Prozessbeobachtung von Teilnehmer_innen der Bildungsreise aus Niedersachsen beim NSU-Prozess

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Reihe: Ortstermin

von Teilnehmer_innen einer Bildungsreise der Niedersachsen

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Ungewöhnlicher Andrang von Besucher_innen vor dem OLG in München. (c) a.i.d.a.

Am 20.10.2015 besuchten wir, die Teilnehmer_innen einer Bildungsreise der Rosa-Luxemburg-Stiftung Niedersachsen, den NSU-Prozess am Münchner Oberlandesgericht. Aus unseren Notizen entstand dieses mehrstimmige Protokoll.

– Durchs enge, graue Treppenhaus laufe ich allein in den zweiten Stock, sehe durch die offene Tür zwei Polizist_innen, falle förmlich auf die Tribüne. Die erste Reihe ist bereits belegt, im Gerichtssaal befinden sich noch keine Beteiligten, nur zwei Wachteln sitzen im Raum an Rechnern und sind auch gleich verschwunden.
– 8:45 Vor mir eine bullige stiernackige Gestalt, Kopf rasiert, zu breit für einen Sitz, weißes kurzärmliges Hemd. Nazi!? Links daneben eine junge Frau, lange schwarze Haare, wirkt nur halb so groß. Könnte er ihr gefährlich werden!? Irgendwann steht der Mann auf – sympathisches Gesicht. Nach einer Stunde Wartezeit erste Worte zwischen dem Bulligen und der Frau – ganz entspannt.
– Im Gerichtssaal ist es eng und es hängt ein Kreuz über einer Tür.
– Über einer Tür auch ein Kreuz. Ich frage mich: Was macht ein Kreuz hier? Wir sind doch nicht in der Kirche.
– Der Raum – hässlich. Tische im dunklen 70er Jahre Braun, die Stuhllehnen in mattem Dunkelorange. Auf den Tischen Schilder mit Funktionsbezeichnungen und/oder Namen der Verteidigung und der Angeklagten. Die Richter_innen brauchen keinen. Hinter der Richter_innenbank im Halbkreis Regale mit einer Menge an Ordnern. Wie Attrappen. Der Raum wirkt, als wäre er aus einer anderen Zeit, fast museal. Vielleicht könnte hier auch gleich ein Planspiel beginnen.
– 9:00 Uhr Mann in beige tritt auf, richtet etwas auf dem Tisch und geht wieder ab.
– Jemand erklärt uns, dass der Prozess vom Gericht nicht protokolliert wird. Jeder schreibt auf, was er selber wahrnimmt, das hat uns alle erstaunt. Beobachtungen der Angeklagten, die reinkommen: Eminger tätowiert, sehr massig, sehr platzeinnehmend, spielt mit Handy und Laptop. Gerlach spielt auch mit seinem Tablet.
– Die Angeklagten und ihre Anwält_innen lachen, begrüßen sich herzlich, wie alte Freunde, die sich lange nicht gesehen haben.
– 9:20 Uhr Eine Journalistin zur anderen: „Letztens saßen da so Mädchen ganz vorn auf den Presseplätzen, die haben gezeichnet und Beate Zschäpe zugeschaut und so. Und unsereins sitzt in der letzten Reihe.“
– 9:20 Der Nazianwalt, der aussieht wie ein Nazianwalt, gibt der Gerichtsverwaltung Anweisungen. Die Angesprochenen schauen angestrengt, konzentriert und um Verstehen bemüht zu ihm auf.
– Warten auf das Eintreten von Zschäpe, wie im Theater, wenn man wartet, dass der Vorhang sich endlich öffnet. Ich muss auf die Toilette, aber traue mich nicht, um diesen Moment nicht zu verpassen. Was ist nur los mit mir? Nachtrag: Verhandlungsbeginn wird wegen technischer Probleme auf 10:05 Uhr verschoben.
