Rassismus & Justiz: Prozessbeobachtung beim NSU-Prozess am 23. und 24. Juni 2015

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Reihe: Ortstermin

von der „Prozessbeobachtungsgruppe Rassismus & Justiz“

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Nachdem wir bereits im Dezember 2014 den NSU-Prozess an drei Verhandlungstagen beobachtet hatten [1], fuhren wir am 22. Juni zum zweiten Mal nach München. Eigentlich wollten wir uns die erneute Einvernahme des „Ex-Verfassungsschützers“ Andreas Temme anschauen, der für den 25. Juni geladen war. In Reaktion auf Zschäpes Antrag, ihre Verteidigerin Anja Sturm zu entpflichten, hatte das Gericht jedoch zahlreiche Donnerstagstermine abgesagt, sodass schon vor unserer Anreise klar war, dass Andreas Temme nicht kommen würde und lediglich zwei Verhandlungstage stattfinden würden. Nachdem wir uns entschlossen hatten, dennoch wie geplant zum Prozess zu fahren, erfuhren wir am Tag unserer Fahrt nach München, dass Beate Zschäpe dem Gericht mitgeteilt hatte, dass sie eine Teilaussage erwäge. Sie sei allerdings der Ansicht, dass dies mit ihren jetzigen Anwält_innen Sturm, Stahl und Heer nicht möglich sei. Vor diesem Hintergrund befürchteten wir, dass die Verhandlung für einige Tage unterbrochen werden könnte, was sich aber dann doch nicht bewahrheitet hat.

Im Folgenden wollen wir ein paar subjektive Eindrücke schildern, die wir während der von uns beobachteten Verhandlungstage gewonnen haben. Detailliertere Protokolle aller Verhandlungstage finden sich unter www.nsu-watch.info.

Als wir am Morgen des 23. Juni vor dem Gerichtsgebäude anstehen, die Sicherheitskontrollen passieren und schließlich die Besuchertribüne betreten, kommt es uns vor, als wären wir erst letzte Woche hier gewesen. Auf der Besuchertribüne hat sich nicht viel verändert: Wir treffen auf bekannte Gesichter von Pressevertreter_innen, unter anderem vom Spiegel, außerdem von NSU-Watch.

Uns fällt auf, dass die Zuschauertribüne sehr gut besucht ist. Insbesondere die Presseseite ist ungewöhnlich voll besetzt, was mit Sicherheit daran liegt, dass alle wissen wollen, was aus Zschäpes Ankündigung wird, vielleicht eine Aussage machen zu wollen. Auch am zweiten Tag sind wieder viele Zuschauer_innen gekommen. Unter anderem ist eine Delegation aus der Türkei zu Gast, um den Verhandlungstag zu beobachten, aber auch allgemein scheint das Interesse am Prozess weiterhin recht groß zu sein.

Der erste Verhandlungstag beginnt gewöhnlich – Zschäpes Entpflichtungsantrag gegenüber ihrer Anwältin Sturm wird mit keinem Wort erwähnt – endet aber bereits um kurz nach elf, nachdem ein Zeuge eines Überfalls auf einen Supermarkt in Chemnitz im Jahr 1998 ausgesagt hat. Der Grund ist, dass Zschäpe über Zahnschmerzen klagt. Eine bereits vor der Verhandlung begonnene Zahnbehandlung soll am Nachmittag fortgesetzt werden. Daher wird die für die zweite Tageshälfte angesetzte Fortführung der Befragung von Kay S. verschoben. Der Jugendfreund von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe war in den 1990er Jahren selbst in der Naziszene aktiv, gehörte aber eher der „Skin-Fraktion“ an und löste sich Ende der 1990er vollständig aus der Szene.
Kay S. hatte bereits am 29.04.2015 (Protokoll des 202. Verhandlungstags) im Münchener OLG als Zeuge ausgesagt, dass das Alibi, das er Böhnhardt 1997 im Zusammenhang mit der Puppenattrappe gegeben hatte, falsch gewesen sei. Er gab weiterhin an, dass neben Böhnhardt und Mundlos auch Zschäpe und Wohlleben bei der Aktion dabei gewesen seien. Laut NSU-Nebenklage waren die Aussagen von Kay S. „ein Schlag für die Verteidigungen Zschäpe und Wohlleben, deren Verteidigungsstrategien u. a. darauf basieren, dass Zschäpe und Wohlleben an konkreten Taten nie beteiligt gewesen seien“.

Vor diesem Hintergrund geht ein Nebenklagevertreter, mit dem wir vor dem Gerichtsgebäude kurz sprechen, davon aus, dass Zschäpe ihre Zahnschmerzen nur vorgeschoben hat um zu verhindern, dass Kay S. erneut befragt wird, während sie mit ihren Anwält_innen in Konflikt ist. Zu groß sei aus Zschäpes Sicht die Gefahr, dass der Zeuge sie mit weiteren Angaben belasten würde, ohne dass ihre Verteidigung diese entkräften könnte.

