Protokoll 2. Verhandlungstag – 14. Mai 2013

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Die unerwartete Verlesung der Anklageschrift am Nachmittag des heutigen Verhandlungstages ist eine dringend notwendige Zäsur. Nach dem Hickhack um das Presse-Akkreditierungsverfahren, nach stundenlangem Verlesen von Anträgen der Verteidigung von Zschäpe und am ersten und zunächst auch am zweiten Verhandlungstag, standen zum ersten Mal die Taten des NSU wieder im Mittelpunkt. Und eine Nebenbemerkung des Vorsitzenden Richters hatte es in sich: Er deutete an, dass bei einer Zunahme der Zahl der Nebenkläger_innen der Tatkomplex Keupstraße vom Verfahren abgetrennt werden könnte.

 
Im Publikum ziehen Neonazis auch beim zweiten Verhandlungstag im NSU-Prozess wieder die Aufmerksamkeit auf sich. Dieses Mal hat es Maik E., der Zwillingsbruder des Angeklagten André E., schon zu Prozessbeginn geschafft, in den Saal zu kommen. Schon gegen 6.30 Uhr hatte er sich am Gericht angestellt. Angereist ist er gemeinsam mit dem wegen Sprengstoffdelikten verurteilten ehemaligen Aktivisten der inzwischen verbotenen Kameradschaft Aachener Land (KAL) Daniel Thönnessen. Thönessen lebt mittlerweile in München. Als gegen 9.25 Uhr die Angeklagten G., S. und E. in den Saal kommen, zeigt sich, dass die beiden Brüder heute im Zwillingslook auftreten. Maik und André E. tragen Lederweste, Zimmermannshose und schwarze Shirts mit weißem Aufdruck der Band AC/DC. Das Outfit ist wohl nicht zufällig gewählt: Der charakteristische Blitz zwischen den beiden Bestandteilen des Bandnamens ähnelt einer Sig-Rune. Mehrfach nimmt Maik Blickkontakt auf mit seinem angeklagten Bruder, aber auch mit der Verteidigerin Ralf Wohllebens, Nicole . Um 9.45 Uhr betreten auch die beiden inhaftierten Angeklagten, Ralf Wohlleben und Beate Zschäpe, den Saal. Nachdem die anwesenden Fotograf_innen und Kamerateams ihre Aufnahmen gemacht haben, betritt um 9.50 Uhr der Senat den Saal.

Zuerst wird vom Vorsitzenden Götzl die Anwesenheit festgestellt. Währenddessen bittet Nebenklage-Vertreter Rechtsanwalt Thomas Bliwier darum, dass ihm unmittelbar nach der Präsenzfeststellung das Wort erteilt wird. Dann ergreift jedoch zunächst RA , Verteidiger von Zschäpe, das Wort. Er erinnert daran, dass er zum Ende des ersten Verhandlungstages weitere Anträge angekündigt habe, die er zu Beginn des heutigen Tages stellen wolle und ihm von daher das Wort zu erteilen sei. Genau darauf bezieht sich Bliwier, der feststellt, dass Heer zum Ende des letzten Verhandlungstages angekündigt habe, eben keine unaufschiebbaren Anträge zu stellen. Daher sei das Gericht nun gehalten, dafür zu sorgen, dass die Anklage schnellstmöglich verlesen wird. Dem widerspricht Heer. Es gehe in seinem Antrag immerhin darum, dass der Saal A101 nicht dafür geeignet sei, das Verfahren ordnungsgemäß durchzuführen. Auch Wohllebens Verteidiger_innen kündigen Anträge an, nämlich einen Aussetzungs- und einen Einstellungsantrag. Es entspinnt sich ein Streitgespräch zwischen RA Heer und Götzl, in dem es darum geht, wie wem das Wort erteilt wird und wie das Gericht mit Heers Anträgen umzugehen hat. Danach erteilt Götzl RA Bliwier das Wort. Bliwier verliest seinen Schriftsatz: Die Anträge der Verteidigung seien keineswegs unaufschiebbar, sie könnten hinter die Verlesung der Klageschrift verschoben werden. Es sei darüberhinaus klar: „Herrn Wohllebens Verteidigung möchte die Verlesung der Klageschrift möglichst verhindern.“ RA , Verteidiger von Wohlleben, verlangt eine viertelstündige Unterbrechung, um den verlesenen Antrag selbst lesen zu können. Klemke wehrt sich gegen die von Bliwier vorgebrachten Vorwürfe. Der Nebenklage ginge es darum, die Verteidigung mundtot zu machen: „Offensichtlich sind noch nicht genug Kanzleischeiben eingeworfen worden.“ Bei der Kanzlei Klemkes in Cottbus waren vergangene Woche die Scheiben eingeschmissen worden. Die Vertreter_innen des Generalbundesanwalts schließen sich dem Antrag, die Anklage zu verlesen, an. Bundesanwalt Diemer: „Der Einfallsreichtum der Verteidigung ist offenbar unerschöpflich.“ Um 10.20 Uhr unterbricht Götzl die Verhandlung zum ersten Mal. Während der Unterbrechung wird Ralf Wohlleben wegen „medizinischer Probleme“ (Schneiders) kurz behandelt, kommt aber schnell wieder in den Saal.

