Protokoll 5. Verhandlungstag – 4. Juni 2013

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Die neue Verhandlungswoche beginnt wieder mit Anträgen der Verteidigungen auf Einstellung oder Aussetzung des Verfahrens aus verschiedenen Gründen – sie werden alle abgelehnt. Am Nachmittag folgt dann die erwartete Aussage vom Angeklagten Carsten S., der vor allem Biografisches und Details zu seinem Ein- und Ausstieg in die rechte Szene insbesondere in Bezug auf seine sexuelle Identität berichtet. Auch die Übergabe der Ceska  an das Trio beschreibt er, doch zu den Gründen und Konsequenzen kann er nicht viel sagen. Weiterhin unklar ist, wie ein Mensch eine Waffe mit Schalldämpfer an andere Neonazis übergeben kann in dem Glauben, dass „damit nichts Schlimmes passieren wird.“

 

Gegen 9.45 Uhr betreten die Angeklagten den Raum. Carsten S. und Holger G. verbergen sich, wie gehabt, vor den Kameras. Kurz danach kommt das Gericht in den Saal. Nach der Präsenzfeststellung – für den Verteidiger von André E. Rechtsanwalt Freitag ist RA Hedrich als Vertreter anwesend – verliest der Vorsitzende Richter Beschlüsse des Senats.

Der Antrag der Verteidigung von Beate Zschäpe auf Aussetzung des Verfahrens und hilfsweise Unterbrechung wird abgelehnt. Hintergrund dieses Antrag war die angeblich mangelnde Einsicht in die Protokolle der NSU-Untersuchungsausschüsse. Eine Unterbrechung sei „nicht veranlasst“, so Götzl. Die Verteidigung habe genug Zeit gehabt, um Einsicht in die Protokolle zu nehmen.

Ebenfalls abgelehnt wird der Antrag der Verteidigung Zschäpe auf Beiziehung der Akten der von den Landesstaatsanwaltschaften übernommenen Verfahren im NSU-Komplex. Die Akten seien beim Generalbundesanwalt  einsehbar, die Verteidigung von Beate Zschäpe habe dies nicht genutzt, im Gegensatz etwa zu einzelnen Nebenklage-Vertreter_innen. Nicht explizit für das hiesige Verfahren entstandene Akten beträfen auch die Rechte anderer Personen und seien nur dann beizuziehen, wenn sie für das laufende Verfahren relevant seien. Die Bundesanwaltschaft habe bekundet, dass die für das Verfahren relevanten Akten bereits beigezogen worden seien. Wenn weitere Akten als relevant angesehen würden, könne das die Angeklagte beantragen, was bisher nicht passiert sei.

Der Antrag von Nicole Schneiders, Verteidigerin von Ralf Wohlleben, auf Aussetzung wegen unvollständiger Akteneinsicht wird abgelehnt. Die Akten seien vollständig einsehbar. Die als fehlend bemängelten Aktenbestandteile etwa zur Stellsituation von Beate Zschäpe in Jena seien dokumentiert. Auch Fotografien und Asservate seien im Zweifel im Original einsehbar. Zu den Akten über einen „Mehmet“, der laut Presse vor der Selbstenttarnung des NSU gesagt habe, er könne die Ermittler zur Tatwaffe Ceska führen, und über Mevlüt Kar, zu dem es in der Presse hieß, er sei am Tatort des Mordes an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn gewesen, gebe es laut Bundesanwaltschaft keine Bezüge zu den Angeklagten. Die Akten seien aber im Zweifel bei der Bundesanwaltschaft einsehbar. Hier hatte sich Schneiders auf längst als falsch Erwiesenes bezogen, das aber in verschwörungstheoretischen Kreisen zirkuliert.

