8. Prozesstag, 05.08.2020 – Prozess zum Mord an Walter Lübcke und zum Angriff auf Ahmed I.

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Am 8. Verhandlungstag zum Mord an Walter Lübcke und zum rassistischen Angriff auf Ahmed I. steht die Einlassung des Hauptangeklagten Stephan Ernst, die er durch seinen Verteidiger RA Kaplan verlesen lässt, im Mittelpunkt. Darin beschreibt er eine von Gewalt geprägte Kindheit, in der er nach der Anerkennung seines Vaters gestrebt habe. Während sich Ernst in seiner Aussage massiv als Opfer inszeniert, findet die Geschichte seiner neonazistischen Angriffe seit Ende der 1980er nur in Nebensätzen statt. Zum Mord an Walter Lübcke gibt er an, er sei mit Markus Hartmann vor Ort gewesen und habe geschossen. Danach folgt eine Befragung durch Mitglieder des Senats, bei der Stephan Ernst mehrfach seine Aussage zu dem änderte, was er und Hartmann mit der Waffe beim Angriff auf Walter Lübcke geplant hätten. Aus eventuellen Warnschüssen wurde der Plan, „auf jeden Fall“ auf Lübcke zu schießen.

Zu Beginn des 8. Verhandlungstags stellt RA Clemes von der Verteidigung Hartmann einen Befangeneitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter Sagebiel, weil dieser keine Maßnahmen aufgrund der Veröffentlichung der Vernehmungsvideos von Stephan Ernst durch das Youtube-Format „Strg-F“ des NDR ergreife. Fast alle Verfahrensbeteiligten lehnen in ihren Stellungnahmen die Veröffentlichung ab, sehen aber keine Handhabe des Gerichts und keine Befangenheit des Vorsitzenden Richters.

Danach verliest RA Kaplan die Einlassung seines Mandanten Stephan Ernst, diese ist in der ersten Person verfasst. Zu Beginn wird betont, dass Ernst vielen Menschen Schmerzen bereitet habe und diese den Anspruch darauf hätten, zu erfahren, was passiert sei und wie es dazu gekommen sei. Er nennt dann seine persönlichen Verhältnisse, seinen Namen, die Namen seiner Eltern. Er sei seit 2001 verheiratet habe eine 16-jährige Tochter und einen 18-jährigen Sohn. Die Einlassung widmet sich dann ausführlich der Kindheit des Hauptangeklagten, die er als „Hölle aus Gewalt, Jähzorn und Einsamkeit“ beschreibt, dabei reiht er zahlreiche Beschreibungen der Alkoholkrankheit seines Vaters und der damit verbundenen Gewalt gegen seine Mutter und gegen ihn, Stephan Ernst, aneinander. Immer wieder betont Ernst hier, dass er um die Liebe seines Vaters „gebuhlt“ habe. Er habe seinen Vater gehasst und habe Phantasien gehabt, ihn umzubringen.

Ernst beschreibt in seiner Einlassung eine Episode aus der Kindheit, in der er sich mit einem „türkischen Jungen“ aus seiner Klasse angefreundet habe, sein Vater habe ihm das allerdings verboten und sich rassistisch diesbezüglich geäußert. Es geht danach um einen Umzug, weg aus Wiesbaden. Hier beschreibt Ernst ein weiteres wiederkehrendes Motiv seiner Einlassung neben der Gewalt und dem Wunsch nach Anerkennung durch seinen Vater: Den Verlust von Freunden, hier durch den Umzug, die Schwierigkeiten Anschluss zu finden und einen daraus resultierenden Rückzug, er habe außerdem schon als Kind Angstzustände gehabt. Aus dem Wunsch nach Anerkennung durch den Vater habe er schließlich dessen „Abneigung gegen Ausländer“ übernommen und begonnen zuhause rassistisch zu hetzten, obwohl ihn seine Mutter habe daran hindern wollen.

In die Beschreibungen seiner späten Jugend flicht Ernst in Nebensätzen seine massiven rassistischen Angriffe bis zur seiner Haft ein. Der Brandanschlag auf ein von Migrant*innen bewohntes Haus, der rassistische Messerangriff auf einen Imam und der versuchte Sprengstoffanschlag auf eine Unterkunft für Geflüchtete erscheinen in der Einlassung als Nebensächlichkeiten. Vielmehr habe ihm sein „Hass auf Ausländer“ eine Orientierung gegeben. Ernst sprach dann davon, dass er sich während sei Haftzeit politisch radikalisiert habe, dort habe er auch den Wunsch bekommen, sich politisch zu organisieren und „nicht alleine zu sein“. In Haft habe er auch angefangen, Notizen über Personen anzulegen, an denen er sich rächen könne, um seine „Ehre wiederherzustellen“.