Kurz nach 11 Uhr geht es weiter. Götzl erteilt Heer das Wort, damit dieser seinen Antrag verlesen kann. Er beantragt das Hauptverfahren auszusetzen und in einem Saal „mit mehr räumlicher Kapazität und einer für die Bedeutung des Verfahrens angemessenen Öffentlichkeit“ fortzusetzen. Hilfsweise beantragt er unter anderem das Verfahren für mindestens zwei Tage zu unterbrechen und Einsicht in sämtliche Akten zum zweiten Akkreditierungsverfahren zu bekommen.

Zur Begründung führt Heer an:  Der Raum sei zu klein, um die Öffentlichkeit zu gewährleisten. Statt des Verhandlungsortes München hätte man sich etwa für den ehemaligen Sitz des Bundestages in Bonn, das heutige World Conference Center, entscheiden können. Von der Empore sei der Saal nicht adäquat einsehbar. Der Saal bliebe überhaupt nur dann geeignet, wenn nicht noch mehr Nebenkläger_innen dazu kommen, dies sei jedoch abzusehen. Die Zeug_innen könnten nicht von überall gesehen werden. Insbesondere die „nonverbalen Regungen“ der Zeug_innen seien etwa für die Nebenklage nicht wahrnehmbar. Ursprünglich sei geplant gewesen, die jeweils sprechende Person zur besseren Sichtbarkeit auf die Leinwände an den Wänden zu projizieren. Darauf wurde aber bisher zugunsten einer Totalen verzichtet. Zudem könnten Teile des Gerichts die Unterlagen auf seinem Tisch lesen. Darüber hinaus verlangt Heer Einsicht in die Unterlagen zum zweiten Akkreditierungsverfahren, da auch dieses offenbar fehlerhaft gewesen sei. Diese Einsicht wurde den Verteidiger_innen gewährt, allerdings hat Heer offenbar noch keine Zeit gefunden, die Akten einzusehen.

In der Folge entwickelt sich eine längere Auseinandersetzung um den Antrag. Nebenklage-Vertreter RA Scharmer stellt zum Beispiel fest, dass zwar auch er den Raum anfangs für zu klein hielt, aber: „Meiner Mandantin ist es wichtiger, dass das Verfahren jetzt beginnt.“ Immerhin seien jetzt schon nur noch sieben Nebenkläger_innen persönlich anwesend. Schneiders schließt sich für Wohlleben dem Antrag der Zschäpe-Verteidiger_innen an.

Um 11.50 Uhr wird die Verhandlung für die Mittagspause unterbrochen.

Nach der Pause, gegen 13.40 Uhr, nimmt noch einmal Nebenklage-Vertreter RA Mohammed zum Antrag von Heer Stellung: „Es drängt sich der Verdacht der Prozessverschleppungsabsicht auf.“ Nun erwägt Götzl Möglichkeiten, die von Heer aufgeworfenen Probleme schnell zu lösen. Die beiden betroffenen Richterinnen hätten versichert, sie könnten keine Einsicht in Heers Akten nehmen, im Zweifel könne Heer sich jedoch zum Beispiel an die hinter ihm liegende Bank neben die RAin Schneiders setzen. Heer: „Ich werde sicher nicht an den Katzentisch gehen.“ Es folgt eine der für den heutigen Verhandlungstag typischen Auseinandersetzungen zwischen Götzl und Heer, diesmal um die Verwendung des Begriffs „Katzentisch“ und auch wieder darum, wer gerade das Wort hat bzw. wer wen unterbrochen habe. Götzl fragt dann die Nebenklage, ob es Einwände gegen die vergrößerte Projektion der jeweils Sprechenden aus dem Nebenklage-Bereich gebe. Die anwesenden Nebenkläger_innen und die meisten Nebenklage-Vertreter_innen sind einverstanden, können jedoch nicht in allen Fällen für ihre Mandantschaft sprechen. Ab diesem Zeitpunkt werden die sprechenden Personen vergrößert auf die Leinwände projiziert. Es folgen Stellungnahmen der Bundesanwaltschaft und einiger Nebenklage-Vertreter_innen zum Antrag von Heer. Gegen 14.15 Uhr unterbricht Götzl die Verhandlung erneut. Nach der Unterbrechung verkündet er, dass der Senat Heers Antrag zurückweist. Die Öffentlichkeit sei hinreichend gewährleistet. Die Unterbrechung der Hauptverhandlung wird ebenso zurückgewiesen. Zur „Abstimmung des weiteren weiteren prozessualen Vorgehens“ verlangt Heer eine Abschrift des Beschlusses und eine weitere Pause, die um 14.30 Uhr gewährt wird.