Der zweite Verhandlungstag ist dafür umso länger und ähnlich konfliktreich wie die Befragung von Antje Probst, die wir letztes Jahr im Dezember beobachtet haben (Protokoll von NSU-Watch). In der ersten Tageshälfte sagt ein weiterer Geschädigter des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße aus. Er hielt sich zum Zeitpunkt der Bombenexplosion im Reisebüro seines Vaters gegenüber dem Friseurladen auf und wurde nur deshalb körperlich nicht verletzt, weil ein Sprinter vor dem Reisebüro stand und einen Großteil der Nägel abfing.

Im Zentrum der zweiten Hälfte des Verhandlungstages steht die Befragung des mittlerweile pensionierten Hess, der 2006, als der einundzwanzigjährige Halit Yozgat in seinem Internetcafé erschossen wurde, Geheimschutzbeauftragter des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) Hessen war. In der Zeit nach dem Mord telefonierte er mehrmals mit dem LfV-Mitarbeiter Temme, der sich zum Tatzeitpunkt am Tatort aufhielt und vorübergehend von der Polizei des Mordes an Halit Yozgat verdächtigt wurde, und war auch für dessen „Sicherheitsüberprüfung“ verantwortlich.
Mehrere Telefonate zwischen Hess und Temme wurden aufgrund des Mordverdachts gegenüber Temme durch die Kriminalpolizei aufgezeichnet. Besonders brisant ist eine Äußerung von Hess gegenüber Temme in einem Telefonat vom 09.05.2006, also rund einen Monat nach dem Mord an Halit Yozgat. Darin sagt Hess zu Temme, er sage ja jedem, wenn der wisse, dass so etwas geschehe, solle er bitte nicht vorbeifahren.

Wie in so vielen anderen Fällen verläuft die Befragung von Hess äußerst zäh. Immer wieder gibt er an, er könne sich an Dinge nicht erinnern; wenn er Angaben macht, tut er dies oft mit dem Zusatz, er könne sich nicht mit letzter Sicherheit festlegen, eine „letzte kleine Unsicherheit“ bleibe. Darüber hinaus verwendet Hess auffallend häufig Passivkonstruktionen und Formulierungen mit „man“, sodass unklar bleibt, welche Personen nun tatsächlich was getan haben. So antwortet er auf Götzls Frage, ob er denn mit anderen Mitarbeiter_innen des LfV über den Mord an Halit Yozgat und den Mordverdacht gegenüber Temme gesprochen habe: „dann redet man auch darüber, wenn so etwas vorgefallen ist“. Seine Sprache irritiert, weil er damit den Mordverdacht gegen einen Verfassungsschützer als fast alltägliche Situation darstellt, die mit Erfahrungswerten und bürokratischen Routinen geklärt werden könnte.

Die meiste Zeit wirkt der vorsitzende Richter Götzl geduldig und geht verständnisvoll mit dem Zeugen um. Dies erinnert uns an die Befragung der Nazi-Zeugin Antje Probst, die wir letztes Jahr beobachtet haben: Auch damals waren wir überrascht, wie geduldig Götzl wirkte, obwohl die Zeugin immer wieder ausweichende und unvollständige Angaben machte und vorgab, sich an alle möglichen Dinge nicht erinnern zu können.
Selbst als Hess sich auf Nachfrage, was er mit dem „bitte nicht vorbeifahren“-Ratschlag gemeint habe, in Widersprüche verstrickt und behauptet, er habe auf keinen Fall angenommen, dass Temme schon vor dem bevorstehenden Mord etwas von der Tat gewusst habe – er habe wohl einfach sagen wollen, Temme sei zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen – bleibt Götzl gelassen. Er fordert Hess auf, bitte noch einmal in Ruhe zu erklären, was er gemeint habe.
Ersatzweise herrscht Götzl plötzlich die Vertreter_innen der Nebenklage an: es habe Zwischenrufe gegeben, diese seien zu unterlassen. Ähnliches wiederholt sich im weiteren Verlauf der Befragung noch etliche Male: Immer wenn der Zeuge besonders ausweichend auf eine Frage antwortet, lässt Götzl seinen Unmut an den Anwält_innen der Nebenklage aus. So weist er Rechtsanwalt Narin zurecht, dass seine Frage an den Zeugen zeige, dass er sich schlecht auf die Sitzung vorbereitet habe. Er solle sich in Zukunft bitte besser vorbereiten.