Im Folgenden wird auch der Antrag von Rechtsanwältin Schneiders, Verteidigerin von Ralf Wohlleben, auf Einstellung des Verfahrens gegen ihren Mandanten wegen angeblicher „medialer und politischer Vorverurteilung“ abgelehnt. Götzl: „Es gibt keine Anzeichen, dass die Durchführung eines fairen und rechtsstaatlichen Verfahrens nicht gegeben ist.“ Die Argumente der Verteidigung Wohlleben seien abstrakt, blieben „theoretischen Überlegungen verhaftet“ und böten keine nachvollziehbaren Anhaltspunkte, dass eine Beeinflussung des Senates gegeben sei.

Schließlich wird auch noch der Antrag von RA Stahl, Verteidiger von Zschäpe, auf Ablösung der Vertreter_innen der Bundesanwaltschaft Diemer und Greger abgelehnt. Eine Ablösung der Staatsanwaltschaft sei mit einer solchen Begründung nicht vorgesehen. Das beanstandete Verhalten eines Staatsanwaltes müsse so gravierend sein, dass ein faires Verfahren nicht mehr gegeben sein kann. Dadurch, dass die Akten der Landesstaatsanwaltschaften nicht hinzugezogen wurden und durch subjektive Äußerung der Oberstaatsanwältin beim BGH Greger über das Auftreten Beate Zschäpes sei keine „schwere und nachhaltige Verletzung der Objektivität gegeben“.

Außerdem weist Götzl darauf hin, dass er die Untersuchungsausschüsse angeschrieben habe, mit der Frage, ob eine bessere Einsicht in deren Akten möglich sei.

Es folgt ein Antrag auf Einstellung des Verfahrens, den Rechtsanwältin Sturm, Verteidigerin von Zschäpe, verliest. Es sei ein „unheilbares Verfahrenshindernis“ entstanden. Sie nennt drei Punkte.

Erstens habe es eine Vorverurteilung ihrer Mandantin gegeben, die Unschuldsvermutung werde verletzt. Diese macht sie jedoch, vermutlich um sich vom bereits abgelehnten Antrag der Verteidigung Wohlleben abzugrenzen, explizit nicht an den Medien fest, sondern an Äußerungen der Strafverfolgungsbehörden und von Politiker_innen in ihrer Funktion als Vertreter staatlicher Organe.
Von der Generalbundesanwaltschaft, aber auch vom Präsidenten des Bundeskriminalamtes Ziercke habe es Äußerungen gegeben, in denen Zschäpe bereits vor der Hauptverhandlung, die das erst klären soll, als Mitglied des NSU oder eines „Terrortrios“ bezeichnet wurde. Das Wort „mutmaßlich“ habe dabei gefehlt. Es sei in der Folge auch zu vorverurteilenden Ermittlungen durch Polizeibeamte gekommen, wenn Zeugen etwa gefragt worden seien: „Sind Ihnen die Personen oder die Mitglieder des Terrortrios vom Sehen aus den Medien bekannt?“ Es folgen diverse Zitate von Politiker_innen, die in ihrer Funktion ebenfalls vorverurteilende Formulierungen benutzt hätten, so zum Beispiel von den „Mitgliedern des Terrortrios“ gesprochen und das Wort „mutmaßlich“ vergessen  hätten. Im Zusammenhang mit diesen Vorverurteilungen seien Zeug_innen, insbesondere Kriminalbeamt_innen, unter dem Druck, etwas zu der Verurteilung der Mandantin beizutragen. Dabei bezieht sie sich unter anderem auf Äußerungen des Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt, es gebe einen Erfolgsdruck der Beamten die einmal gefällten Hypothesen der Vorgesetzten zu bestätigen aus einem Gespräch mit ihr am Rande einer TV-Sendung.
Zweitens seien viele V-Leute im Umfeld der Angeklagten eingesetzt gewesen. Darüber gebe es jedoch nur Informationen, die seitens der Verfasssungsschutzbehörden Restriktionen unterlägen. Die Verteidigung könne sich so kein Bild über die V-Personen machen, die beispielsweise an der Organisation und Entwicklung des Thüringer Heimatschutzes (THS) beteiligt gewesen sind, aus dem Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos kommen.
Zuletzt weist sie auf die Aktenvernichtungen mehrerer Behörden hin. Es sei nicht mehr möglich, nachzuvollziehen, ob diese Akten für das Verfahren relevant gewesen sein könnten. Sie nennt auch eine „Unterdrückung“ weiterer möglicherweise relevanter Akten. Sie bezieht sich dabei etwa auf die Akten des Landesamtes für Verfassungsschutz Baden-Württemberg zur V-Person „Krokus“, die erst kürzlich dem Untersuchungsausschuss des Bundestags zur Verfügung gestellt worden sind.

