dass M. in seiner polizeilichen Vernehmung angegeben hatte, Ernst sei ihm suspekt gewesen, habe eine aggressive Grundhaltung gehabt, sei wie ein Pulverfass mit kurzer Lunte gewesen, bestätigte M., das hätten ein paar Kollegen zu spüren bekommen, wenn Ernst etwas „gegen den Strich“ gegangen sie, sei er handgreiflich geworden. Matt fragte außerdem nach AfD-Stammtischen. M. antwortete, da sei Ernst öfter gewesen, „ da gibt es Leute, die ihn verstehen würden“ und „ihn in seinen Ansichten bestärken“.

Ernst-Verteidiger RA Kaplan hielt ebenfalls aus der Vernehmung der Polizei vor. Dort habe M. angegeben, dass er Ernst diese Tat nicht zugetraut habe. M.: „Ganz ehrlich, mir fällt es schwer, dass er das mutmaßlich gewesen ist.“ Kaplan hakte nach, dass M. bei der Polizei gesagt habe, er habe Ernst Planung und Durchführung nicht zugetraut. M. sagte, das habe er auf die generelle Durchführung bezogen. Kaplan fragte erneut nach der Planung. M. sagte, er schätze Ernst als Macher ein, nicht als Planer. M. verneinte die Frage, ob sich Ernst in der Zeit, die er ihn gekannt habe, radikalisiert habe. Kaplan fragte dann nach privaten Begegnungen mit Ernst. M.: „Na gut, auf der Kagida war ich mal dabei“, sie hätten sich vor der Arbeit getroffen und er habe sich das mal mit angeguckt, es seien noch andere von der Arbeit dabei gewesen, sagte M. und nannte Namen. Ernst habe ihn „laufend bekniet“, mitzukommen und es sich mal anzugucken, er habe schließlich eingewilligt. Er sei dann enttäuscht gewesen, es seien wenige Leute da gewesen und auch „Gestalten“, die ihm suspekt gewesen seien. Auch habe sich die Antifa versammelt und sei ihnen „auf die Pelle gerückt“. Das sei ca. 2015 gewesen. Kaplan fragte auch nach dem Vorfall mit dem Fahrrad und ob Ernst gesagt, hätte, ob der Fußgänger einen Migrationshintergrund gehabt habe. M. sagte, das habe Ernst nicht gesagt. Kaplan sagte, M. habe Ernst und Lu. als „rechte Ecke“ eingeschätzt, und fragte, wo er sich verorten würde. M.: „Regierungskritisch“, er finde nicht alles gut, was die „Regierung der Bevölkerung antut“. M. weiter: „Ich bin kein Nazi, das will ich vorweg schicken.“ Auf Frage Kaplans sagte er, er sei „Mitte rechts“. Kaplan: „Mitte rechts, CDU?“ M.: „Eher nicht.“ Wenn schon, dann würde er sich bei der AfD sehen. Kaplan fragte weiter, ob er in den Pausen auf der Arbeit Zeitschriften verteilt habe. M. bejahte das, das sei die Junge Freiheit, das sei „eine, die mal sagt, was Sache ist“. Diese sei „allgemein politisch“, werde in Berlin verlegt und sei frei verkäuflich. Kaplan fragte, in welcher politischen Ecke er die Junge Freiheit verorten würde. M.: „Im Prinzip wird aufgezeigt, was ist“, es finde keine Bewertung statt. Auf weitere Fragen sagte M., er würde sie „Mitte Rechts“ wie die AfD verorten. Kaplan fragte, ob er noch weitere Zeitschriften verteilt habe. M. bejaht, er habe auch die Compact mitgebracht. Er habe sie selbst gelesen und dann hingelegt für Kollegen, die das auch interessiere. Das „hat ja der Stephan vorgeschlagen“. Er, M., habe die Zeitschriften vorher nicht gekannt. M. führte aus, dass die „allgemeine Presse“ Mitte-grün-links sei, man könne sich nicht sicher sein, was stimme, „ich bin ja einer, sage ich mal, ich muss die Dinge von zwei Seiten betrachten“, also lese er die Junge Freiheit und die Compact mit der HNA (Hessisch-Nassauische Allgemeine) gegen.

Hartmann-Verteidiger Clemens fragte, ob Ernst bei Kagida Leute gekannt hätte. Dies bejahte M., diesen Eindruck habe er gehabt. M. bestätigte außerdem auf Fragen, dass die Kollegen Lu. und Ac. wegen illegaler Waffengeschäfte aus der Firma entlassen worden seien. RAin Schneiders hält aus der Vernehmung eines weitere Kollegen, Lo., vor, dass Ernst in der Firma Gespräche gesucht habe mit Fragen wie: „Habt ihr schon gehört, der Lübcke ist ermordet worden.“ Darauf sagte M., das wisse er nicht. M. verneinte außerdem die Frage von NK-Vertreter Elberling, ob er Hartmann auf der Kagida-Kundgebung gesehen habe. Danach endete der Prozesstag.

Der Bericht bei NSU-Watch Hessen