Rezension: „Tiefer Staat“ oder doch Wachkoma?

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von Fritz Burschel

zuerst erschienen auf antifra*, eine gekürzte Version erschien im monitor Nr. 71

Wet­zel, Wolf: Der Rechts­staat im Unter­grund. Big Bro­ther, der –Kom­plex und die not­wen­dige Illoya­li­tät, Papy­rossa Ver­lag, 2015, 219 Sei­ten, 14,90 Euro, ISBN 978−3−89438−591−0

Er hat ja so recht, der Wolf Wet­zel! Nein, im Ernst, wenn er schreibt: „Neh­men wir ein­mal an, dass die Geheim­dienste 13 Jahre von der Exis­tenz des NSU nichts gewusst haben und Jahr­zehnte nichts von den sys­te­ma­ti­schen Aus­spä­hun­gen bri­ti­scher und US-amerikanischer Geheim­dienste … Für diese sys­te­ma­ti­sche Ahnungs­lo­sig­keit muss man keine Mil­li­ar­den Euro aus­ge­ben!“ (S. 25), dann hat er ein­fach recht. Er hat über­haupt fast durch­ge­hend recht, auch wenn nicht viel neues in sei­nem jüngs­ten Kom­pen­dium „Der Rechts­staat im Unter­grund. Big Bro­ther, der NSU-Komplex und die notwen­dige Illoya­li­tät“ zu fin­den ist.

Wetzel_rechtsstaatUntergrund591-0-198x300Die Leis­tung des Buches, das sich auch rasch weg­liest, ist es, die ver­schie­de­nen Aspekte, die zwei­fel­los einen geheim­dienst­li­chen Staat im Staate kon­sti­tu­ie­ren, zusam­men­zu­den­ken und aus­ge­hend vom Orwell­schen „1984“ über Horst Herolds Ras­ter­fahn­dung und – für seine Zeit – hell­sich­tigen Grö­ßen­wahn, über die aktu­elle Dis­kus­sion über die gro­tesk späte Wie­der­auf­nahme der Ermitt­lun­gen zum Okto­ber­festat­ten­tat, die Vor­rats­datenspei­che­rung und Stay-behind-Armeen der NATO bis hin zum nach wie vor unfass­ba­ren NSA-Skandal noch ein­mal auf­zu­fä­chern. Aus­ge­hend von der frei­wil­li­gen Selbst­be­tei­li­gung der Bürger_innen west­li­cher Indus­trie­na­tio­nen an ihrer Total­über­wa­chung, der Wir­kungs­lo­sig­keit der weni­gen demo­kra­tisch legi­ti­mier­ten (par­la­men­ta­ri­schen) Kon­troll­in­stan­zen und dem offen­sicht­li­chen Ein­ver­neh­men der betei­lig­ten Geheim­dienste an extra­le­ga­len Aktio­nen (wie den Ent­füh­run­gen und Fol­te­run­gen durch die CIA, Stich­wort: Kha­led al-Masri) und – dazu hat er ja auch geson­dert publi­ziert – von den Abgrün­den des NSU-Komplexes, beschreibt Wet­zel sein Ent­set­zen dar­über, wie fol­gen­los all das im Sande ver­läuft. Skan­dal auf Skan­dal wird durch die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­netze und Medien gejagt, unge­heu­er­li­che Ent­hül­lun­gen durch Wiki­leaks, Snow­den und andere Whist­leb­lo­wer und selbst die kaum fass­ba­ren Unge­reimt­hei­ten im NSU-Kontext brin­gen den öffent­li­chen Dis­kurs stets nur kurz in Wal­lun­gen und ehe man sich's ver­sieht ist wie­der alles beim Alten und der undurch­dring­li­che Geheim­dienst­dschun­gel bleibt voll­ends unan­ge­tas­tet. Selbst Dreis­tig­kei­ten wie das Dik­tum des Vize-Kanzlers Sig­mar Gabriel, wenn es die Vor­rats­da­ten­spei­che­rung „bereits zum Zeit­punkt der ers­ten NSU-Morde“ gege­ben hätte, „hät­ten wir wei­tere ver­mut­lich ver­hin­dern kön­nen“, blei­ben win­zige Auf­re­ger, die nichts an der grund­sätz­li­chen par­tei­über­grei­fen­den Zustim­mung zu unkon­trol­lier­ter Total­über­wa­chung ändern (S. 42). Die Beru­fung der Regie­rung auf streng geheime „Kern­be­rei­che der exe­ku­ti­ven Eigen­ver­ant­wor­tung“ (S. 124) reicht auch kri­ti­schen „Bürger_innen“ aus, um rechts­freie Räume zu akzep­tie­ren, obwohl bekannt ist, wel­che Unge­heu­er­lich­kei­ten in die­sen Räu­men vor sich gehen.