Während seiner Haftzeit in Kassel habe er „Leute aus der Techno-Szene“ kennengelernt, die sehr national eingestellt gewesen seien. Zu diesen hätte er Kontakt gehalten, habe dann durch sie auf einer Party „jemanden von der NPD kennengelernt“, darüber Personen von der Freien Kameradschaft Kassel, und auch Leute von den Autonomen Nationalisten, dort sei er dann bis zu seinem Ausstieg gewesen. Wer diese Personen waren, wird in der Einlassung nicht näher benannt. Mit diesen sei er regelmäßig auf Demonstrationen gefahren, bei denen sie die „Konfrontation mit der Antifa“ gesucht hätten. „Die Anti-Antifa-Arbeit begann“: Sie hätten Informationen über Leute gesucht, die sich gegen Rechts engagiert hätten, die Demonstrationen hätten immer in Gewalt geendet. Doch auch damals habe er Antisemitismus und die Rede von „höher- und minderwertigen“ Menschen nicht verstehen können. Er betrachte Adolf Hitler als Verhängnis für Deutschland. „Ich empfand mich nicht als Nazi.“ Seine Themen seien Überfremdung und das „Aussterben von Deutschen“ gewesen. Markus Hartmann kenne er aus dieser Zeit in der Szene. Nach wiederholten Beleidigungen gegen seine Frau sei er ausgestiegen und wollte „Teil der Gesellschaft“ sein.

Er habe Hartmann auf der Arbeit wieder getroffen, erst hätten sie unpolitische Gespräche geführt. Hartmann habe ihn gefragt, ob er mit in den Schützenverein kommen wolle, Ernst habe eingewilligt. Die Einlassung von Ernst knüpft hier an die wiederkehrende Motive der Erzählung an: Hartmann sei sein Mentor gewesen, er habe großen Respekt vor ihm gehabt und sei stolz gewesen, ihn zu kennen, er sei für ihn eine Mischung aus Freund und Vater gewesen. Hartmann habe die Gespräche gelenkt, diese seien immer politischer geworden, er habe auch immer öfter von Waffen gesprochen. Er habe davon gesprochen, dass es möglich sei, Dekowaffen wieder schussfertig zu machen, Ernst habe für ihn auf der Fräse Teile für Waffen hergestellt. Irgendwann habe Hartmann erzählt, dass er illegale Waffen und Munition herstelle. Hartmann habe gesagt, die Deutschen müssten sich bewaffnen, die politische Entwicklung ginge in Richtung eines Bürgerkrieges, man müsse das Abendland verteidigen. Damals sei ihm, Ernst, das schlüssig erschienen. Sie seien gemeinsam in den Wald zum Schießen gegangen. Das Wiedersehen mit Hartmann sei eine Mischung aus seiner Vergangenheit als Neonazi sowie eine „Zeit in der Prepper-Szene“ gewesen. Hartmann habe ihn manipuliert, radikalisiert und aufgehetzt, er habe es ihm erlaubt, so mit ihm umzugehen, er sei emotional von ihm abhängig gewesen.

Ernst geht dann auf gemeinsame Aktivitäten mit Hartmann ein, sie seien beim „Viertagesschießen in Melsungen“ gewesen und hätten Survivalwanderungen im Wald unternommen, sie seien nach Frankreich, Tschechien und Prag gefahren, Hartmann habe ihn zu AfD-Stammtischen mitgenommen. Sie seien auf Demonstrationen nach Erfurt, Chemnitz und Kassel gefahren. Hartmann habe mal eine Zielscheibe mit dem Gesicht von Angela Merkel gehabt und diese auch mit in den Verein gebracht. Hartmann habe gesagt: „Lübcke ist der Nächste.“ Lübcke sei jemand, an den man rankommen könne, im Gegensatz zu Merkel. Nach Nizza und Chemnitz hätten sie sich immer weiter in Bezug auf Lübcke radikalisiert. Dies habe er, Ernst, als plausibel und nachvollziehbar empfunden. Nach der Bürgerversammlung in Lohfelden habe Hartmann gesagt, dass man ihm einen Besuch abstatten sollte. Sie seien 2016 zum Haus gefahren, um sich umzusehen, das sei das erste Mal gewesen.

