Andreas Temme führte mehr V-Personen als bislang bekannt – Bericht aus dem BT-UA

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Bericht aus dem Untersuchungsausschuss des Bundestages vom 15. Dezember 2016

Archivbild: Aishe und İsmail Yozgat vor dem OLG München (2013) © Robert Andreasch

In der letzten Sitzung des Jahres 2016 am 15. Dezember standen die Ermittlungen nach dem Mord an Halit Yozgat am 06.04.2006 in im Fokus der Abgeordneten. Auch der Fall des Verfassungsschutzmitarbeiters , der sich zur Tatzeit in dem Internetcafé aufhielt, wurde intensiv debattiert. Die seit Monaten angeforderten Akten aus Hessen wurden unterdessen erst 48 Stunden vor der Sitzung an den Bundestagsuntersuchungsausschuss geliefert, was zu scharfer Kritik aus den Reihen der Mitglieder führte. War das öffentliche Interesse an den bisherigen Sitzungen eher mäßig bis gering, so war bei dieser Sitzung die Besuchstribüne fast voll besetzt.

Von NSU-Watch

Zeug_innen:

  • Dr. Götz Wied (Staatsanwalt in Kassel)
  • Dr. Iris Pilling (LfV Hessen, ehemalige Vorgesetzte von Andreas Temme)
  • Michael Stahl (BKA, „BAO Trio“)

Same procedure as …

Der erste Zeuge, Staatsanwalt Wied, hatte die Leitung der Ermittlungen im Rahmen des Bereitschaftsdienstes übernommen. Er schilderte zunächst, wie die Ermittlungen am Tattag vor Ort anliefen. Nach der Obduktion am folgenden Tag stand fest, dass der Mord zur Česká-Serie gehört. Wied erklärte, die Ermittler_innen hätten dann versucht, unter anderem Kreuztreffer zu den anderen Morden der Serie zu finden. Im Vergleich zu seiner Befragung im November 2015 vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in Hessen ergaben sich in diesem Bereich keine neuen Erkenntnisse.

Dafür musste sich Wied vielen Fragen, warum kein rechtes Motiv des Mordes angenommen wurde, stellen. Wied sagte, es habe zwar keine konkreten Ansätze für ein rechtes Motiv gegeben, dies habe aber nicht bedeutet, dass ein solches ausgeschlossen worden sei. Frank Tempel (Die Linke) reagierte auf diese Haltung empört und forderte, wenn es keinen Ansatzpunkt [für ein Motiv] gibt, dann würde  eben nach diesem gesucht. Er stelle sich die Frage, warum der Ausschuss so oft zu hören bekomme, dass einem rechten Motiv nicht nachgegangen wurde, weil es keine direkten Ansatzpunkte gab. Dem versuchte Wied zu begegnen, indem er anführte, dass beispielsweise ein lokaler Neonazi überprüft wurde, weil dessen PKW in der Nähe des Internet-Cafés geparkt war. Da der PKW am Tattag aber von einer anderen Person genutzt worden war, bestand kein Zusammenhang.

Hinweise von Angehörigen nicht ernstgenommen

Auch in dieser Sitzung zeigte sich leider erneut, wie die Ermittlungsbehörden die Hinweise der Angehörigen nicht ernst nahmen. Der SPD-Abgeordnete Grötsch zitierte eine Aussage von İsmail Yozgat, welcher bereits wenige Tage nach dem Mord an seinem Sohn einen Polizeibeamten auf „Ausländerfeinde“ als mögliche Täter_innen hinwies, da unter den Opfern Türken, Sunniten und Aleviten waren. Wied entgegnete lapidar, da er dieses Motiv mit in der Einzeltäter-Theorie verorte, wären die Aussagen von İsmail Yozgat „ja nix neues“.

Susann Rüthrich (SPD) wollte von Wied wissen, warum gegen die Familie Yozgat ermittelt und ihr Telefonanschluss abgehört wurde, wo es doch auch keine konkreten Verdachtsmomente gegen diese gab. Wied verneinte Ermittlungen gegen die Familie. Der Grund für die Telefonüberwachung war vielmehr, dass es 2001 Hinweise auf ein Rauschgiftmittelgeschäft gab, das im örtlichen Zusammenhang mit dem Internetcafé stand. Diese Aussage könnte zweierlei bedeuten: entweder wurde die Familie Yozgat seit 2001 abgehört. Oder es wurde nach dem Mord eine juristische Begründung gesucht um die Familie abzuhören und als dieser in den Ermittlungen nicht gefunden wurde, schauten die Ermittler_innen nach allem möglichen um eine Telefonüberwachung richterlich genehmigt zu bekommen. Unverständlich, warum die Abgeordneten hier nicht weiter nachhakten.