Auch im Zusam­men­hang mit dem NSU trägt Wet­zel noch­mal all die „High­lights“ der Unge­reimt­hei­ten zusam­men, etwa den Fall des hes­si­schen -Führers , der am Kas­se­ler Mord­tat­ort anwe­send war, des Heil­bron­ner Mord­an­schlags auf die Poli­zis­tin Michélle Kie­se­wet­ter und ihren Kol­le­gen, der wie durch ein Wun­der den Kopf­durch­schuss über­lebte, oder das rät­sel­hafte Ster­ben eini­ger wich­ti­ger (poten­ti­el­ler) Zeug_innen. Wet­zels Logik zufolge steckt hin­ter allem letzt­lich doch ein gelenk­ter Kom­plott, des­sen Ver­ant­wort­li­che in den Innen­mi­nis­te­rien zu fin­den seien: „Das Abtau­chen der Mit­glie­der des Thü­rin­ger Hei­mat­schut­zes 1998 war gewollt. Man hat sie gera­dezu dafür akti­viert und jede Mög­lich­keit, sie fest­zu­neh­men, unter­bun­den. Diese Ent­schei­dung wurde jeweils auf der Ebene der Innen­mi­nis­ter getrof­fen“ (S.144, auch S. 129). Aber warum? Wet­zel ver­mu­tet, der „NSU lie­ferte (…) die Toten, und die Ermitt­lungs­be­hör­den lie­fer­ten den ihn [sic!] pas­sen­den poli­ti­schen Kon­text, als Beleg für die stän­dig beschwo­rene Gefahr der ‚Aus­län­der­kri­mi­na­li­tät‘, als blu­ti­gen Beweis für das Anwach­sen ‚Orga­ni­sier­ter Kri­mi­na­li­tät‘ (OK), des­sen [sic!] Bekämp­fung ein­mal mehr inten­si­viert wer­den muss“ (S. 145). Das ist wahr­schein­lich ziem­li­cher Blöd­sinn, ebenso wie die Behaup­tung, dass mit der ras­sis­ti­schen Stoß­rich­tung bei der Ermitt­lung zu den „Döner­mor­den“ die Gefahr von „Schlä­fern“ und „ticken­den Zeit­bom­ben“ unter den unauf­fäl­lig leben­den Nicht-Deutschen beschwo­ren wer­den sollte. Im übri­gen wer­den so aus über­zeug­ten und mord­be­rei­ten Nazi-Terrorist_innen letzt­lich wil­len­lose Mario­net­ten des Geheim­diens­tes gemacht.

Natür­lich darf man über all die unge­klär­ten Fra­gen spe­ku­lie­ren und kühne The­sen äußern: Zumal solange die geheim­dienst­li­chen Machen­schaf­ten hin­ter einer Mauer des Schwei­gens und Ver­tu­schens abge­schot­tet wer­den und eine Beweis­um­kehr nicht in Sicht ist. Aber dabei sollte man doch auf dem Tep­pich blei­ben. Ver­schwö­rungs­theo­rien begin­nen dort, wo diese Spe­ku­la­tio­nen als Gewiss­hei­ten ange­prie­sen wer­den, worin Wet­zel ein Meis­ter ist. Immer dort, wo er am schärfs­ten argu­men­tiert, feh­len die ohne­hin spär­li­chen Belege voll­ends. Für Wet­zel ist es klar, dass beim Tod „der bei­den Uwes“ eine „dritte Hand“ im Spiel war und dass sich hin­ter dem gro­ßen Konfetti-Berg aus NSU-Akten ein gan­zer koor­di­nie­ren­der „Kri­sen­stab“ ver­birgt (S.149). Dezi­dierte Nach­weise dafür bleibt er schul­dig. Für die meis­ten sei­ner Behaup­tun­gen greift Wet­zel im übri­gen ledig­lich auf Zei­tungs­ar­ti­kel aus den „Leit– und Qua­li­täts­me­dien“ des Lan­des zurück (über­wie­gend Frank­fur­ter All­ge­meine Zei­tung, Süd­deut­sche Zei­tung, Frank­fur­ter Rund­schau – gibt's die noch? – und Spie­gel), denen er dann jedoch in einem gan­zen Kapi­tel sei­nes Buches („Nous som­mes tous Char­lie – vrai­ment?, S.150 – 170) mit Aplomb das Ver­trauen ent­zieht, womit er sich in gewis­sem Sinne selbst unglaub­wür­dig macht. Das tut er auch damit, dass er im erstaun­lich bana­len und lauen Schluss­ka­pi­tel, in dem er dazu auf­ruft, die­sem geheim­dienst­lich kon­sti­tu­ier­ten Levia­than die Loya­li­tät zu ent­zie­hen, dann doch sel­ber wie­der davon spricht, dass sich der Ver­fas­sungs­schutz wäh­rend der 13 NSU-Jahre im „künst­li­chen Wach­koma“ befun­den habe (S. 203). Also doch koma-bedingtes Ver­sa­gen und nicht „tie­fer Staat“, fragt man sich, und: Von wel­cher Loya­li­tät redet er?

Wet­zel legt nicht Rechen­schaft ab, wel­che Quel­len und Belege er wann, wie und warum ver­wen­det. An man­chen weni­gen Stel­len (im Falle Temme) tau­chen auch Fund­stel­len aus im Inter­net abruf­ba­ren Ermitt­lungs­ak­ten auf (z.B. S. 94ff), sonst bezieht er sich auf die genann­ten Zei­tungs­schnip­sel und eine über­aus über­sicht­li­che Lite­ra­tur– und Medi­en­liste, die durch­aus nicht alle rele­van­ten Quel­len, Doku­mente und Publi­ka­tio­nen zum Thema ent­hält, was vor allem vor dem Hin­ter­grund der Weite des Rund­um­schlags des Buches und der gro­ßen Geste sei­nes Autors doch etwas dürf­tig erscheint.