20. Prozesstag, 22.09.2020 – Prozess zum Mord an Walter Lübcke und zum Angriff auf Ahmed I.

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Am 20. Verhandlungstag war Rechtsanwalt Frank Hannig, ehemaliger Verteidiger des Hauptangeklagten Stephan Ernst, als Zeuge geladen. Ernst hatte angegeben, dass dieser ihm zu einem falschen Geständnis geraten habe. Hannig verweigerte fast vollständig die Aussage. Die Verteidigung Hartmann gab eine Erklärung zur Aussage von Hartmanns Ex-Partnerin ab. Diese sei unglaubwürdig. Sie gehen nun davon aus, dass Hartmanns Zeit in der JVA „dem Ende zugeht“. Sagebiel kündigte an, dies zu prüfen und forderte Stellungnahmen bis Montagabend. Nach Hannig sagten zwei ehemalige Arbeitskollegen von Stephan Ernst aus. Er hatte in seinen Geständnissen angegeben, dass er ihnen Waffen verkauft habe, auch weil diese ähnliche politische Ansichten hätten wie er. Die Waffenkäufe bestätigten beide, gaben aber an, Ernsts Ideologie nicht zu teilen.

Zu Beginn des Prozesstages gab Rechtsanwältin Schneiders von der Verteidigung Hartmann eine Erklärung zur Aussage von Lisa Marie D., der ehemaligen Partnerin von Markus Hartmann, ab. Zunächst stellte Schneiders dar, dass D. einige Aussagen, die auch Grundlage der Anklage gegen Hartmann sind, relativierte und sich beispielsweise die Unterscheidung von Ernst als „Macher“ und Hartmann als „Denker“ auf deren allgemeine Persönlichkeitsmerkmale bezögen und nicht auf politisches Handeln oder den Mord an Walter Lübcke. Das sei allerdings nur in Betracht zu ziehen, wenn man ihr glauben würde. D.s Angaben seien allerdings insgesamt unglaubhaft. Hartmanns zweiter Verteidiger, Rechtsanwalt Clemens ergänzte die Erklärung seiner Kollegin: er denke, „die Zeit des Mandanten in der JVA geht dem Ende entgegen“. Der Vorsitzende Richter Sagebiel antwortete, der Senat werde darüber beraten, „das wird in Kürze hier auf den Tisch kommen“. Später am Tag forderte Sagebiel alle Verfahrensbeteiligten auf, bis nächsten Montag (29.9.) Abend Erklärungen dazu abzugeben.

Dann betrat der ehemalige Verteidiger von Stephan Ernst, Frank Hannig, mit seinem Zeugenbeistand Rechtsanwalt Alfred Dierlamm den Zeugenstand. Sagebiel sagte, Ernst habe Hannig teilweise von der Schweigepflicht entbunden. So könne er sich dazu äußern, welche Person ihn mit dem Mandat beauftragt habe, dazu, was Ernst ihm zum Tatabend gesagt habe, und dazu, ob der Inhalt der Einlassung aus dem Januar und Februar 2020 seine Idee gewesen sei. Ernst bestätigte die Entbindung. Hinzugefügt wurde dann auch die Befreiung bezüglich eines Gespräches zwischen Ernsts aktuellem Verteidiger Kaplan und Hannig. Hannings Zeugenbeistand Dierlamm verlas daraufhin, dass Hannig ein Recht auf Aussageverweigerung nach § 55 habe, nach dem er nicht sich selbst oder andere belasten müsste. Es bestehe eine Verfolgungsgefahr, die Aussage von Stephan Ernst sei geeignet, einen Anfangsverdacht zu begründen. Alle Themen stünden in einem Zusammenhang, daher habe Hannig ein komplettes Verweigerungsrecht. Nachdem Verfahrensbeteiligte Stellung dazu nahmen und nach einer Beratungspause des Senats, verkündete Sagebiel, Hannig habe ein Aussageverweigerungsrecht, lediglich zur Mandatsanbahnung sehe er es nicht. Dazu ließ sich der Zeuge ein. Hannig erzählte, ein Justizvollzugsbeamter hätte ihn angerufen, der Stephan Ernst sitze in Haft und brauche einen Anwalt, „jemanden wie Sie“. Hannig führte aus, das hänge zusammen mit einem Mandat für einen Justizvollzugsbeamten, das bundesweit für Aufmerksamkeit gesorgt hätte, daher würden ihn Justizvollzugsbeamte kennen. Sie hätten dann in der Kanzlei überlegt, ob dies zu ihrem „Image“ passe. Er, Hannig, habe dann einen Brief an Ernst geschrieben, in dem er sich vorgestellt habe, und schrieb „wenn das so ist, dass sie jemanden brauchen, dann melden Sie sich“. Danach wurde der Zeuge entlassen.