Wie schon bei unserem letzten Prozessbesuch haben wir wieder den Eindruck, dass sich eine gewisse bizarre Komplizenschaft zwischen der Verteidigung der Hauptangeklagten Zschäpe (VZ) und der Bundesanwaltschaft (BAW) beobachten lässt. An einer Stelle haben Stahl (VZ) und Diemer (BAW) Blickkontakt, so als würden sie sich abstimmen, wer im darauf folgenden Moment die Frage beanstandet, die gerade von Rechtsanwalt Bliwier (Anwalt der Familie Yozgat) formuliert wird. Kurz darauf meldet sich Stahl zu Wort und sagt, er könne bei Bliwiers Frage keinen Bezug zur Tat- und Schuldfrage seiner Mandantin erkennen – ein Klassiker-Argument, das sowohl die BAW als auch die VZ immer wieder in Stellung bringen, um die Aufklärungsarbeit der Nebenklagevertreter_innen im Prozess zu behindern. Daraufhin sagt Diemer, die BAW habe ja schon zu dem Beweisantrag Stellung genommen und dabei deutlich gemacht, dass sie diesen für nicht relevant halte. Einen Bezug zwischen der Frage und dem Beweisthema gebe es aber. Hierauf ruft Stahl in trotzigem Tonfall, nur weil der Beweisantrag zugelassen worden sei, heiße das aber nicht, dass hiervon alle möglichen Fragen gedeckt seien.

Götzl macht in der Diskussion über die Zulässigkeit der Frage wie so oft einen unsicheren und unschlüssigen Eindruck. Obwohl er bzw. der Senat dem Beweisantrag, der die Befragung von Hess zum Gegenstand hatte, ja zugestimmt hat, muss in der Diskussion ein Vertreter der Nebenklage den Prozessbeteiligten erklären, inwieweit die Befragung von Hess und auch die von RA Bliwier formulierte Frage einen Bezug zum Gegenstand des Verfahrens aufweist. Das Gericht berät sich und erklärt die Frage letzten Endes für zulässig.

Insgesamt deuten die Angaben von Hess daraufhin, dass für ihn allein der Schutz von Temme sowie der Schutz des LfV einen Wert darstellten. Hierin zeigt sich mindestens eine an technokratischen Denkmustern orientierte Parallelwelt, die einzig auf den Selbsterhalt der Institution Verfassungsschutz ausgerichtet ist. Ein Bewusstsein über die politische Bedeutung von Vorgängen innerhalb des LfV ist entweder nicht vorhanden – oder es wird bewusst versucht, diese mit technokratischen Argumenten zu relativieren. Das belegt unter anderem ein Vermerk zu einem Treffen zwischen Hess und Vertretern von Polizei und Staatsanwaltschaft Ende Juni 2006, aus dem RA Bliwier einen Vorhalt macht. Hess hat damals offenbar eine Vernehmung von V-Personen durch die Polizei mit der Begründung abgelehnt, der damit einhergehende Verlust der Quellen sei das „größtmögliche Unglück“ für das LfV. Wenn solche Vernehmungen genehmigt würden, sei es für einen ausländischen Dienst ja einfach, den gesamten Verfassungsschutz lahmzulegen, man müsse hierfür offenbar nur eine Leiche in der Nähe eines LfV-Mitarbeiters positionieren. RA Bliwier fragt daraufhin sarkastisch: Dass ein ausländischer Geheimdienst Halit Yozgats Leiche neben Temme positioniert hat, um den hessischen Verfassungsschutz anzugreifen, haben Sie aber nicht gemeint? Hess sagt, das habe er nicht sagen wollen, distanziert sich in der Verhandlung aber ansonsten kein bisschen von seinen damaligen Ansichten.

Als grotesk empfinden wir die drei von der Polizei aufgezeichneten Telefonate zwischen Hess und Temme, die etwa zwischen zehn und dreißig Minuten dauern und in der Verhandlung in voller Länge abgespielt werden. Die verklausulierten Gespräche wirken in etwa so, wie man sich die Parodie einer Unterhaltung zwischen zwei Geheimdienstmitarbeitern vorstellen würde. Neben dem oben bereits zitierten „bitte nicht vorbeifahren“-Ratschlag fallen darin Sätze wie: „Wenn du was nicht sagen kannst, dann artikuliere das bitte, damit man sehen kann, was man nicht doch machen kann“ oder „ich sage ja immer, so nah wie möglich bei der Wahrheit bleiben“. Wenn nicht der dringende Verdacht im Raum stehen würde, dass Temme und möglicherweise weitere LfV-Mitarbeiter_innen von dem bevorstehenden Mord an Halit Yozgat wussten, nichts unternommen haben, um diesen zu verhindern und danach auch noch alles daran gesetzt haben, um die Ermittlungen der Polizei zu erschweren, könnte man die Unterhaltung für Satire halten. So aber wirken die Machtverhältnisse im Gerichtssaal, die ziellos wirkende Befragungstechnik des vorsitzenden Richters und die Antworten des Befragten wie ein Hohn auf die Idee, mit dem Prozess könne auch nur ein bisschen Licht ins Dunkel des NSUVS-Komplexes gebracht werden.

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[1]    Eine Analyse unserer Beobachtungen erscheint demnächst in: Friedrich, Sebastian/Wamper, Regina/Zimmermann, Jens: Der NSU in bester Gesellschaft. Zwischen Neonazismus, Rassismus und Staat. Münster: Unrast.

Fotocredit: Robert Andreasch

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