„Im Prinzip haben die Täter bewirkt, dass ich noch aktiver geworden bin.“ – 4. Sitzung des Untersuchungsausschusses zum Neukölln-Komplex (16. September 2022)

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Mit der Vernehmung zweier Betroffener des Neukölln-Komplexes wurde der „1. Untersuchungsausschuss (‚Neukölln‘)“ des Berliner Abgeordnetenhauses am Freitag, den 16. September 2022,  fortgeführt.

Wie auch in vorherigen Sitzungen tagte der Untersuchungsausschuss erneut mit nur eingeschränkten Zugang der Öffentlichkeit. Der Forderung von Initiativen und Betroffenen, die auch NSU-Watch unterstützt, eine pandemiekonforme Beteiligung der Öffentlichkeit in einem Raum mit dem Ausschuss zu gewährleisten (Link), wurde bisher nicht entsprochen. Beide für den Sitzungstag geladenen Zeugen sprachen in ihren Aussagen die damit einhergehenden Probleme an und forderten den Ausschuss erneut auf, mit den Betroffenen solidarischen Menschen, Opferberater*innen sowie Journalist*innen den direkten Zugang zu den Ausschusssitzungen zu ermöglichen. Der Betroffene Ferat Koçak, der in der 4. Sitzung als erster Zeuge gehört wurde, verlas vor seiner Befragung ein Statement, in dem er als erstes forderte, den Beistand für Betroffene durch solidarische Menschen auch im Sitzungssaal zu ermöglichen.

Zeuge Ferat Koçak

Auf Koçaks Auto wurde im Februar 2018 ein Brandanschlag verübt, als es im Carport des Hauses, wo Koçak und seine Eltern schliefen, stand. Koçak ist seit 2021 Abgeordneter der Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus. In seinem Eingangsstatement vor der Befragung durch die Ausschussmitglieder berichtete Koçak von der Tatnacht im Februar 2018, der Zeit vor dem Anschlag und den zentralen Fragen, die er sich bezüglich der Rolle der Sicherheitsbehörden im Neukölln-Komplex stellt.

Die Flammen, so Koçak in seinem Bericht, schlugen vom Auto bis zur Dachdämmung des Hauses hoch. Ein Feuerwehrmann habe ihm noch in der Nacht gesagt, dass er und seine Eltern fünf Minuten später nicht mehr so einfach aus dem Haus gekommen wären. Erst später wurde klar, dass sich der Brandherd auch gefährlich nah an einer Gasleitung befand, die in der in der Tatnacht glücklicherweise verschlossenen Garage verläuft.

Bis 2016, so Koçak, sei er nicht mit Nazis in Konflikt geraten. Erst wegen des Erstarkens der Rechten und der AfD sei er der Linkspartei beigetreten. Er habe dann im Wahlkampf rassistische Anfeindungen erlebt, sei angespuckt worden und ins Fadenkreuz von Nazis geraten. Vor dem Anschlag habe er aber keine konkreten Drohungen wahrgenommen, so Koçak. Zum Tatabend im Februar 2018 sagt er, dass er um 3 Uhr Nachts aufgewacht sei, weil es viel heller war als zu dieser Uhrzeit üblich. Dann habe er das Feuer am Auto gesehen. Schnell habe er seine Eltern geweckt und sie zum Gehen aufgefordert. In diesem Moment habe er nur noch funktioniert, einen Feuerlöscher geholt und damit begonnen das Feuer an seinem Wagen zu löschen. Koçak sagt, er habe die Angst und Verzweiflung seines Vaters und seiner Mutter gespürt: „Wir hatten alle Todesangst.“

Noch in der Nacht sei er von einer Polizistin am Tatort nach seiner Herkunft gefragt worden. Sie habe ihm gegenüber gemutmaßt, ob es nicht vielleicht aufgrund eines kurdisch-türkischen Konflikts zu diesem Anschlag gekommen sein könnte. Ihm sei, so Ferat Koçak, aber klar gewesen, dass es um sein linkes Engagement geht: „Meine Eltern hätten sterben können, weil ich mich gegen rechts und Rassismus engagiere.“ Ferat Koçaks Mutter hatte wenige Wochen nach dem Anschlag einen Herzinfarkt, deswegen habe er sein politisches Engagement beenden wollen: „Doch meine Mutter sagte, dass wir uns nicht einschüchtern lassen und ich weiter machen soll. Im Prinzip haben die beiden Hauptverdächtigen, wenn Sie denn die Täter sind, bewirkt, dass ich noch aktiver geworden bin“, so Ferat Koçak.

