„Dieses Land gehört nicht den Mördern und nicht den Leuten, die durch ihre Arbeit die Mörder schützen.“*

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Veranstaltungshinweis: MORD IN ISTANBUL WEGEN «BELEIDIGUNG DES TÜRKENTUMS?

Diskussionsveranstaltung zum Mord an Hrant Dink mit den Rechtsanwälten Hakan Bakırcıoğlu und Carsten Ilius, Moderation: Özge Pınar Sarp (NSU-Watch)

19. März 2015 – 19:30
Tiyatrom, Alte Jakobstraße 12
10179 Berlin Mitte

 

Das Gerichtsverfahren gegen mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer des NSU vor dem Oberlandesgericht München dauert an. Begleitet wird dies von Diskussionen über institutionellen bzw. strukturellen Rassismus sowie offenen Fragen zur Rolle der Behörden im NSU-Komplex. Die Veranstaltungsreihe ”Insight NSU” greift jene offenen Fragen auf und setzt den NSU-Komplex in Bezug zu Erfahrungen aus anderen Ländern, um internationale Aspekte in die Diskussionen um den NSU-Prozess einfließen zu lassen. Auch wenn die Namen von den ermordeten Opfern und deren rassistischen Täter/innen anders lauten, so zeigen sich Parallelen hinsichtlich der aus rassistischen Motiven begangenen Morde und Hindernissen beim Ablauf der Aufklärung.

Der dritte Gast in dieser Reihe ist der Rechtsanwalt Hakan Bakırcıoğlu, Rechtsanwalt der Familie Hrant Dinks. NSU-Watch hat mit Hakan Bakırcıoğlu vor der Veranstaltung ein Interview geführt.

Sehr geehrter Herr Bakırcıoğlu, Sie haben an dem Gerichtsverfahren über den am 19. Januar 2007 in Istanbul vor dem Verlagshaus Agos ermordeten Hrant Dink als Rechtsanwalt seiner Familie bzw. als Anwalt der Nebenkläger_innen teilgenommen. Können Sie uns bitte den Ablauf der Ereignisse, die zum Tod von Hrant geführt hat, schildern?

Die Zeitung „Agos“, bei der Hrant Dink als Chefredakteur gearbeitet hat, schrieb am 6. Februar 2004 in einem Artikel, dass Sabiha Gökçen armenischer Abstammung gewesen sei. Einen Tag nach der Veröffentlichung des Artikels am 21. Februar 2004 wurde auf der Webseite des Generalstabs der Türkei eine Presseerklärung veröffentlicht. In dieser Presseerklärung wurden die Behauptungen des Artikels vehement kritisiert. Daraufhin wurde am 23. Februar 2004 Hrant Dink vom Vize-Gouverneur Istanbuls zu einem Gespräch eingeladen. Am darauffolgenden Tag wurde mit Hrant Dink ein Gespräch in dem Zimmer des Vize-Gouverneurs geführt. An dem Gespräch nahmen auch zwei Beamten des MIT (Nationaler Nachrichtendienst) teil. Am 25. Februar 2004 wurde von einem gewissen M.S. bei der Staatsanwaltschaft eine Anzeige „wegen öffentlicher Beleidigung und Verächtlichmachung des Türkentums, Veranlassung zu Auflehnung und Terror, Provozierung und Separatismus” erstattet.Flyer_Mord-in-Istanbul_online_A5 Kopie 2

