„Der Ronny und der Steve“ – Bericht aus dem NSU-Verfahren

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Das Münchner Oberlandesgericht (OLG) und die Bundesanwält_innenschaft betreiben ein bürokratisches, entpolitisiertes Abarbeiten einzelner Tatvorwürfe. Obwohl die NSU-Morde nur allzu deutlich zeigen, wohin alltäglicher und struktureller Rassismus führen, soll es unvorstellbar bleiben, dass dafür die rassistische Grundstruktur der deutschen, wiedervereinigten Gesellschaft selbst verantwortlich ist.

Von Henriette Scharnhorst und Lukas Theune, zuerst erschienen in Forum Recht 3/14

Nach einer Nachtbusfahrt kommen wir am frühen Morgen in München an. Auf dem Weg zum OLG fallen uns die Überreste des bayrischen Kommunalwahlkampfes auf. „Bayern nur für Bayern“ oder „Blau-Weiß ist bunt genug“, heißt es da. Etwas irritiert und übermüdet schieben wir uns durch den morgendlichen Münchner Berufstrubel, erreichen schließlich die Nymphenburgerstraße 16 und stehen vor einem bunkerartigen, miefigen 50er-Jahre-Bau, vor dem ein großes Zelt für die Besucher_innen des NSU-Prozesses aufgebaut ist.

Hier müssen wir warten, bis wir eingelassen werden. Dann beginnt die Sicherheitsprozedur. Unsere Personalausweise werden fotokopiert, wir werden abgetastet und müssen dann alle unsere Sachen an die Wachtmeister_innen abgeben. Nur Stift und Papier dürfen wir mit hoch auf die Besucher_innentribüne nehmen. Diese ist von einer Glaswand umgeben. Tritt man an sie heran, um einen näheren Blick auf den Verhandlungssaal zu werfen, der unter einem liegt, wird man sofort von den vier Wachtmeister_innen zurückgepfiffen. Aber auch mit ordnungsgemäß eingehaltenem Sicherheitsabstand hat man von dort einen recht guten Überblick über den Gerichtssaal: Zunächst fällt der Blick auf das große, christliche Kreuz, dass über der Tür hängt, durch die die Verfahrensbeteiligten den Raum betreten. Dann bemerken wir, dass der Saal insgesamt überraschend klein ist. Die Verfahrensbeteiligten sitzen alle dicht gedrängt beieinander. Von der konfrontativen Aufteilung, wie man sie aus anderen Gerichtssälen kennt, keine Spur. Vorne sitzen – hinter ihnen eine Regalwand gefüllt mit Aktenordnern des Verfahrens – acht Richter_innen (davon drei Ergänzungsrichter_innen, falls eine_r der fünf Anderen ausfällt), rechts daneben vier Bundesanwält_innen (BAW) und schräg links davor die Angeklagten und ihre neun Verteidiger_innen. Ganz hinten, hinter dem Platz für die Zeug_innen und den Sachverständigen und unter der Zuschauer_innentribüne, haben die Nebenkläger_innen und ihre 62 Rechtsanwält_innen ihren Platz. Diese können die Zeug_innen nur von hinten sehen. Wenn sie reden, werden sie über zwei Leinwände an die Wand projiziert. Direkten Augenkontakt zwischen denen, die auch mal unbequeme Fragen stellen und den Zeug_innen gibt es daher nicht.

Wehrsportübungen, Fest der Völker – uninteressant

Für den 95. und 96. Verhandlungstag des Prozesses, an denen wir als Zuschauer_innen teilnehmen, wurden drei Zeugen geladen. Neben einem Bundeskriminalamt-Polizisten sollen André Kapke und Carsten Richter, zwei Zeugen aus dem Unterstützungsumfeld des NSU, vernommen werden.

André Kapke, der bereits zweimal zuvor von dem Gericht vernommen wurde, ist Jenaer Neonazi, Mitgründer des Thüringer Heimatschutzes (THS) und enger Freund und Begleiter von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe. Er fühlt sich im Gericht offensichtlich zu Hause, gibt sich selbstbewusst, patzig und versteht, den Ort auch für seine rassistische Propaganda zu nutzen. Mitgebracht hat er Rechtsanwalt Waldschmidt, der das widerliche Bild des Nazis Kapke als Zeugenbeistand im braunen Anzug unterstützt.

Ohne Widerworte erzählt Kapke, dass der THS ins Leben gerufen wurde, um in der „Kommunalpolitik“ Fuß zu fassen, dass er das Spiel „Pogromly“ ganz lustig fand, später auch, dass er grundsätzlich kein Problem mit Türken hätte, solange sie in der Türkei blieben. All dies bleibt so stehen. Gleichzeitig kann sich Kapke „tragischerweise“ nach einem Sturz auf den Kopf an vieles nicht mehr erinnern – „beim besten Willen nicht“, wie er immer wieder betont.

Mit dieser Amnesie hat es erst später ein Ende, als Kapke von Verteidiger Klemke nach seinen eigenen Opfererfahrungen befragt wird – da sprudelt es plötzlich aus ihm heraus, wie oft, wann und wo sein Auto angezündet, Reifen abgestochen und Fenster von „Linksextremisten“ eingehauen wurden. Während die Nebenklagevertreter_innen Kapke befragen, schmunzeln Angeklagte, Verteidigung und Zeugenbeistand einmütig, während ein Ergänzungsrichter und Vertreter_innen der BAW den Kopf schütteln, die Augen verdrehen oder schließen. Für sie sind Fragen nach Wehrsportübungen oder dem von Kapke ausgerichteten „Fest der Völker“ in Jena, auf dem Bands wie Block 11 (benannt nach dem Todestrakt in Auschwitz-Birkenau) spielten, völlig unerheblich, denn das erste Fest der Völker war ja 2005; da waren „die Drei“ doch schon „untergetaucht“.