– 10:03 Die Anwälte Stahl und Klemke kommen gut gelaunt aus der gemeinsamen Kaffeepause. Setzen sich zu ihren Kollegen, den Anwälten mit den akkuraten Frisuren, den maßgeschneiderten Anzügen und den einschlägigen Vergangenheiten.
– Nahrath, Wohllebens Anwalt, sieht sehr einschüchternd aus, ein bisschen wie Dracula. Kann mir gut vorstellen, wie er Holocaustleugner_innen vertritt.
– Männer tragen weiße Krawatten, Frauen weiße Schals. Steppjacken und Burbury-Jacken. Es fehlen nur noch die Segelschuhe.
– André Eminger trägt ein Last Resort-Shirt, aber ich muss meinen Antifaschistische Aktion Sticker vom Notizheft abmachen. Politikfreier Raum, was soll das überhaupt sein?
– Wieso müssen Eminger und Gerlach die Handys nicht abgeben?
– Die Angeklagte kommen mit Laptop und Handys in den Gerichtsaal. Ich frage mich: Warum kommen sie nicht in Handschellen? Sie sind doch Kriminelle und Mörder.
– Frage mich, wie es dazu kommt, dass die Angeklagten Laptops und neue Tablets haben. Dann muss ich dran denken, wie ich beim Asylverfahren eines Freundes im Gericht war, und der keine zwei oder vier Anwälte bekam, sondern nur eine, die durch Spenden und auf Raten bezahlt wurde, und entsprechend vorbereitet war; aber dann denke ich auch, Moment mal, ist halt immer noch ein Rechtsstaat, wo man auch angeklagten Nazis, die wahrscheinlich im Knast landen werden, nicht alles wegnimmt. Aber ist schon eine komische Gleichzeitigkeit, dass die Angeklagten von genau jenem Rechtsstaat profitieren, den sie abschaffen wollen.
– Mehr Laptops im Gerichtssaal als in der Universitätsbibliothek.
– Um die 50 Laptops im Raum. Klick, klick, klick, klick.
– Die Angeklagten sitzen da einfach, sie sind präsent, die gehen da nicht weg. Muss an die Banalität des Bösen denken, v.a. wenn ich die zwei Angeklagten sehe, die jetzt so Woll-Pullis anhaben.
– Zschäpe, Gerlach und Wohlleben sehen eigentlich sehr bürgerlich aus. Unauffällig gekleidet, unaufgeregte Haarschnitte, Wohlleben trägt einen Jutebeutel. Vor ihren Laptops verschmelzen sie geradezu mit ihren Sitznachbar_innen links und rechts von ihnen. Wer Angeklagte, wer Verteidiger_in ist, lässt sich auf den ersten Blick nicht gleich ausmachen.
– Alle auf der Anklagebank sehen entspannt aus. Zschäpe hat zwar keine entspannte Körperhaltung, wirkt aber wie eine versierte Verteidigerin, nicht wie eine Angeklagte.
– Die Sensationslust: Wer im Besucher_innen-Raum ist der Verehrer von Zschäpe?
– Vor dem Prozess habe ich erfahren, dass ein Mann an der Zuschauerbühne in Beate Zschäpe verliebt sei. Ich frage mich, ob er heute kommt. Irgendwann war er da. Ich habe gefragt: Ist das der Mann? Mir wurde gesagt: Das ist er. Neben mir saß ein Idiot in weißem T-Shirt und grüner Hose. Ich frage mich: Gehört er zur Partei der Grünen? In der Pausenzeiten ist er unruhig und läuft hin und her vor der Glasscheibe, die die Zuschauer vom Gerichtssaal trennt. Ich frage mich: Will er da rein springen?

– 10:05 Ein schlaksiger Mann kommt herein. Er trägt ein zu großes glänzendes schwarzes Nachthemd mit einem Laborkittel darunter.
–  Die Bundesanwaltschaft kommt nicht rein, sie poltert rein.
– Die Bundesanwaltschaft sticht außer mit ihren roten Roben nicht hervor.