Am 26. Februar 2004 demonstrierte eine Gruppe von Menschen vor dem Verlagshaus der Zeitung Agos und skandierte aufwiegelnde Losungen wie „Liebe (die Heimat) oder verlasse sie“, „Er kann eine Nacht unerwartet kommen“. Es wurde eine Presserklärung herausgegeben und in dieser verkündet: „Von nun an ist Hrant Dink das Ziel unserer Wut und unseres Hasses.“ 2004 und 2006 wurde Dink in zwei getrennten Verfahren aufgrund der Tatvorwürfe „Öffentliche Beleidigung und Verunglimpfung des Türkentums“ und „Beleidigung des Türkentums“ vor Gericht gestellt. Bei diesen Verfahren wurde Hrant Dink im Justizgebäude körperlich angegriffen. Vor dem Justizgebäude gab es demagogische Demonstrationen. Zu dieser Zeit erschienen in den Medien mannigfache Berichte gegen Hrant Dink. Über den Verlag Agos wurden in einem Brief Morddrohungen lanciert: „Dieses ist eine öffentliche Bekanntmachung: Hrant Dink, (…), wir werden Dich zum Schweigen bringen, so wirst Du nie wieder sprechen können. (…) Der Gestapo Türke.“, hieß es dort. Die Rechtsanwält_innen von Hrant Dink erstatteten diesbezüglich Anzeige bei der Staatsanwaltschaft.

Die Generaldirektion für Sicherheit in Trabzon erfuhr von den Plänen eines Yasin Hayal, Hrant Dink zu töten. Die einschlägigen Informationen wurden in einem Bericht am 15. Februar 2006 dokumentiert. Die Generaldirektion für Sicherheit hat in diesem Kontext eine Akte angelegt. Dort ist festgehalten, dass Yasin Hayal einen tiefen Hass gegenüber Armenier_innen empfinde, in Istanbul eine niederträchtige Aktion plane und hierfür als Angriffsziel Hrant Dink ausersehen habe. Yasin Hayal wurde zudem als jemand eingestuft, der auch charakterlich dazu disponiert sei, eine solche Tat umzusetzen. Diese Akten wurden auch der zuständigen Generaldirektionen für Sicherheit und Nachrichtendiensten zugestellt. Daraus folgert: Es liegt zutage, dass sowohl die Mitarbeiter_innen der Generaldirektion für Sicherheit in Trabzon, als auch die Mitarbeiter_innen der Generaldirektion für Sicherheit in Istanbul und die Generaldirektion für Sicherheit (EGM) bereits elf Monate vor der Ermordung davon Kenntnis hatten, dass ein Mordanschlag auf Dink konkret vorbereitet wird.

Die Mitarbeiter_innen der Gendarmerie in Trabzon haben im Juni 2006 Informationen darüber erhalten, dass Yasin Hayal das Attentat auf Hrant Dink plane und dass er definitiv entschlossen sei, diesen Mord zu verüben. Er habe über Agos und über das Haus von Hrant Dink Erkundigungen eingezogen, den Weg zwischen beiden Orten analysiert und dazu ein Skizze angelegt. Hayal habe weiterhin versucht, sich für den Mord eine Waffe zu beschaffen. All diese Informationen wurden unter der Leitung des Kommandanten der Gendarmerie in Trabzon erörtert. Mitarbeiter_innen des Nachrichtendienstes nahmen ebenfalls an der Sitzung. Selbst bezüglich der Tatwaffe wurde, bevor sie sicher gestellt wurde, von der Gendarmerie in Trabzon am 20. Januar 2007 eigens eine Akte angelegt. In der Akte stand, dass der Mord mit einer handgemachten Waffe begangen wurde.

All diese Entwicklungen drücken aus, dass, obwohl die staatlichen Sicherheitskräfte und Nachrichtdienste über entsprechende Informationen verfügten, sie keine Maßnahmen trafen, um Hrank Dink zu schützen. Ebenso wenig wurde die Initiative zu einem polizeilichen Vorgehen gegen die Organisation ergriffen, die den Mord geplant hat.

Als ein Hindernis bei der Aufklärung der NSU-Morde wird die Anklage der Bundesanwaltschaft gesehen. Sie sagen in einem Fernsehinterview, dass alle Mitverantwortlichen in die Anklage mit einbezogen werden müssen. Wie genau sollte der Kreis der Beschuldigten erweitert werden: einerseits bei dem Ermittlungsverfahren und andererseits bei dem immer noch andauernden Gerichtsverfahren?