Nach der Unterbrechung reagiert Heer mit einer Gegenvorstellung gegen den soeben verkündeten Beschluss. Der Beschluss sei nicht begründet gewesen. Daher beantragt er eine weitere Unterbrechung. Sein Kollege Stahl geht erneut auf die Zahl der Nebenkläger_innen, vor allem aus dem Tatkomplex Nagelbombenanschlag in der Keupstraße, ein. Es sei zu erwarten, dass „wenn sich 30, gar 60 Nebenkläger der Klage anschließen werden, die Saalkapazität das hier nicht mehr trägt.“

Heer will noch mindestens einen weiteren Antrag auf Aussetzung des Verfahrens stellen, in dem es um die Besetzung von Vertretern der Bundesanwaltschaft geht. Nach kurzem Wortgefecht und anschließender Beratungspause wird die Anordnung des Vorsitzenden, Rechtsanwalt Heer das Wort nicht zu erteilen, vom Senat bestätigt.

Aus dem Stand fängt Götzl an, die Angeklagten nach Angaben zur Person zu befragen. Die als erste angesprochene Beate Zschäpe antwortet ihm nicht. Heer springt ihr bei und sagt: „Meine Mandantin wird keine Angaben zur Person machen.“ Also verliest Götzl ihre Daten aus der Klageschrift. Auch André E. ist wortkarg. Nach der Bestätigung von Namen, Familienstand und Wohnort sagt er in breitem Sächsisch: „Zu mehr werde ich mich nicht äußern.“ Bei den weiteren Angeklagten fragt Götzl gar nicht mehr, sondern lässt sich nur noch die Angaben aus der Klageschrift bestätigen.

Um 15.37 Uhr beginnt endlich die Verlesung der Anklagepunkte durch Bundesanwalt Dr. Diemer. Zum ersten Mal werden im Verfahren die Taten des NSU und die Unterstützungsleitungen der Angeklagten Wohlleben, G., S. und E. benannt. Diemer nennt die Namen der Opfer und legt die Brutalität der Mörder offen. Nicht nur im Publikum und bei der Nebenklage, auch bei den Angeklagten wird es merklich ruhiger.

Götzl weist danach die Verfahrensbeteiligten noch einmal darauf hin, dass der Nagelbombenanschlag in der Keupstraße als versuchter Mord in 31 Fällen gewertet werden könnte. Heer beantragt eine Unterbrechung, die bis 17.10 Uhr gewährt wird.

Nach der Pause fügt Götzl eine Nebenbemerkung an, die es allerdings in sich hat: „Eine nennenswerte Erhöhung der Anzahl der Nebenkläger ist nur hinsichtlich Keupstraße zu erwarten. Zumindest an eine Abtrennung Keupstraße und eine getrennte Verhandlung ist zu denken. Bitte das in aller Ruhe überlegen und morgen dazu Stellung nehmen.“

Es folgt noch eine Stunde zäher Besetzungsrügen zuerst durch Wohllebens Anwalt Klemke und dann durch Zschäpes Anwältin . Dabei geht es darum, dass die beteiligte Richterin Fischer zwischenzeitlich zur Richterin am Bundesgerichtshof ernannt wurde. Dafür ist Richter Peter Prechsl als Ergänzungsrichter benannt, obwohl laut Klemke Richter Hertel hätte nachrücken müssen. Sturm moniert unter anderem, dass über die Präsidiumssitzung, bei der über die Benennung entschieden wurde, keine Dokumentation geführt wurde.

Nach Stellungnahmen der Nebenklage zu den Besetzungsrügen endet der Verhandlungstag um 18.10 Uhr.

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