– Die Inszenierung hat begonnen. Mit Zschäpe und Wohlleben kommen vier Polizist_innen in den Saal. Die Verteidiger_innen ziehen ihre Roben an, die Bundesanwaltschaft trägt rot. Die Richter_innen erscheinen, alle stehen auf. Guten Morgen – Guten Morgen – Guten Morgen – Guten Morgen zu allen Seiten. Wir dürfen uns setzen.
– Der vorsitzende Richter begrüßt verschiedene Prozessbeteiligte, bei den Anwälten der Nebenklage beginnt er vorzulesen, ich bin gespannt, ob es 7 oder 8 sind und zähle mit – ungefähr 46.

– Ein beisitzender Richter verliest Spuren. Alle sehen gelangweilt aus. Ob er zufrieden mit seinem Job ist?
– Verlesung der Fundstücke, die im abgebrannten Wohnmobil von Böhnhardt und Mundlos gefunden wurden. 10-11 15-16 13-15 Ich verstehe nichts.
– 10:16 Die totale Versachlichung durch das Verlesen von Tabellenfeldern.
– Eine Tabelle wird vorgelesen, Spalte für Spalte, Wörter und Zahlen. Meine Augen werden müde.
– 10.20
Zahlen
Striche
Punkte>
Zahlen
Spuren
Spalten
tot.
– Wer hört zu? Eine Verlesung von Beweismitteln der Polizei Thüringen zwischen Nummerierung und medizinischen Fachbegriffen. 1.3.-3. 1.3.-4. TH01 D855 D12S394 15-16 18-26 Wer kann, guckt auf sein Monitor. Die Richter_innen haben keinen. Sie bemühen sich, nicht gelangweilt auszusehen. Es gelingt ihnen nicht.
– 10:25 Was ist das für eine Sprache, die der beisitzende Richter spricht? Programmiersprache?
– Spuren: Buchstaben, Zahlen, Satzzeichen, Spalten, Muster. Brigitte B., Jürgen B., Holger G., Plüschbär, Spielzeugpuppe, Wasserpistole. Wohin führen diese Spuren? Werden doch noch bislang „nicht verfahrensbekannte Unterstützer“ Gegenstand vom Prozess?
– Offensichtlich wurde ein Kinderschuh gefunden mit der DNA einer Frau, die bisher noch gar nicht auf dem Radar ist. Ein Kind war bei der Abholung des Wohnmobils dabei. Ich erinnere mich an die beiden Kinder von Eminger.
– Ein unbekanntes Kind im Umfeld des Trios.
– Ein Wattestiltupfer, ein Wattestiltupfer, ein Wattestiltupfer.
– Mit Wattestiltupfern kann man Abstriche von Schädelhöhlen machen. Das klingt grausam und ist so oder so ähnlich in diesem Gerichtssaal schon oft verlesen worden, in Zusammenhang mit den Morden des NSU. Wie muss das für die Angehörigen und Freund_innen gewesen sein?
– 10:35 Wohlleben verteilt Haribos (Tropifrutti) an seine Anwälte.
– Im Inneren des Plüschbärs befanden sich zwei Plastiktüten.
– Es ist zu 99,9999% sicher, dass der Spurenverursacher bei der Wasserpistole ein leibliches Kind von Jürgen und Brigitte B. war.
– Es ist eine Farce wie Beweismaterialien so penibel bei Gericht verlesen werden, während andererseits Emiger offensichtlich Naziaufdrucke trägt, die Anwält_innen ihre Mandant_innen im Zeug_innenstand nicht sehen können und alle Angeklagten auf ihre Laptops und Handys starren.
– Eminger drohen nach Einschätzung eines Genossen von NSU-Watch maximal drei Jahre Haft. Das ein Jahr in U-Haft und das lange Verfahren würden dann aber verrechnet werden. Ihm droht also nichts. Wut steigt auf. Kein Wunder, dass er so entspannt ist. Er ist angeklagt wegen Unterstützung des Trios. Angemietete Autos, Wohnungen, Bahncards von ihm und seiner Frau.