Die Ermittlungen bei dem Mord an Hrant Dink wurden nicht mit Nachdruck geführt. Punkt eins: Der Vorgang hat im Jahr 2004 begonnen und ist auf den Mord hinausgelaufen. Punkt zwei: Man hat bei den Ermittlungen die Führungsebene der Organisationen, die Hrank Dink ermordet hat, und deren Verbindungen – vor allem die nach Istanbul – nicht erfasst. Punkt drei: Es wurde weder gegen die Mitglieder noch gegen den Vorsitzenden der Organisation, die Hrant Dink ermordet hat, noch gegen Beamte, die an dem Mord beteiligt waren, ein Gerichtsverfahren eröffnet. Außer gegen die Gendarmerie in Trabzon, die der Vernachlässigung ihrer Arbeit bezichtigt wurde, wurden keine weiteren Gerichtsverfahren eingeleitet.

Obwohl wir als Anwält_innen der Nebenklage aufgezeigt haben, dass von der Gendarmerie in Trabzon der Mord „sehenden Auges“ nicht verhindert wurde und ein Einsatz gegen diese Organisation absichtlich unterblieb, wurde das Gerichtverfahren eröffnet und weiter geführt, ohne dies irgendwie zu würdigen. Die Leute, gegen die der Prozess eröffnet wurde und die Angeklagten, die vor dem Schwurgericht in Istanbul stehen, sind im Grunde genommen die „kleinen Fische“.

Abgesehen von der Anklagestrategie der Bundesanwaltschaft ist, wie die Anwält_innen der Nebenklage betonen, ein anderer neuralgischer Punkt, dass Informationen mit dem Hinweis auf die Geheimhaltung nicht herausgegeben werden. Mithin werden dem Gericht benötigte Akten und Unterlagen schlichtweg vorenthalten. Von Anfang an haben Sie bei dem Dink-Prozess auch diesen Punkt gesehen und kritisiert. Sie forderten, Akten verfügbar zu machen. Haben Sie in den letzten sieben Jahren diese Hürde beseitigen können?

Dieser Umstand war bei den Ermittlungen des Dink-Mordes und bei der Eröffnung des Gerichtsverfahrens unser Hauptproblem – und ist es bis heute. Anhand der Aussagen der Zeug_innen und Angeklagten und im Zuge der ganzheitlichen Beweiswürdigung wurde offenkundig, dass viele Beweisstücke vernichtet, versteckt oder verändert wurden. Es stellte sich heraus, dass die Mitarbeiter_innen der Gendarmerie in Trabzon, die Generaldirektion für Sicherheit in Istanbul und der Nachrichtendienst Beweise entstellt und vernichtet haben. Zudem wurden bei den Korrespondenzen Informationen, die nicht der Wahrheit entsprachen, kolportiert.

Der wichtigste Geheimdienst des Staates, der MIT, versteift sich auf die Behauptung, grundsätzlich bar jeder Information gewesen zu sein. Der Umstand, dass die Informationen in den Ermittlungsakten und in den Akten zum Gerichtsverfahren über den Mord an Dink zurückgehalten werden, ist bis heute ein Problem für die Aufklärung. Die ermittelnde Staatsanwaltschaft darf sich nicht mit den Antworten aus den Ämtern zufrieden geben. Sie muss in die Archive und Asservatenkammern schauen und dort die Informationen sichten.

Sie haben als Rechtsanwälte von Hrant Dinks Familie diesen Vorfall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (AIHM) gebracht. Mit welcher Begründung? Und: Wie hat das Urteil des AIHM den Ablauf des Verfahrens beeinflusst?

Weil man gegen die Beamt_innen, die für den Mord mitverantwortlich sind, nicht ermitteln und keine Anklage einreichen konnte, haben wir uns als Nebenkläger_innen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR) gewandt. Der ECHR hat in seinem Urteil am 14. September 2014 festgestellt, dass die öffentlichen Behörden zwar wussten oder zumindest zu wissen imstande gewesen wären, dass Hrant Dink der Gefahr ausgesetzt gewesen ist, angegriffen und getötet zu werden – dass sie aber trotz dieses Wissens um die direkte und akute Gefahr für Dink und trotz des weitergehenden Wissens der Sicherheitskräfte über die Planung des Mordes nichts unternommen haben, um den Mord zu verhindern.