Am nächsten Tag seien dann Beamte des Berliner Landeskriminalamtes (LKA) zum Haus der Familie gekommen und hätten berichtet, dass auch sie von einem Anschlag mit rechtem Motiv ausgehen – in derselben Nacht war ein Anschlag auf Heinz Ostermann verübt worden, der am 9. September im Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex gehört wurde (Link zum Bericht von der 3. Sitzung).

Gegenüber dem Untersuchungsausschuss schilderte Ferat Koçak auch die Folgen der Tat für ihn persönlich, etwa dass er im Haus seiner Eltern keinen Schlaf finde, weil er „wie ein Wachhund“ sei. Geholfen habe ihm die Unterstützung durch Betroffenenberatungen wie Reach Out und OPRA und die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus. Der schlimmste Moment nach der Tatnacht sei allerdings gewesen, als er von der Überwachung der Hauptverdächtigen Thom und P. durch das Landesamt für Verfassungsschutz Berlin erfahren habe: „Es wurde klar, dass Nazis mich über Monate beobachtet haben.“ Ferat Koçak wurde trotz der Überwachung von Thom und P. durch den Berliner Verfassungsschutz nicht über eine mögliche Gefährdung informiert. Erfahren habe er davon erst, als Journalist*innen ihm in einem Studio des RBB Mitschnitte von der Überwachung vorspielten, so Koçak.

Auf die Überwachung der Hauptverdächtigen bezieht sich auch eine der zentralen Fragen, die sich Koçak bezüglich der Rolle der Sicherheitsbehörden im Neukölln-Komplex stellen. Er fragt sich, was für Maßnahmen im Gange waren und ob und warum die mutmaßlichen Täter Thom und P. am Tatabend nicht beobachtet wurden. Koçak: „Warum wurde ich nicht gewarnt, obwohl es Tonaufnahmen meiner Verfolgung gibt? Wurden die mittlerweile Angeklagten in der Tatnacht beobachtet?“ Ihm sei von den Behörden mitgeteilt worden, dass sein Name falsch geschrieben worden sei und dass sein Auto, welches das Ziel der Nachstellungen war, nicht seiner Person zugeordnet worden sei.

Ferat Koçak fragt sich bei seiner Aussage im Untersuchungsausschuss darüber hinaus, warum man bei den Ermittlungen zu den Taten im Zusammenhang mit dem Neukölln-Komplex „trotz des bekannten Täterkreises bei einer Aufklärungsrate von 0 Prozent“ liege. Zur Frage nach seinen Erfahrungen mit der Polizei sagt Koçak im Untersuchungsausschuss, dass er mit einzelnen Beamten gute Erfahrungen gemacht habe, etwa einem LKA-Beamten – dieser sei dann aber bald abgezogen worden. Auch bei der von der Berliner Polizei eingerichteten Neuköllner „OG Rex“ habe er anrufen können, etwa als vor dem Haus eine Straßenlaterne ausgefallen sei. Die Befragungen der Polizei, so Koçak, seien ihm jedoch teilweise zu weit gegangen: „Mir war wichtig: Werden die Nazis beobachtet, gibt es eine Gefährdung?“ Nicht jede seiner eigenen privaten und politischen Aktivitäten sei wichtig, die Polizei habe aber danach gefragt.