– 10:40 Zschäpe redet unablässig mit ihrem neuen, milchgesichtigen Anwalt. Es scheint, als suche sie vor allem einen Vertrauten, einen zum Plaudern. Sie beugt sich zu ihm, lacht, legt den Kopf schief.
– Gelangweilte Gesichter. Auch gelangweilt? – Nein! Frage mehrere. Antworten, alle: „Ich höre gespannt zu, beobachte aufmerksam …“ (verschiedene Sachen werden genannt). Ich sehe wieder in die Gesichter: Wo ist das Leuchten, wo das Aha in den Augen? Ich finde es nicht: Sind Langeweile und gespannte Aufmerksamkeit so ähnlich?
– Pressebank, Einfingerschreibsystem. Deutschland von Sinnen. „Ich erinnere mich nicht, beim besten Willen“, steht am häufigsten im Protokoll. Lachen.
– Beate Zschäpes Notebook sieht genauso aus wie meins.
– 10:50 Der Psychologe schaut in die Ferne. Er ist poliert verheiratet, Wohlleben auch.
– 11:20 Klemke scherzt. Wohlleben lacht. Klemke sichtlich zufrieden. Ich vergleiche den leicht ergrauten, sportlichen Enddreißiger mit grauer Strickjacke und einem Jutebeutel mit Jena-Aufdruck mit dem Bomberjacken-Nazi, als den ich ihn von Fotos aus den 90ern kenne. Er trägt Ehering und scheint mit dem Bild, das er abgibt, zufrieden. Die anderen auf der Anklagebank: „Juste Brave“. Alternde Nazis, vielleicht nicht mehr so fesch wie in den 90ern, aber immer noch selbstbewusst.
– Zschäpe schick gemacht, wie eine Anwältin. Distanziert. Betrifft sie das?
Wohlleben verschwindet, grau, Gummibärchen.
Beide scherzen. Viel zu nah.
ich muss an Hannah Ahrendt denken.
Götzel nicht präsent – autoritär? Nur Routine.
Nebenklage verplant, angespannt
Sie tun mir Leid.
– Ich habe erfahren, dass ein Angeklagter Holger Gerlach ausgesagt hat, dass er etwas mit der kriminellen Bande etwas zu tun gehabt. Der war mutig. Warum sagt Beate Zschäpe nichts? Warum schweigt sie ? Ich bin Foltergegner. Sie hat Glück hier angeklagt zu sein. In Guantanamo Bay hätte sie schon längst gesprochen.

– Kameras, die in der Wohnung angebracht waren. 1) nach draußen zur Straße. 2) am Türspion. 3) in Richtung Hof, Lilienweg. 4) in der Küche angebracht, Richtung Hof, Veilchenweg.
– Vier Videokameras, zwei Festplatten. Ein Aufnahmegerät.
– Was macht es mit Beate Zschäpe, wenn sie auf den Videos ihr Leben und ihre Mittäter_innen sieht? Was macht es mit den Nebenkläger_innen, sich diese ganze Scheiße auch anschauen zu müssen?
– Neben mir zwei Journalisten. dpa und SPON. Er: „Die Berliner Zeitung hat kolportiert, Zschäpe würde heute sprechen.“ Beide wissen, dass es nicht passieren wird. Beide lachen.
– Ein Zeuge kommt. Er sei vom Kriminalamt und habe die Videomaterialien bewertet. Er nennt seinen Namen und sagt, er sei 41 Jahr alt. Ich frage mich, ob alles stimmt, was er sagt, was seine Name und Alter betrifft. Viele Beamten haben schmutzige Hände in der NSU-Geschichte.
– Der Zeuge muss warten, alleine. Er wirkt ausgeliefert. Wie war das wohl für die Angehörigen?
– Ich bin verwundert, wie unprofessionell und dilettantisch die Videoauswertung mir erscheint. Ich sehe zwei Personen mit Taschenlampe, der Beamte des BKA spricht von einer Person. Nachfragen werden keine gestellt. Was sollen uns diese Bilder sagen? Personen sind nicht eindeutig identifizierbar, Kennzeichen nicht erkennbar. Den VLC-Player könnte ich besser bedienen.