Erneut bieten so die tatsächlichen Verstrickungen der Geheimdienste und Behörden in den NSU-Komplex der Verteidigung die Möglichkeit, ihre Mandant_innen zu entlasten oder dies zumindest zu versuchen.

Gegen 11.30 Uhr folgt die Mittagspause, in der die anderen Verfahrensbeteiligten ihre Stellungnahmen vorbereiten sollen.

Gegen 13.20 Uhr geht es weiter mit der Stellungnahme des Vertreters des Generalbundesanwalts Herbert Diemer. Dieser stellt fest, ein Verstoß gegen ein faires Verfahren bedinge nicht automatisch, sondern nur in Extremfällen, eine Einstellung. Selbst ein manipulatives Verhalten von Ermittlungsbeamten, so genannte „Machenschaften“, bedingten nicht automatisch eine Einstellung. Zudem sehe, wer die Akten wirklich kennt, dass der GBA immer die Unschuldsvermutung beachtet habe. Es habe nie eine unnötige Bloßstellung der Angeklagten gegeben. Begriffe wie “Terrortrio“ seien schlagwortartige Verkürzungen von komplexen Sachverhalten, die in der Kürze der Zeit berechtigt seien, wenn dabei die Unschuldsvermutung beachtet wird. Zu den V-Personen sagt er, im Zentrum der Ermittlungen des GBA stünden die vorgeworfenen Straftaten und die Beschuldigten, nichts anderes. Wenn Personen für die Schuldfrage relevant seien, würden sie vernommen. Alles Weitere sei Spekulation. Zu den vernichteten Akten: Es würden keine Anhaltspunkte genannt, dass in den entsprechenden Akten Dinge gestanden haben, die für das Verfahren relevant sein könnten.

Mehrere Vertreter_innen der Nebenklage äußern sich und verlangen, den Antrag zurückzuweisen. Die Darstellungen von Sturm seien eher Beweisanregungen. Die Behauptungen wären in der Hauptverhandlung aufzuklären. Ermittlungsdruck liege in der Natur der Sache. Die Frage danach, so Rechtsanwältin Lunnebach, ob der NSU mehr war als ein Trio, „etwas viel Größeres und Gefährlicheres vielleicht“, sei in der Hauptverhandlung aufzuklären.

RA Olaf Klemke schließt sich für die Verteidigung Wohlleben dem Antrag von RAin Sturm an.

Es folgt ein Antrag von RA Kienzle, Nebenklage-Vertreter für die Familie von Halit Yozgat, der am 6. April 2006 in Kassel ermordet wurde. Er beantragt, dass Gericht möge feststellen, ob sich im Saal Beamte des BKA, der Landeskriminalämter oder der Verfassungsschutzämter befinden, ob der Auftrag möglicher Prozessbeobachter von Behörden in einem auf die Inhalte der Beweisaufnahme gerichteten Transfer von Informationen in die Behörden zurück bestehe und gegebenenfalls den Ausschluss dieser Prozessbeobachter veranlassen. Hintergrund sind Äußerungen des BKA, es werde in Absprache mit der Bundesanwaltschaft solche Beobachter entsenden. Dies könne zu einer Beeinflussung von Zeug_innen aus den jeweiligen Behörden, etwa noch zu hörenden Kriminalbeamt_innen, führen, was zu verhindern sei.