Der Zeuge verwies in seiner Befragung zudem darauf, dass er bereits sehr früh schlechte Erfahrungen mit der Polizei hatte. Bereits mit 12 Jahren hat er Racial Profiling erlebt und erlebt es bis heute. Vom Untersuchungsausschuss erhofft sich Ferat Koçak, dass dieser für Aufklärung sorgen kann, dass ein Stück weit Vertrauen geschaffen werden kann: „Und dass die, die Fehler gemacht haben, bewusst oder unbewusst, zur Verantwortung gezogen werden.“

Auch berichtet Ferat Koçak gegenüber dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss von Drohschreiben und Droh-SMS. Dabei erwähnt er, dass es ein Drohschreiben des „NSU 2.0“ von 2019 gab, von dem er erst als Zeuge im NSU20-Prozess erfuhr. Nachdem sie es schon bei der Überwachung der mutmaßlichen Täter versäumt hatten, hatten ihn die Behörden also auch diesmal nicht gewarnt. (Link zu NSU-Watch-Twitter zum NSU 2.0-Prozess)

Auf Nachfrage der Abgeordneten im Untersuchungsausschuss machte Koçak deutlich, dass es ihm nicht um einzelne Verfehlungen der Sicherheitsbehörden gehe, „sondern eher um die Masse der Ungereimtheiten“ im Neukölln-Komplex. Für ihn sei beispielsweise auch die Beantwortung der Frage wichtig, wie sehr die AfD Neukölln, der der Hauptverdächtige Tilo P. zeitweise angehörte, in den Neukölln-Komplex verstrickt ist, welche Verbindungen es etwa von den mutmaßlichen Tätern in die AfD-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung Neukölln gebe.

Für den Tiefpunkt der Befragung von Ferat Koçak in der 4. Sitzung des Untersuchungsausschusses sorgte denn auch der AfD-Abgeordnete Brousek, der vom Zeugen unbedingt die Vornamen von dessen Eltern genannt bekommen wollte, und schließlich sogar ein Ordnungsgeld gegen den Zeugen forderte. Die Befragung durch Brousek zielte klar auf Provokation ab. Als dies auf die erwartbare Empörung in den Reihen anderer Fraktionen stieß, schwafelte Brousek davon, der Untersuchungsausschuss sei „eine Art McCarthy-Ausschuss“ gegen die AfD. Hier bestätigte sich dessen Auftreten aus den vergangenen Sitzungen, das den Anschein macht vor allem auf Schikane der Betroffenen, Verharmlosung der Taten und rechte Anti-Antifa-Propaganda im Nachgang zu den Sitzungen ausgelegt zu sein.

Auffällig war, dass die Empörung bei anderen Fraktionen für die Öffentlichkeit zwar zum Teil hörbar, aber akustisch kaum verständlich war. Auch dies ein Beleg dafür, wie wichtig die Anwesenheit der Öffentlichkeit im Sitzungssaal ist.

Zeuge Detlef Fendt

Als zweiter Zeuge und Betroffener sagte Detlef Fendt, ein jahrzehntelang aktiver IG Metall-Gewerkschafter, aus. Fendts Auto wurde am 28. Januar 2017 Ziel eines Brandanschlags. Auch er begann wie zuvor Ferat Koçak seine Zeugenaussage mit einer einleitenden Bemerkung. So berichtete er, dass er sich im Zusammenhang mit den Wahlen 2016 zum Berliner Abgeordnetenhaus regelmäßig an Kundgebungen gegen NPD und AfD beteiligte. Auch etwa zwei Wochen vor der Wahl beteiligte er sich mit anderen Gewerkschafter*innen an solch einer Kundgebung gegen eine Wahlkampfaktion der NPD in Südneukölln. Nachdem die Aktionen gegen die Neonazis beendet waren, stieg er in sein Auto, welches er in unmittelbarer Nähe der Kundgebung geparkt hatte. Fendt vermutet, dass sein Fahrzeug in diesem Zusammenhang in Neonazi-Kreisen bekannt wurde.