Kritik am Umgang mit Temme

Mehrere Fragen gab es auch zu Andreas Temme, der nach dem Mord zwischenzeitlich als möglicher Verdächtiger galt, da er sich auf einen Zeug_innenaufrug der Polizei nicht gemeldet hatte und über Daten an einem Computer des Internet-Cafés identifiziert wurde.
Der CDU-Abgeordnete Hoffmann wollte wissen, warum die Durchsuchung bei Temme erst für den späten Nachmittag geplant war und vor Ort kurzfristig abgesagt und zeitlich verschoben wurde. Wied entgegnete, 17 Uhr sei generell schon eine ungewöhnliche Uhrzeit für eine Wohnungsdurchsuchung. Nicht durchsucht wurde an dem Tag dann deshalb, weil sich Temme vor Ort als Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) auswies. Bezüglich der Aussage eines Zeugen, der im Internetcafé bei Temme eine Plastiktüte gesehen habe, erklärte Wied, es seien bei der späteren Durchsuchung auch Plastiktüten beschlagnahmt worden. Allerdings gab es hier keinen positiven Treffer. Dass er gegen Temme keinen Haftbefehl erlassen habe, stellte Wied als „bis heute eine der schwersten Entscheidungen“ dar. Er verteidigte seine Entscheidung erneut vor den Abgeordneten und führte als Begründung an, dass unter anderem keine Tatwaffe bei Temme gefunden wurde.

Vorgesetzte Temmes sagt vor Ausschuss aus

Anschließend wurde Dr. Iris Pilling vernommen. Sie war 2006 direkte Vorgesetzte von Andreas Temme und sollte über diesen und dessen Quellen berichten. Nach eigener Aussage hatte sie vor dem Öffentlichwerden des NSU nie von diesem oder Bombenfunden bei Neonazis in Thüringen gehört.
Der Ausschuss-Vorsitzende Binninger (CDU) hatte zuerst Fragen bezüglich eines informellen Gesprächs zwischen dem BKA und dem LfV Hessen im März 2006, in dem seitens des BKA auf die sogenannte Česká-Serie und das angebliche Motiv „Ausländerextremismus“ hingewiesen wurde. Pilling berichtete, im Nachhinein sei es nicht nachvollziehbar, warum das BKA nicht das BfV sondern das LfV Hessen kontaktiert hatte. Sie führte dies auf einen persönlichen Kontakt zurück. Die Informationen wurden an die Mitarbeiter_innen im LfV weitergegeben und gebeten, auch die Quellen danach zu fragen. Allerdings gab es nach Aussage Pillings keine positive Rückmeldung. Im Vergleich zu ihrer Aussage vor dem PUA in Hessen gab es zu diesem Themenkomplex keine weiteren neuen Erkenntnisse.

Die Zwei von der Tankstelle

Daran schlossen sich die Fragen zu Andreas Temme an, die die restliche öffentliche Vernehmung bestimmten. Auf Frage von Clemens Binninger (CDU) nach den Aussagen des Geheimschutzbeauftragten Hess, der in einem abgehörten Telefonat zu Temme sagte „Ich sag ja jedem, wenn der weiß, dass sowas passiert, bitte nicht vorbeifahren“. Diese Aussagen schrieb Pilling dem flapsigen Humor Hess´ zu.
Irene Mihalic (Grüne) fragte dann genauer zu den Ermittlungen gegen Temme und den dienstlichen Konsequenzen für Temme. Pilling berichtete hier, dass er zunächst vorläufig suspendiert wurde. Sie habe sich sechs Wochen später mit Temme auf einem Autobahnrasthof getroffen. Dort habe Temme sein Verhalten erklärt und bedauert. Pilling betonte, sich bei diesem Treffen nur über persönliches unterhalten zu haben. Sie wisse, dass das Treffen ein „Geschmäckle“ habe; habe aber die Raststätte nur aufgrund ihrer verkehrsgünstigen Lage ausgewählt. Insgesamt schätzte sie Temme als engagiert ein und sei überzeugt, dass er nicht der Täter ist.