Götzl sagt dazu: „Ich gebe bekannt, dass sich bei mir keine solchen Beobachter angemeldet haben.“ Kienzle fragt nach, ob er Bescheid gebe, wenn dies doch passiere. Götzl: „Sie kriegen doch von mir alles zur Stellungnahme, oder?“ Die Verteidiger_innen von Zschäpe sowie von Wohlleben schließen sich dem Antrag an. Götzl fragt in Richtung Besucherempore, ob solche Prozessbeobachter anwesend seien. Niemand meldet sich.

Gegen 13.50 Uhr gibt es die nächste Pause, um 14.20 Uhr geht es weiter.

RAin Sturm beantragt ergänzend, dass die betreffenden Behörden förmlich um Auskunft ersucht werden. RA Heer möchte, dass auch zu Beginn jedes Tages danach ins Publikum gefragt wird. Götzl meint, die Anträge hätten sich für heute erledigt. RA Heer beantragt jedoch eine sofortige Entscheidung, die Frage ans Publikum reiche nicht aus. Es gibt eine weitere Unterbrechung von 20 Minuten. Götzl verfügt dann: Die Anträge werden abgelehnt. RA Heer beanstandet dies, beantragt eine Entscheidung des Gerichts. Es folgt nach einer weiteren Unterbrechung der Beschluss: Die Verfügung von Götzl wird bestätigt. Der Öffentlichkeitsgrundsatz ließe das nicht zu. Es gebe keine Anhaltspunkte für eine Zeugenbeeinflussung, die Angaben zum Verhalten der Beobachter_innen seien reine Vermutungen.

Nun bahnt sich langsam die Einlassung des ersten Angeklagten an. Carsten S. wird sprechen. Zuvor jedoch stellt RA Heer noch den Antrag, dass die Aussagen von Carsten S und Holger G. wörtlich protokolliert werden, da sie besonders wichtige Aussagen im Hinblick auf die Schuldfrage auch seiner Mandantin seien. Es komme dabei nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf den Wortlaut an. Götzl lehnt den Antrag in einer Verfügung ab, es komme nicht auf den Wortlaut an. Die Verteidigung Zschäpe verlangt einen Senatsbeschluss. Ebenso die Verteidigung Wohlleben. Es folgt um 15.30 Uhr eine zehnminütige Pause. Im Anschluss wird der Beschluss verkündet, dass die Verfügung Götzls bestätigt wird. Danach folgt mit der Einlassung des Angeklagten Carsten S. die erste Aussage in diesem Prozess. S. berichtet zunächst vor allem eigenständig. Richter Götzl fragt lediglich nach.

Zunächst geht es um die Biografie von S. und seine Lebensumstände. S. ist 1980 in Neu-Delhi geboren, wo sein Vater zeitweise arbeitete, lebte zwischendurch in Belgrad und kam dann mit vier Jahren nach Jena, zunächst in den Stadtteil Lobeda, dann nach Winzerla. Nach einer mäßigen Schulkarriere, die 1996 mit der Mittleren Reife endete, begann er zunächst eine Konditorlehre in Springe bei Hannover, die jedoch nach drei Monaten bereits wieder endete. Danach machte er bis 1999 in Thüringen eine Ausbildung zum KFZ-Lackierer. Nach deren Ende arbeitete er in Jena zunächst bei einer Leiharbeitsfirma. Dann holte er das Fachabitur nach und ging 2003 nach Nordrhein-Westfalen, um Sozialpädagogik zu studieren. Er wohnte zunächst in Hürth bei Köln, dann in Düsseldorf, wo er auch studierte. Dort arbeitete er ehrenamtlich im Schwulenreferat der Uni und der FH und später bei der AIDS-Hilfe. Bei der AIDS-Hilfe begann er auch zu arbeiten, außerdem bei einem schwul-lesbischen Jugendzentrum. 2009 machte er seinen Abschluss.
In seiner Aussage geht es neben dem Verhältnis zu seinen Eltern und zu seiner Schwester zunächst vor allem um seine nicht eingestandene Homosexualität. Ab dem 13. Lebensjahr habe er gemerkt, dass „etwas nicht stimmt“. Er habe das dann erst einmal als falsch wahrgenommen und verdrängt. Nach seiner von den Eltern erzwungenen Rückkehr aus Springe, wo er Freunde gefunden hatte, nach Jena, habe er das Thema Coming-out, über das er in Springe nachgedacht habe, wieder weggeschoben. Sein Coming-out sei im Sommer 2000 gewesen, zunächst nur gegenüber seiner Schwester und wenigen Freunden, niemandem jedoch aus der Nazi-Szene.