Am 28. Januar im darauffolgenden Jahr kam es dann zum besagten Brandanschlag auf sein Auto, der auch Gegenstand des Untersuchungsausschusses zum Neukölln-Komplex ist. Sein Nachbar habe ihn in der Nacht auf den 28. Januar geweckt und ihm erklärt, dass sein Auto brennen würde. Ein Polizist habe ihm noch in der Tatnacht gesagt, so Fendt, dass er sich nicht wundern müsse, dass solch ein Auto angesteckt würde. Fendt vermutet, dass damit ein Aufkleber der IG Metall gemeint gewesen sein könnte, der hinten am Wagen angebracht war. Am Morgen danach seien zwei LKA-Beamte zu ihm nach Hause gekommen und hätten ihn „ganz komisch befragt“. Zunächst hätten sie die Versicherung seines Beinahe-Oldtimers sehen wollen, dann gefragt, seit wann er NPD-Versammlungen „störe“. Fendt dazu gegenüber dem Ausschuss: „Das fand ich ein bisschen komisch in dem Zusammenhang.“

Nach dem Anschlag gab es teils große Solidarität mit ihm. Kolleg*innen der Gewerkschaften und demokratische Parteien organisierten, so Fendt, Solidaritätsveranstaltungen. Kinder aus der Nachbarschaft hätten ihm die Autos ihrer Väter angeboten, da er nach dem Anschlag ja erst einmal keines mehr hatte. Jedoch würde er, so berichtete Fendt weiter, seit dem Anschlag nicht mehr so unbefangen leben, immer genau schauen, wo er entlanggehe, und sehr aufmerksam sein. Auch seine Kinder und Enkel hätten aus Angst nicht mehr bei ihm übernachten wollen. Auf die Frage des Linken-Abgeordneten Schrader, was er denke, wann die Angriffe im Zusammenhang mit dem Neukölln-Komplex begonnen hätten, antwortete Fendt: „Na, vor über 10 Jahren, zum Beispiel die Geschichte von Frau Schott“

Der Zeuge Fendt bezieht sich in seiner Aussage hier auf die Angriffe auf Christiane Schott, die in der Hufeisensiedlung lebte und seit 2011 – nachdem sie dagegen protestiert hatte, dass Neonazis ihr NPD-Wahlwerbung in den Briefkasten steckten – Ziel von rechten Anschlägen wurde. So wurde der Briefkasten an ihrem Haus gesprengt, es wurden Drohungen geschmiert und sogar Steine durch die Fensterscheiben geworfen. Insgesamt zehn Mal attackierten Neonazis das Haus von Christiane Schott. Woraufhin sie die Bürgerinitiative „Hufeisern gegen Rechts“ mitgründete. Diese Initiative, der auch Fendt angehört, organisierte Mahnwachen und Demonstrationen, um den rechten Angriffen etwas entgegenzusetzen (Externer Link: Bericht bei RBB24).

Weiter sagte der Zeuge Detlef Fendt aus, dass auch er schon vor dem Brandanschlag auf sein Auto Drohungen erhalten habe in Form von Nazi-Aufklebern auf seinem Gartentor. Und genauso wie andere, würde er die Angriffe deshalb eindeutig als Terror bezeichnen, so Fendt auf Nachfrage des Grünen-Abgeordneten Schulze. Fendt: „Und ich sage auch, dass es bei den Angriffen nicht direkt nur um mich geht, sondern das ist eine Einschüchterung auch der Bevölkerung ringsherum: So ergeht es euch, wenn ihr euch wehrt. Es sind ständige Nadelstiche und die Ansage: Wir sind noch da. Es ist latent.“ Zum Abschluss machte der Zeuge Fendt klar, dass wenn man die Angriffe als das benennen würde, was sie seien, nämlich Terror, „dann schützt mich der Staat nicht vor Terror“. Wenn Menschen auftreten und öffentlich Rassismus und Antisemitismus verbreiten, müsse man sich selbst dagegen stellen: „Da braucht man Zivilgesellschaft, das muss man selber machen.“ Es sei wie in der Gewerkschaft: „Die Gewerkschaft bist du.“ Dann zitierte er aus dem Text der Internationalen: „Es rettet uns kein höheres Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun.“

Der Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex wird am Freitag, den 30. September, um 10 Uhr fortgesetzt.