Politische Aufklärung durch Strafjustiz mit pädagogischer Intention – ein Veranstaltungsbericht

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Bericht zur Veranstaltung „Kann mithilfe der Strafjustiz politische Aufklärung geleistet werden? Fritz Bauers Verständnis der Frankfurter Auschwitz-Prozesse als mögliche Perspektive auf das Münchner NSU-Verfahren“ am 8. September 2015

Von Ingolf Seidel

Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand die Fragestellung, ob ein Verständnis von politischen Strafverfahren als „Prozessführung im öffentlichen Raum“ mit der Zielrichtung von Sachaufklärung, wie es der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer mit dem ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess intendierte, heute noch zeitgemäß und möglich ist.
Eingeladen hatte zu der gut besuchten Diskussionsveranstaltung der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) in die Juristische Fakultät der Berliner Humboldt Universität.

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Werner Renz, seines Zeichens wissenschaftlicher Mitarbeiter des Frankfurter Fritz Bauer Instituts und ausgewiesener Experte für den von 1963 bis 1965 dauernden Auschwitz-Prozess, referierte zu Fritz Bauers durchaus widersprüchlichem Verständnis des Prozesses. Generalstaatsanwalt Bauer, jüdischer Remigrant und Atheist, Sozialdemokrat und Mitbegründer der Humanistischen Union, verstand sich als Patriot. Diese Selbstkategorisierung, die heute befremdlich erscheint, muss für den zur Flucht nach Dänemark und Schweden gezwungenen Juristen aber sicherlich als eine Haltung gegen den Nationalsozialismus und die im Nachkriegsdeutschland durchgängig verbreitete Erinnerungs- und Schuldabwehr verstanden werden. Dementsprechend waren Prozesse gegen NS-Täter für Bauer im Wesentlichen volkspädagogische Veranstaltungen, mit denen er hoffte, die deutsche Bevölkerung in ihrer verstockten Haltung gegenüber den Naziverbrechen, in die sie zutiefst verstrickt war, zu erschüttern. Fritz Bauer wollte im Sinne Ibsens „Gerichtstag halten über uns selbst“. Renz benutzte nicht zu Unrecht in diesem Zusammenhang den modernen Begriff der „Menschenrechtsbildung“, beziehungsweise den der „Geschichtsstunde für die Deutschen“. Daher spielten auch die Überlebenden der deutschen Vernichtungspolitik in der „Strafsache gegen Mulka und andere“, wie der offizielle Titel des ersten Auschwitz-Prozesses lautete, eine zentrale Rolle. Im Widerspruch zur erzieherischen Ausrichtung des Auschwitz-Prozesses stand das geplante Prozesskonzept des Staatsanwalts, der im Übrigen nie selbst vor Gericht erschien. Die eigentliche Anklagevertretung übernahmen die Staatsanwälte Joachim Kügler, Georg Friedrich Vogel und Gerhard Wiese. Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz war für den Generalstaatsanwalt ein Fall von rechtlicher Handlungseinheit. Das bedeutete für ihn, dass sämtliche Handlungen und Taten Teil des Verbrechenskomplexes Auschwitz gewesen wären und nicht individuell den Angeklagten nachzuweisen seien. Dementsprechend ging Bauer in der Konzeption des Prozesses nur von vier Verhandlungstagen aus. Es ist offensichtlich, dass diese Herangehensweise im Widerspruch zur pädagogischen Intention stand; ein Widerspruch, der Bauer durchaus bewusst war. Wir wissen, dass sich sowohl Bauers volkspädagogische Absicht, als auch die Prozesskonzeption entlang der Argumentation der tatsächlichen Handlungseinheit in der Realität brach und die Taten von Mulka und anderen individualisiert wurden.