Schokoriegel klauen, Menschen umbringen – gleichgültig

Beate Zschäpe sitzt derweil Gummibärchen kauend neben ihren Verteidiger_innen. In den Verhandlungspausen sieht man Small Talk in wechselnden Konstellationen, wobei sich alle ganz gut zu verstehen scheinen. Der Anwalt von Elif Kubaşik, Carsten Ilius, erzählt uns, dies sei symptomatisch. Vor allem die Bundesanwält_innenschaft fasse Nazizeug_innen mit Samthandschuhen an. Es habe sich bei den Nazis herumgesprochen, dass man in München lügen, rumdrucksen und sich nicht erinnern könne – bei alledem werde man schließlich von der BAW in Schutz genommen. Oben auf der Tribüne überwiegt bei Publikum und Presse die Meinung, „der Götzl“ mache seine schwierige Aufgabe „ganz gut“. Das Wichtigste sei doch, sagt uns ein Journalist dort oben, dass der Prozess in geordneten Bahnen verlaufe, die Beteiligung der Angeklagten geklärt werde und, vor allem, der Prozess nicht noch weiter ausufere.

Aufklärung und Erkenntnisse über gefestigte Nazistrukturen, weitreichende Unterstützungskreise, Hilfe durch Verfassungsschutz und Polizei, all dies sei nicht Gegenstand eines Strafverfahrens – man müsse sich doch auch „rechtsstaatlich“ gegenüber den Angeklagten verhalten. Ein anderer Zuschauer berichtet uns, dass viele da oben den Eindruck haben, Rechtsanwalt Klemke sei der heimliche Star des Verfahrens. Der Verteidiger von Wohlleben kenne die Strafprozessordnung (StPO) wohl besser als Götzl, werde gemunkelt. Ersterer versieht seinen Job als Naziverteidiger inklusive rassistischer Äußerungen und Herabwürdigungen der Opfer des NSU. Die Vernehmung des Zeugen Richter erschien zunächst nicht so ergiebig wie die des Obernazis Kapke, letztendlich wurden bei dieser Vernehmung jedoch die Struktur und Zielsetzung des Prozesses sowie die Rolle der Verfahrensbeteiligten für uns als Zuschauer_innen überdeutlich.

Carsten Richter war ein typischer Unterstützer, der 1998 eine Chemnitzer Wohnung für Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt angemietet hatte. Nachdem auch er mit der Ich-kann-mich-an-nichts-mehr-erinnern-Schiene begonnen hatte und sich Bundesanwältin Greger darauf beschränkt hatte, fünf Ja/Nein-Fragen zu stellen, mit deren entsprechender Beantwortung sie sich dann auch sogleich zufrieden gab, gelang es Götzl, und später vor allem der Nebenklage, den ehemaligen Berufssoldaten etwas aus der Reserve zu locken und sein Erinnerungsvermögen anzukurbeln. So konnte er sich schließlich doch noch entsinnen, sich bei der Anmietung mit Zschäpe als Paar ausgegeben zu haben und mit den Uwes über Computerspiele geredet zu haben. Waffen, nein, Waffen habe er nie gesehen.

Auf die Frage der Nebenklage, warum er denn die Wohnung angemietet habe, sagt er, dies sei aus Kameradschaft geschehen. Auf die sich anschließende Nachfrage des Nebenklagevertreters Alexander Hoffmann, zu wem er diese kameradschaftlichen Gefühle hegte, da er doch seiner vorherigen Aussage nach nur zwei Nazis in Chemnitz kannte, den „Ronny und den Steve“, ist die Antwort, „allgemein zur Szene eben“, das sei schließlich wie an der Front, wo man auch sein Leben füreinander lasse.

Die Nebenklagevertreterin Pinar fragt weiter, ob er gewusst habe, warum „die Drei“ aus Jena weg mussten? Das sei ihm egal gewesen, antwortet Richter, ob die in Jena „einen Schokoriegel geklaut oder Menschen umgebracht“ hätten, habe für ihn keine Rolle gespielt. Und was habe er sich dann 2011 gedacht, als der NSU öffentlich wurde? So in die Ecke gedrängt, bekommt er jedoch Hilfe von unerwarteter Seite. Bundesanwalt Diemer beanstandet die Frage: „Wir sind hier doch nicht das Jüngste Gericht!“

Was zu viel ist, ist zu viel – die Ruhe stören!

Endlich, so empfinden wir, kommt es zum Ausbruch der Nebenklageanwält_innen. Es sei ein Unding, wie zugelassen werde, dass Nazizeugen hier ungestraft herum lügen und die BAW mit solchen Beanstandungen mitten in der Befragung jegliche Aufklärung verhindere.

„Frau Pinar“, empört sich Götzl, „Sie sind ja eine temperamentvolle Frau, aber jetzt kommen Sie doch mal wieder zur Ruhe!“ Nach einer Pause erklärt die Nebenklage, dass sie auf weitere Fragen verzichte. Nachdem der Zeuge diesen Streit mitangehört habe, ist jegliche weitere Befragung sinnlos geworden. Am Ende des langen Prozesstages verlassen wir Gericht und Christenkreuz und laufen hinter André Eminger, einem der Angeklagten, her. Eminger läuft seelenruhig durch München, rauchend, um die Hüfte trägt er gut sichtbar seine Nazibauchtasche mit aufgedrucktem Schlagring…

Henriette Scharnhorst und Lukas Theune sind Referendar_innen in Berlin.