Petra Pau (Linke) legte den Fokus auf , die einzig bislang bekannte Quelle im Bereich Rechts, die Temme führte. Er habe enge Kontakte zu Thüringer Kameradschaften. Besonders zwei Personen fallen auf: Dirk W. und Corinna G. Beide waren in Kasseler Kameradschaften bekannt. Corinna G. war außerdem im Thüringer Heimatschutz und dürfte Beate Zschäpe also höchstwahrscheinlich gekannt haben. Von all diesen Informationen hatte Pilling aber noch nie was gehört.
Susann Rüthrich (SPD) fragte an diesem Punkt weiter, ob es nicht denkbar sei, dass Corinna G. die mögliche Verbindung bezüglich der Auswahl des Tatortes in Kassel sein könnte. Auch dazu hatte Pilling keine Anhaltspunkte.

Temme mit Kontakt zu weiteren V-Leuten

Weiterhin stand die Frage im Raum, ob Temme eventuell mehr Quellen in der Neonaziszene geführt haben könnte, als bislang angenommen. In öffentlicher Sitzung bestätigte Pilling zunächst dass der LfV-Mitarbeiter zumindest in Vertretung eine weitere rechte Quelle geführt habe. Laut Informationen der Frankfurter Rundschau seien es hingegen zwei Personen aus der rechten Szene gewesen. Um wen es sich dabei handelt und wie oft es zu Treffen kam, ist öffentlich bislang nicht bekannt. Ein weiterer V-Mann Temmes soll Informationen aus dem Umfeld der „Grauen Wölfe“ beschafft haben. Die Causa Temme war bereits umfassend Thema im hessischen Untersuchungsausschuss sowie im Münchener NSU-Prozess. Dass derartig relevante Informationen auch fünf Jahre nach Selbstenttarnung des NSU weiter Stück für Stück aus einzelnen Behörden gepresst werden müssen, spricht Bände über die vorherrschende Mentalität bei den Verfassungschutzbehörden. Diese stellen  weiterhin Quellenschutz über Aufklärung. Die hessische Landesregierung lässt bis heute keinen ernsthaften Aufklärungswillen zur Rolle ihrer eigenen Behörden und Ministerien erkennen und behindert so die Arbeit des PUAs im Landtag.

BAO-Ermittlungen zu Temme

Als letzter Zeuge in der öffentlichen Sitzung wurde Michael Stahl vernommen. Er war bei der „BAO Trio“ des BKA unter anderem mit den Ermittlungen zu Temme befasst und vernahm diesen sowie auch dessen Quelle Benjamin Gärtner.
Er schilderte, Temme habe bei den Vernehmungen 2012 gefasst und um Erinnerungen bemüht gewirkt, daher habe er dessen Aussagen als glaubhaft eingeschätzt. Stahl meinte aber, dass aufgrund der Hinweise, Temme wäre rechtem Gedankengut möglicherweise nicht abgeneigt gewesen, auch nach  Bezügen in die rechte Szene ermittelt wurde. Es habe sich aber daraus kein Tatverdacht ergeben. Allerdings bestätigte Stahl auch, dass die Ermittlungen zu Temme und Gärtner hauptsächlich dazu dienten, Hinweise auf eine Tatbeteiligung von Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos zu ermitteln.
Bei der Vernehmung von Benjamin Gärtner kam ebenfalls kaum etwas heraus. Da er nur eine beschränkte Aussagegenehmigung hatte und zudem ein Rechtsanwalt bei der Vernehmung dabei war, blieben insbesondere Fragen zur Arbeit mit dem LfV Hessen offen.

Stahl hatte außerdem im Zuge seiner Tätigkeit für die „BAO-Trio“ noch einige Mobiltelefone bzw. deren Registrierung in Funkzellen ausgewertet und unter anderem festgestellt, dass Zschäpe am 4.11.2011 mehrfach mit André Eminger telefonierte.

Der Mord an Halit Yozgat ist das zentrale Thema des hessischen Untersuchungsausschusses (PUA). Die neuen Erkenntnisse zu Temme dürften hier für weitere Nachfragen sorgen. Auch über eine erneute Vernehmung Temmes müsse man nachdenken, so erklärte es zumindest das Auschussmitglied im Bundestag der Grünen, Irene Mihalic,  gegenüber der Frankfurter Rundschau. Im Hessischen PUA sollen unterdessen nun doch die Angehörigen von Halit Yozgat und Enver Şimşek gehört werden. Ein Schritt, zu dem man sich im Bund auch nach zwei Untersuchungsausschüssen nicht durchringen konnte.