Die Einlassung wendet sich nun dem Mord an Walter Lübcke zu. Sie hätten sich Mitte/Ende Mai 2019 bei Hartmann getroffen und die falschen PKW-Kennzeichen vorbereitet, sie hätten für den 1.6.2019 den Treffpunkt bei der Autowaschanlage ausgemacht. Zur Tatnacht sagt Ernst, sie hätten „aus der Situation heraus“ entscheiden wollen, ob sie Lübcke zur Rede stellen oder die Waffe einsetzen würden: „Den Einsatz der Waffe zogen wir in Betracht.“ Sie hätten vorher darüber gesprochen, dass der Einsatz der Waffe eine Alternative sei. Er, Ernst, habe die Waffe an dem Abend bei sich gehabt. Sie hätten dann am Haus Walter Lübcke gesehen und seien von der angrenzenden Pferdekoppel hinübergegangen. Hartmann habe ihn aufgefordert, Walter Lübcke mit der Waffe zu bedrohen. Er habe, auf der Terrasse angekommen, die Waffe gespannt und zu ihm gesagt, er solle sich nicht bewegen und habe ihn in den Stuhl gedrückt. Er, Ernst, habe gesagt: „Für sowas wie dich gehe ich jeden Tag arbeiten“, und Hartmann habe gesagt: „So, Lübcke, Zeit zum Auswandern“. Walter Lübcke habe geschrien, sie sollten verschwinden, habe wieder aufstehen wollen, da habe er, Ernst, geschossen, vielleicht habe er auch nur auf so eine Reaktion gewartet, um zu schießen, gibt er in seiner Einlassung an. Sie seien dann weggerannt. Im Auto hätten er und Hartmann ausgemacht, die Waffen verschwinden zu lassen. Ernst sagt in einem kurzen Satz, mit dem Angriff auf Ahmed I. habe er nichts zu tun und schließt seine Erklärung mit einer Entschuldigung an die Familie Lübcke und mit dem Wunsch, dass der Vorsitzende Richter Sagebiel ihn bei seinem Ausstiegswunsch unterstützen möge. In seiner ersten Vernehmung habe er auf Anraten von RA Waldschmidt Markus Hartmann rausgehalten, bei seiner zweiten Vernehmung habe er auf Anraten von RA Hannig falsche Angaben gemacht. Er stehe dem Senat, der BAW und der Nebenklage, Familie Lübcke, für Fragen zur Verfügung.

Zunächst will Ernst keine weiteren Fragen mehr beantworten, aber nach den Bitten des Vorsitzenden Richters, er möge wenigstens ein paar Fragen zum Tatgeschehen beantworten, willigte er ein. Die Mitglieder des Senats befragen ihn nach den Ausspähungen und zur Tat selbst. Dabei zeichnet Ernst am Richtertisch Wege auf Fotos des Geländes in Istha ein und stellt die Körperhaltung Lübckes auf einem Stuhl sitzend nach. Ernst gibt an, er sei vor dem Mord an Walter Lübcke mehrfach bei dessen Haus gewesen. 2016 gemeinsam mit Hartmann, um zu sehen wie die Umgebung ist, 2017 allein, dabei habe er mit einer Dashcam gefilmt, um herauszufinden, welches Auto Lübcke fahre, dieses hätten er und Hartmann am Regierungspräsidium ausfindig machen und beschädigen wollen, sie hätten dabei auch daran gedacht, ein Drohschreiben zu hinterlassen. 2018 sei er noch einmal mit Hartmann in Istha gewesen. Auf Frage des Vorsitzenden Richters sagt Ernst, er habe mit der Wärmebildkamera am Abend des Mordes versehentlich ein Bild gemacht, am Vorabend sei er nicht da gewesen.

Stephan Ernst ändert während der kurzen Befragung durch den Senat mehrfach seine Aussage zu dem, was er und Hartmann mit der Waffe beim Angriff auf Walter Lübcke geplant hätten. Aus eventuellen Warnschüssen wurde der Plan, „auf jeden Fall“ die Waffe gegen ihn einzusetzen. Im Anschluss daran stellt Verteidigung Hartmann einen Antrag, das Gericht möge den psychiatrischen Sachverständigen Prof. Dr. Leygraf leiten, in seinem Gutachten auf die Aussagefähigkeit von Ernst einzugehen, und beantragt die Anhörung eines Sachverständigen zu Aussagepsychologie. Ernst gibt danach auf Frage des Vorsitzenden Richters an, dass er deshalb mehrfach seine Aussage zum Tatablauf geändert habe, weil sein ehemaliger Anwalt Frank Hannig sich die Version, in der Hartmann schießt, ausgedacht habe, um Hartmann zu einer Aussage zu bringen.

Der Bericht bei NSU-Watch Hessen