Heute spielt dieses Urteil des EHCR eine große Rolle: Die Ermittlungen, die gleich nach dem Mord hätten durchgeführt werden sollten, werden jetzt aufgrund des EHCR-Urteils am 14. September 2010 von der Staatsanwaltschaft in Istanbul unternommen. Die Staatsanwaltschaft in Istanbul hat im Mai 2014 begonnen, Beamt_innen, die für den Mord Dink mitverantwortlich sein könnten, als Tatverdächtige anzuhören und Beweise für etwaige Seilschaften zu sammeln, die zwischen diesen Verdächtigen und den letztverantwortlichen Organisationen existieren könnten.

Dieses Ermittlungsverfahren ist noch nicht beendet, und das Gerichtsverfahren ist noch nicht eröffnet. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass am Ende dieses Ermittlungsverfahrens gegen die Beamt_innen, die für den Mord mitverantwortlich sind, der Prozess eröffnet wird.

In der Türkei sind – besonders ab 1980 – viele Journalist_innen und Intellektuelle Opfer von Morden geworden, bei denen Täter_innen und die Hintergründe der Taten nie aufgeklärt wurden. Abdi İpekçi, Uğur Mumcu, Musa Anter sind nur einige davon. Wie bei Hrant Dink ist im Nachhinein stets der Verdacht laut geworden: „Hinter diesem Mord steht der Staat“. Die Frage, wer hinter diesen Morden steht, hat den Blick auf den Staat und seine Bevollmächtigten angespannt. Wenn die Bevollmächtigten vielfach auch bemüht waren, sich zu rechtfertigen, so sehen wir doch, dass das Vertrauen in die Administration – Staatsbevollmächtigte, Sicherheitskräfte, Justiz – nicht „grenzenlos“ ist. Wie erklären Sie das? Warum hat ein Teil der Zivilgesellschaft so reagiert?

Es gab etwas, mit dem die Leute, die den Mord geplant und unterstützt haben, nicht gerechnet hatten: nämlich wie dieser Mord auf die Bevölkerung wirkt und welches gesellschaftliche Ausmaß die Auseinandersetzung damit annimmt. Die Zivilgesellschaft hat es mit der immer wieder formulierten Frage nach den Täter_innen und dem Hintergrund des Mordes an Hrant Dink geschafft, dass gegen die Beamt_innen ermittelt wird und dass sie vor Gericht gebracht wurden. Auf diesen Fragen zu insistieren, ist der wichtigste Grund dafür, dass das Ermittlungsverfahren zum Mord an Dink immer noch immer nicht eingestellt ist.

Was muss oder müsste Ihrer Meinung nach getan werden, damit eine Aufklärung dieses Mordes sachgerecht in den ‚höheren Rängen‘ möglich wird?

Obwohl alle Sicherheitskräfte und Nachrichtendienststellen des Staates von den Mordplänen gegen Dink Bescheid wussten, wurde er ermordet. Die zuständigen Behörden tragen eine enorme Mitverantwortung daran. Angesichts dessen müssen die Ermittlungsverfahren und Gerichtsverfahren v.a. gegen Verantwortliche in den ‚oberen Rängen‘ mit mehr Nachdruck gestaltet werden. Man muss bei den Organisationen, die Dink ermordet haben, die oberen Führungsstrukturen und deren Kontakte aufdecken und gegen die verantwortlichen Beamt_innen Gerichtsverfahren einleiten. Nur so kann der Mord an Dink aufgeklärt werden.

Vielen Dank für das Gespräch.

*Aus einem Dokumentarfilm über den Gerichtsprozesses zum Mord an Hrant Dink