Dann geht es um seinen Einstieg in die Nazi-Szene. Er habe in seinem Lehrlingsheim in Eisenach jemanden kennengelernt, der Teil der Szene gewesen sei. Dort habe man etwa die „Zillertaler Türkenjäger“ gehört. Das sei sein frühester Kontakt gewesen. Ein weiter Kontakt sei nach seiner Rückkehr aus Springe Christian K. gewesen, ein ehemaliger Mitschüler und Bruder des im Zusammenhang mit dem NSU anderweitig verfolgten André K. Dann nennt er Teilnahmen an Naziaufmärschen, unter anderem am großen Aufmarsch gegen die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht“ im März 1997 in München. Die hab ihn sehr beeindruckt. Da sei der Kontakt in die Szene jedoch noch nicht so stark gewesen. Ende des Jahres 1997 habe er dann Christian K. wieder getroffen und auch André K. sowie weitere Neonazis kennengelernt. An einen Kongress der Jungen Nationaldemokraten (JN) in Fürth am Wald am 18. Oktober 1997 kann er sich erinnern. Er habe Anschluss gefunden und sich auch entsprechende Kleidung im „Madley“-Laden in Jena besorgt. Er sei dann recht schnell „aufgestiegen“. Zunächst 1999 zum stellvertretenden Vorsitzenden des NPD-Kreisverbandes Jena unter Ralf Wohlleben, dann zum Stützpunktleiter der JN, im Februar 2000 zum stellvertretenden JN-Bundesgeschäftsführer und Mitte 2000 schließlich zum stellvertretenden JN-Vorsitzenden in Thüringen. Dabei habe er sich dagegen gewehrt, erster Vorsitzender zu werden.

Beate Zschäpe (5. von rechts, hinter grüner Bomberjacke) auf einem NPD-Aufmarsch in Erfurt am 17. Januar 1998.

Beate Zschäpe (5. von rechts, hinter grüner Bomberjacke) auf einem NPD-Aufmarsch in Erfurt am 17. Januar 1998.

Seinen Ausstieg stellt er in einen Zusammenhang mit einem möglichen Coming-out. Zweifel seien bereits 1999 aufgekommen. Stärker wurden die Zweifel im August 2000, als er wegen der anstehenden Rudolf-Hess-Aktionswochen für zehn Tage in Unterbindungsgewahrsam kam. Er schildert, dass er nach der Entlassung zu Wohlleben ging, der ihn verspottete, warum er sich habe schnappen lassen. Der „letzte Meilenstein“ sei eine weitere Äußerung Wohllebens gewesen. Dieser habe gesagt: „Mich würde es ankotzen, wenn jemand über mich sagen würde, dass ich schwul wäre.“ Das sei vielleicht ein Zufallstreffer gewesen. Jedenfalls habe S. da gemerkt: „Das sind nicht meine Leute.“ Im September 2000 habe er Wohlleben, K. und Jugendlichen aus der JN seinen Austritt verkündet. Dennoch sei er noch zu zwei Veranstaltungen der Nazi-Szene gefahren, wohl aus Pflichtgefühl gegenüber „seinen Jugendlichen“. Er rekonstruiert die Teilnahme an einer JN-Regionalkonferenz in Sachsen-Anhalt aus einer Akte zum Verfahren, die er gelesen hat.