– Wieso wird bei wichtigen Szenen das Bild nicht angehalten? Wieso fragt niemand was?
– Möglichkeiten, wie man die Videopräsentation besser hätte vorbereiten können:
(1) den rückwärtslaufenden Film eben andersrum vorspielen
(2) alle relevanten Videos vorher zusammenschneiden
(3) die genauen Timecodes vorher notieren
(4) Vergrößerungen der Personen, die im Bild nicht zu erkennen sind
(5) Standbilder vorbereiten
Also wenn ich bei einem so historischen Prozess das Videomaterial so präsentieren würde, das wäre mir peinlich.
– Die Presse, die schon bekannte Vorkommnisse kommentiert, leise lacht und stellenweise bei langsamen, stockenden Vorgängen im Prozessverlauf ungeduldig wird.
– Der 26.10.2011 Das Wohnmobil steht gegenüber des Eingangs Frühlingsstraße. Wir sehen Standbilder.
– Videoauswertung vom 26.10.2011 in der Frühlingsstraße. Jemand, bei dem es sich wohl um Böhnhardt handelt, kommt auf einem Fahrrad und betritt die Wohnung. Das Wohnmobil, das neun Tage später brennend im Fernsehen zu sehen sein wird, ist draußen vor dem Haus geparkt.
– Aussage Kripobeamter: Er sagt, was wir sehen. Zusatzinformationen: die Datums-, Zeitangaben im Video stimmen wahrscheinlich. Warum gerade diese Videosequenzen gezeigt werden, verrät das Gericht nicht.
– Die eigenen Überwachungskameras sind jetzt Teil der Beweisführung des Staates.
– In dem Video ist zu sehen, dass die Mörder regelmäßig Besuch von einem Mann, einer Frau und Kindern gehabt haben. Ich frage mich: Wo sind diese Besucher? Waren sie Geister gewesen?
– Ich habe mir das Untergrundleben immer anders vorgestellt. Die gehen halt einfach einkaufen.
– Gerlach zeigt sich uninteressiert am Prozess. Die anderen verfolgen die Videodokumentation. Auch Eminger, der zumeist kein Interesse am Prozessgeschehen zeigt, beachtet die Sequenz mit den Kindern und seiner mutmaßlichen Frau.
– Eminger stützt das Gesicht in die linke Hand und schaut auf ein DIN A4 Papier, auf dem ich von der Tribüne aus offiziell wirkende Stempel erkennen kann. Er schaut mehr auf die Blätter als auf das Videomaterial.
– 3.8.2011 Zschäpe bekommt Besuch von einer weiblichen Person mit zwei Kindern. Möglicherweise Susann Emiger. Möglicherweise? Ihr Auto parkt im Hinterhof, das Kennzeichen lässt sich nicht identifizieren. Mein Vertrauen in die moderne Technik ist getrübt, wohl zu viele Krimis gelesen.
– Es könnte, vermutlich, eine weibliche Person. Puh, so viele Unklarheiten nach so vielen Prozesstagen.
– Wo liegt die Erkenntnis?
-13:10 Uhr. Wohllebens Anwalt (nicht Nahrath oder Schneiders) fasst ihm freundschaftlich an die Schulter, flüstert ihm etwas zu. Beide lachen.
– Wie schaffst du es, mit dem Mörder, der Mörderin deines Angehörigen, deiner Angehörigen so dicht in einem Raum zu sitzen? Welche Distanzierungsstrategie brauchst du dafür?
– Bin müde, Kopf wird schwer. Die Luft wird knapp, habe Schwierigkeiten zuzuhören, noch mehr mitzuschreiben.
– Die Beamtin neben Zschäpe nickt ein.
– Bei 18:02:00 werde ich müde. Die Stimme des Zeugen schläfert ein. Die Bilderkennung erfordert Fokussierung. Die Tippgeräusche tragen mich fast in den Schlaf.