Im Anschluss an den Vortrag von Werner Renz kommentierte Rechtsanwältin Anna Luczak das Gehörte aus ihrer Sicht als Anwältin der Nebenklage im Münchner Verfahren gegen den so genannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). Sie ging dabei eingangs der Frage nach, ob es in diesem Verfahren analog zum ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess Akteure gebe, die ein Interesse an der Sachaufklärung hätten, die also aufzeigen wollen, dass es sich bei der Mordserie um mehr als ein isoliertes Phänomen handelt. Es ist naheliegend, dass die Rolle der Bundesanwaltschaft der Fritz Bauers entspricht – in verfahrensrechtlicher Hinsicht. Hier erschöpft sich, Luczak zufolge, bereits die Analogie. Seit dem Prozessbeginn in 2012 hat die Bundesanwaltschaft keine weiteren Beweismittel in das Verfahren eingebracht. Ihre bisherige Prozesskonzeption sieht offensichtlich vor, das Verfahren gegen den NSU als reinen Strafprozess unter möglichst weitgehender Ausblendung ideologischer Aspekte zu führen. Die, wie krude auch immer erscheinende, nationalsozialistische Ideologie des NSU wird folglich nach Möglichkeit ebenso ausgeblendet wie die dazu gehörige neonazistische Netzwerkstruktur. Ebenso unterbelichtet bleibt die staatliche Verstrickung in Form von V-Leuten der verschiedenen Ämter des Verfassungsschutzes oder die Vernichtung entsprechender Akten. Auf Versuche seitens der Nebenklagevertretung, die die Opfer des NSU und ihre Angehörigen vor Gericht vertritt, weitere Beweismittel und Gutachten einzubringen, reagiert die Bundesanwaltschaft meist ablehnend. Nicht wesentlich anders sind, so die Rechtsanwältin, die Reaktionen des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl. Von den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, selbständig Beweismittel einzuführen, macht das Gericht keinen Gebrauch. Kenntnisse von Richter Manfred Götzl, was neonazistische Gruppierungen wie Combat 18 betrifft, den militanten Arm des Neonazi-Netzwerks Blood & Honour, waren in den ersten Monaten der Verfahrens praktisch nicht vorhanden. Hinzu kommt: Seit den 1960er-Jahren wurde die Rolle der Nebenklagevertretung geschwächt. Auch verfügt sie naheliegenderweise nicht über dieselben Ermittlungsmöglichkeiten wie staatliche Stellen. Rechtsanwältin Luczak vermutet, dass die heutige gesellschaftliche Reaktion auf das NSU Verfahren ähnlich gering ist, wie sie seinerzeit die zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Auschwitzprozess war.

In der nachfolgenden Diskussion äußerte Anna Luczak die Hoffnung, der NSU-Prozess, beziehungsweise vor allem die Nebenklage darin könne der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der extremen Rechten Material und Ansatzpunkte liefern, um beispielsweise zu dem subkulturellen Netzwerk Blood & Honour weiter zu forschen, das mit den untergetauchten NSU-Mitgliedern Mundlos, Böhnhard und Zschäpe in Verbindung gebracht wird. Allerdings sei es aufgrund der prozessrechtlich relativ schwachen Position der Nebenklage verhältnismäßig schwierig,  eigene Akzente im Prozessgeschehen, beispielsweise durch Gutachten, zu setzen. Dies hinge vom Interesse des Gerichts ab. Die von Fritz Bauer anvisierte Prozesskonzeption, sämtliche Taten in Auschwitz als eine natürliche Handlungseinheit zu betrachten, nach der eine Mehrheit von Einzelakten verschiedenartige Straftatbestände verwirklichen würde, käme für das NSU-Verfahren nicht in Betracht.
Werner Renz ergänzte seine Ausführungen dahingehend, dass es für den Auschwitz-Prozess angesichts des ungeheuerlichen Normenbruchs der Taten juristische Sondernormen gebraucht hätte. Auf den politischen Fehler, diese 1949 im Rahmen der Gründung der Bundesrepublik und der Verabschiedung des Grundgesetzes nicht eingeführt zu haben, habe unter anderem bereits Karl Jaspers früh hingewiesen. Fritz Bauer sei der Ansicht gewesen, dass entsprechende Gesetze zur Aburteilung der NS-Täter auch im Nachhinein hätten eingeführt werden müssen, um die Möglichkeit zu schaffen, diese nicht nur als „Tatgehilfen“ abzuurteilen.

Aufklaerung-800x425Aus Autorensicht bleibt anzumerken, dass die Rolle, die der hessische Generalstaatsanwalt inne hatte, der sich für eine Sachaufklärung des Tatkomplexes Auschwitz einsetzte und dies mit der Hoffnung auf einen aufklärerischen Effekt verband, heute linken Initiativen wie NSU-Watch, die hier in erster Linie zu nennen ist, sowie bei einem berufspolitischen Zusammenschluss wie dem RAV liegt. Ein staatliches Aufklärungsinteresse erscheint in politischer wie in prozessualer Hinsicht, nicht zuletzt wegen der tiefen Verstrickung staatlicher Akteure in den NSU-Komplex, ausgesprochen gering.

Autoreninfo:
Ingolf Seidel arbeitet als Redakteur und Projektleiter für das Bildungsportal www.lernen-aus-der-geschichte.de