Immer wieder stützt er sich auf Akten, versucht, seine Erinnerung etwa durch Fotos oder Videos im Netz aufzufrischen. Er zeigt sich sichtlich bemüht, seine Erinnerungen abzusichern. Das wirkt glaubhaft. Zugleich beruft er sich jedoch auffallend häufig auf Erinnerungslücken bzw. -ungenauigkeiten, was seine eigene Rolle angeht. Seine Karriere in NPD und JN etwa stellt er so dar, als seien ihm die Ämter weitgehend zugefallen. Er kann sich weder erinnern, irgendwo als Redner aufgetreten zu sein, noch, ob er sich selbst für seine Ämter empfohlen hat. An Aktivitäten erinnert er sich überhaupt kaum. Seine Rolle als Funktionär bleibt so weitgehend nebulös.

Mit Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe habe er vor deren Untertauchen dreimal Kontakt gehabt. Einmal in der Wohnung von Beate Zschäpe, wo auch einer der Uwes anwesend gewesen sei. Dann in einem Jugendclub und schließlich bei ihm selbst zuhause. Außerdem sei wohl einer der Uwes bei der Demonstration in München dabei gewesen. Und er selbst sei offenbar bei einem Aufmarsch in Erfurt 17. Januar 1998 gewesen, wo auch Beate Zschäpe gewesen sei. Dies habe er anhand eines Tagesthemen-Videos im Netz rekonstruiert, in dem Bilder von diesem Aufmarsch zu sehen gewesen seien.

Der Kontakt nach dem Untertauchen sei durch Wohlleben zustande gekommen. Dieser habe S.  zusammen mit André K. gefragt, ob er helfen könne. Er solle den Kontakt zu Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe halten. Der Kontakt sei telefonisch gewesen. Die Untergetauchten hätten auf die Mailbox eines Handys gesprochen und ihn instruiert, an welcher Telefonzelle sie ihn zu welchem Zeitpunkt anrufen würden. Wenn nichts auf der Mailbox war, sei alles in Ordnung gewesen. Bei den ersten Telefonaten sei Wohlleben noch dabei gewesen, danach habe er ihn jedes Mal über den Gesprächsinhalt informieren müssen. Seiner Erinnerung nach waren immer oder zumindest meistens Mundlos und Böhnhardt am Telefon gewesen. Beide seien zu hören gewesen. Einmal sei auch Zschäpe am Apparat gewesen. Zeitlich ordnet er den Beginn der Unterstützungsarbeit ans Jahresende 1998 ein.