– Mein Blick wandert immer wieder zu dem Zuschauer, der von sich sagt, er sei in Zschäpe verliebt.
– Ist so ein Prozess in manchen Hinsichten nicht eher vermenschlichend statt entmenschlichend? Irgendwie wünschen sich alle, dass die beisitzende Richterin eine angenehmere Vorlesestimme hätte, dass der Beamte die Videoabspieltechnik besser beherrschen würde, dass die Anwälte immer vorbereitet wären, dass der Beamte vorne neben dem Senat auch mal stillhalten könnte…
– Götzl spricht genauso wie Lothar Matthäus. Darüber sollte ich eigentlich keine Witze machen, schließlich kommen andere auch aus Franken. Ich denke dann, hoffentlich ist Götzl intelligenter als Lothar Matthäus. Und jetzt wo ich drüber nachdenke, stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn Lothar Matthäus den NSU-Prozess leiten würde. Die Idee, was das für Konsequenzen hätte, ist noch nicht ausgereift, werde aber weiter drüber nachdenken.
– Ich verstehe nicht wirklich, was hier geschieht, es erscheint mir absurd, ernüchternd, entfernt von dem, worum es eigentlich geht.

– Gespräch in der Mittagspause: Bisher wurde noch niemand vereidigt. Vereidigung würde bedeuten, die Aussagen beachten zu müssen. So kann der Richter die vielen Lügen unbeachtet lassen.
– Mittagspause. Expertise eines Prozessbeobachters: Götzl wird Zschäpe lebenslänglich geben. Genugtuung? Keine. Im Gegenteil. Ernüchterung. Wie muss es den Angehörigen gehen? Wie Menschen, die von betroffen sind? Taubheit. Es fällt leicht nicht die Ausmaße, die Motive, die Struktur, die Menschenverachtung zu denken. Verhandelbarkeit.
– In der Pause. Ein Journalist: „Es ist schon interessant, dass die Frühlingsstraße wie ein Ford Knox ausgebaut war. Ein Ort für ihre Trophäen.“ Eine Journalistin: „Wenn ich das Geld gehabt hätte, hätte ich mir doch ein Haus in einer national-befreiten Zone gekauft.“
– In der Pause erfahren wir, welchen Sinn die Videos haben. Es soll bewiesen werden, dass die drei wirklich zusammen gewohnt haben und nicht Zschäpe allein, was sie wohl behauptet. Wo hat sie das behauptet? Bei ihrer Einlassung, bei ihrer ersten. Ich weiß gar nicht mehr, wo das war.
– Wer hat Zschäpe eigentlich gesagt, sie solle keine Aussagen machen? Oder war es ihre eigene Strategie? Aber warum hält sie sich dann noch daran, wenn ihre Anwälte ihr das gesagt haben, auf die sie keine Lust mehr hat? Hat sie nicht ein Misstrauensvotum gestellt? Warum sagt sie nichts?
– Welche Rolle haben Szeneanwälte?

– In der Regel müssen alle aufstehen, wenn die Richter nach der Pause in den Gerichtsraum kommen. Aber kurz vor ihrem Eintritt in den Saal kommt ein Polizist. Alle verwechseln ihn mit
den Richtern und stehen auf. Das war lustig.
– Was hören die Anwält_innen und Angeklagten über die Kopfhörer, deren Anschluss in den Tisch integriert ist?
– Die Senatsrichterin liest wie aus einem Hörbuch. Die Erzählung ist der Werdegang des Zeugen von Dolsperg. FAP | Körperverletzung | 3,5 Jahre | Zweidrittel verbüßt | Ausbildung zum Verkäufer | während der Haft Primärquellen NS gelesen | Rosenberg, Mein Kampf schon zuvor | weiter in Szene aktiv | FAP während Ausbildung | Internationales Haftkomitee | Anmelder Rudolf-Hess-Marsch | Unterbindungsgewahrsam | Ausstiegsgedanken | Brief Innenministerium | darauf angesprochen von BfV: kein Interesse an Aussteigern | Zusammenarbeit mit VS | 1998 Paar | 1999 geheiratet | für Interessenschwerpunkt Natur und Ökologie rechte Szene nicht das richtige | ganz aussteigen | bis Spiegelinterview 2014 loyal gegenüber BfV | 2001 Hof in Schweden, umgezogen | raus aus der Szene | aufs Land ohne Strom und fließend Wasser | www.naturglaube | Studenten aus aller Welt zu Gast
-13:40 Ein Hörbuch über Dolsperg, geläutert durch den Knast, der zum Bundesamt für Loyalität empfinden kann. Ein absurder Gedanke.
– Nach der Mittagspause die spannendste Aussage. Ich kann nicht mehr zuhören. Ich muss das nachlesen.
– Freibeweis.
– Verlesung Aussage von Dolsperg im Freibeweisverfahren. Was ist das? Wieder was googlen. 1994 Kontakt zum Verfassungsschutz. Er wollte aussteigen, wurde dann doch Spitzel. Von Dolsperg war auch in Hetendorf. Hatte ich das vergessen?
– 14:00 „Diese Vernehmung ist in keiner Weise interessengeleitet, sondern dient der Wahrheitsfindung.“ Gelächter.
– Von Dolsperg sagt aus: „Es war klar, um wen und und was es ging.“ Wie kann es sein, dass auf der Anklagebank niemand vom Verfassungsschutz sitzt?
– 14:15 Aus der Aussage von von Dolsperg: „Wer will schon bei einem Rechtsterroristen Handwerkskurse belegen oder auf dem Hof arbeiten?“ Und: „Wenn das BfV 1998 auf meine Informationen reagiert hätte, gäbe es zwölf Tote weniger.“
– Die Akten von von Dolsperg wurden um November 2011 geschreddert. Sein Vorgesetzer Alex wusste von der Anfrage Kapkes 1998 zwecks des geplanten Untertauchens des Trios. Von Dolsperg sollte dem nicht weiter nachgehen. Die Behörden haben bewusst auf die Verfolgung des Trios verzichtet. „Hätte das BfV damals richtig auf meine Anfrage reagiert, gäbe es heute zwölf Tote weniger.“
– „Dass ich jede Form von Extremismus ablehne und einfach nur Bauer sein will.“
– Zitat: „Ich lehne jede Form von Extremismus ab. Ich will einfach nur Bauer sein.“
– Eine organisierte Neonaziveranstaltung, es findet jedoch kein Angriff auf die naheliegende Unterkunft statt. Lob von der Polizei.
– „Meine Frau war in Lagos, weil meine Frau Kontakt zu Hippies pflegt.“
– Mir kommt das alles sehr bekannt vor. Ist ja auch schon vom 10.3.2014. Warum wird das jetzt verlesen?

– Allein an diesem Tag hatten wir so viele Belege, dass es sich nicht um ein Trio handeln kann, dass ich mich frage, ob sich der Richter eigentlich nicht schämt, immer noch über ein Trio zu sprechen.
– Sachen, die zu klären sind: – Was hat es mit den Krawatten der Anwälte auf sich? – Ob es wohl eine Obergrenze gibt, wie viele Verteidiger_innen man haben darf? – Was soll dieses Kreuz im Gerichtssaal? – Durch welchen Eingang wohl Zschäpe und Wohlleben hereingeführt werden? – Was haben Schulze und Gerlach genau ausgesagt vor Gericht? – Was ist dieses Katzenzimmer in der Frühlingsstraße? Vor wem hat von Dolsperg ausgesagt? – Die einzelnen Anwält_innen googlen.
– Eminger soll die Nummer 4 des NSU sein. Eminger eilt nach der Verhandlung aus dem Gericht. Wenige Meter von mir entfernt. Oh Gott, er hat mich erkannt.
– Dass Menschen, die des Mordes an zehn Menschen angeklagt sind, innerhalb von drei Stunden ihren Wohnungsflur zwei Mal fegen, bekomme ich im Kopf nicht zusammen.