Er berichtet von einem Einbruch in Zschäpes Wohnung, den er zusammen mit Jürgen H. begangen habe, der Vernichtung der dort im Auftrag der Untergetauchten gestohlenen Unterlagen und von einem gemeinsam mit Wohlleben versuchten, aber gescheiterten Motorraddiebstahl für die Drei. Schließlich geht es auch um die Tatwaffe bei neun von zehn Morden, die Ceska 83. Etwa im März 2000 hätten die beiden Uwes eine Handfeuerwaffe möglichst deutschen Fabrikats und Munition verlangt. Er sei dann zu Wohlleben gegangen, der gesagt habe, er solle zu Andreas S., dem Betreiber des „Madley“-Ladens, gehen, der könne so etwas besorgen. Etwa eine Woche später hatte Andreas S. schon eine Waffe, allerdings die tschechische Ceska mit Schalldämpfer. Von Wohlleben sei das Okay gekommen und dann habe er die Waffe besorgt. Den Preis habe er nicht mehr sicher im Kopf. Jedenfalls habe er sie selbst wohl zwischengelagert, weil er sie ja auch auf Anweisung der Untergetauchten nach Chemnitz bringen sollte. Er habe sie jedoch zuvor zu Wohlleben gebracht, der sie begutachtet habe und den Schalldämpfer aufgeschraubt habe. Er könne sich genau an die Lederhandschuhe erinnern, die dieser dabei getragen habe. Die Waffe habe er per Bahn nach Chemnitz gebracht. Mundlos und Böhnhardt hätten ihn am Bahnhof abgeholt. Einer von beiden habe ihm gesagt, dass er den ACAB-Pulli (ACAB = „All Cops are Bastards“) ausziehen solle. Das sei zu auffällig. Danach seien sie gemeinsam in ein Café gegangen. Da sei auch Zschäpe hinzugekommen. Dabei sei es um die Unterzeichnung anwaltlicher Vollmachten gegangen, die S. entgegen nehmen sollte. Nach ihrer Unterschrift sei sie wieder gegangen. Danach hätten Mundlos und Böhnhardt ihn mit in ein eine Art Abbruchhaus genommen, wo die Übergabe der Waffe stattgefunden habe. Einer der beiden habe den Schalldämpfer aufgeschraubt. Danach habe sie jemand gestört und sie seien gegangen. An konkrete Gespräche zur Waffe könne er sich nicht erinnern. „Der Herr Weingarten [Bundesanwaltschaft] hat mich das auch gefragt, aber da hab ich wohl gesagt ‚ganz normal‘.“

Wiederholt geht es um den Schalldämpfer der Waffe und ob ein solcher von den Untergetauchten verlangt gewesen sei. Daran kann sich S. nicht sicher erinnern. Er geht daher davon aus, dass vom Beschaffer der Waffe nichts anderes liefern konnte. Mundlos und Böhnhardt seinen jedenfalls seiner Erinnerung nach überrascht darüber gewesen. Ob er sich denn nicht überlegt habe, was die Drei mit der Waffe machen würden, fragt Götzl. Darauf antwortet S.: „Ich versuche das seit den Aussagen damals in Erinnerung zu bekommen, aber es ist– Ich hab halt irgendwie in Erinnerung, dass da nicht Schlimmes passieren wird. Ich hatte ein positives Gefühl mit den Drei, dass die in Ordnung wären, so in die Richtung.“

Zum Abschluss geht es noch einmal um die Vorgeschichte und ob S. gewusst habe, weswegen die Drei untergetaucht seien. Das habe er vor allem aus der Presse und dem Fernsehen erfahren, vielleicht aber auch von Wohlleben. Da sei er unsicher.

Um 18.36 Uhr schließt Richter Götzl die Sitzung.

Zum Abschluss des Verhandlungstages erklärt Rechtsanwalt Scharmer:

„Mit der Beweisaufnahme konnten wir nun anfangen. Der Beginn der Aussage von Carsten S. scheint bislang davon getragen, umfassende Angaben machen zu wollen, sich bei wesentlichen Fragen aber auf Erinnerungslücken zu berufen. Allerdings sehe ich die Tendenz, seine eigene Verhaftung in der Naziszene rückwirkend genauso wie seinen eigenen Tatbeitrag verharmlosen zu wollen. Vielmehr präsentiert er sich bislang selbst zum damaligen Zeitpunkt als untergeordnet und insbesondere von Wohlleben und anderen Führungsfiguren abhängig. Wir werden im weiteren Verlauf sehen müssen, ob diese Angaben ggf. auf Nachfragen relativiert werden können.“

Rechtsanwalt Stolle erklärt:

„Bisher haben wir nicht viel gehört oder nachfragen können. Es bestätigt sich der Eindruck aus der Ermittlungsakte, dass Carsten S. der Frage nach seiner ideologischen Einbindung in die rechte Szene eher ausweicht.“

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