Nach einer Mittagspause wurde der Zeuge Timo A. in den Gerichtssaal gerufen. Er ist ein ehemaliger Arbeitskollege von Ernst und Hartmann. Auf Nachfrage sagte er, er kenne Hartmann aber nur vom Sehen. Er arbeite nicht mehr bei der Firma, weil diese ihm nahegelegt hätte, einen Aufhebungsvertrag zu unterschreiben, „die wollen nicht mit Einem zu tun haben, der Waffen gekauft hat.“ Auf Frage des Richters Sagebiel nach den Waffen gab A. an, er habe 2013/2014 einen Revolver von Ernst gekauft, er habe Suizidabsichten gehabt. Sagebiel fragte, wie es dazu gekommen sei, woraufhin A. antwortete, sie hätten sich über Schießsport unterhalten, Ernst sei Bogenschütze gewesen und er, A., habe Zuhause ein Luftgewehr. Dieses sei verbogen gewesen und Ernst habe angeboten, es im Schützenverein zu reparieren, was er dann auch getan habe. Ernst habe ihn dann gefragt, ob er was „Richtiges“, was „Scharfes“ wolle. Das habe dann genau gepasst, habe er, A., gedacht, falls es nicht mehr gehe, könne er sich damit das Leben nehmen. Als er sich das Luftgewehr bei Ernst abgeholt habe, habe dieser ihm zwei Waffen gezeigt, eine Pistole und ein Gewehr. Er habe eine halbe Woche Bedenkzeit gehabt und sich dann für die Pistole entschieden, so A. weiter. Die Übergabe habe bei Stephan Ernst stattgefunden, er habe ihm die Waffe und Munition in einem Karton über den Zaun gereicht. Auf Nachfrage Sagebiels sagte der Zeuge, er habe Ernst nicht gut gekannt. Der Vorsitzende Richter hinterfragte dies, da zu einem Waffenkauf ja ein Vertrauensverhältnis gehöre. A. sagte, darüber habe er nicht nachgedacht, er haben einen „Tunnelblick“ gehabt. Sagebiel fragte nach gleichen Ansichten. A.: „Nein gar nicht.“ Über Politik hätten sie sich „weniger bis gar nicht“ unterhalten, er kenne Ernsts Ansichten nur aus den Medien, auch bei Kagida, dem Kasseler Pegida-Ableger, sei er nicht gewesen.

Im Anschluss wurde als letzter Zeuge des Tages Jens Lu. gehört. Auch er ist ein ehemaliger Arbeitskollege von Stephan Ernst. Er kenne den Angeklagten Hartmann nicht, so Lu. Stephan Ernst sei für ihn nur ein Kollege gewesen, privat hätten sie sich nicht getroffen. Auch er arbeite nicht mehr in der Firma, weil er Waffen gekauft habe und ihm die Firma einen Aufhebungsvertrag nahegelegt habe. Er habe Waffen von Ernst und auf dem Flohmarkt gekauft. Sagebiel wunderte sich, ob man auf dem Flohmarkt einfach Waffen kaufen könne. Der Zeuge sagte, das wisse er nicht, aber er habe dort funktionierende Waffen gekauft. Von Ernst habe er einen Vorderlader gekauft. Sagebiel sagte, das sei ja eine Waffe aus der „grauen Vorzeit“, und fragte, ob er noch etwas anderes bei Ernst gekauft habe. Lu. sagt, er könne sich nicht mehr so erinnern, er sei nervlich… Sagebiel: „Zerrüttet, etwas.“

Lu. sagte, er habe mehrere Waffen bei Ernst gekauft, aber er wisse nicht, was. Der Vorderlader habe ihn an Piratenfilme erinnert, so etwas habe er immer haben wollen, es sei dann „außer Kontrolle“ geraten, aber er habe nur gesammelt: „Ich hatte nie was Böses vor, ich wollte nie was Böses tun“. Sagebiel fragte auch Lu., ob er ein besonderes Vertrauensverhältnis zu Ernst gehabt habe, wenn er illegale Waffen von ihm kaufe. Lu. antwortete, er habe ihn von der Arbeit gekannt, er sei immer „ruhig, höflich und hilfsbereit“ gewesen. Sagebiel fragte nach gemeinsamen politischen Ansichten. Lu. antwortete, er sei kein Rechter. Sagebiel entgegnete, das sage ja jeder, das habe man hier schon öfter gehört und dann habe es sich als anders rausgestellt. Er hakte nach, ob Lu. die Gedankenwelt teile, dass sich Deutsche zur Verteidigung bewaffnen müssten, dies verneinte Lu. Sagebiel: „Das war ein leises Nein“. Auf weitere Nachfragen sagte Lu., er sei nicht bei der AfD oder Kagida gewesen.

Richter Dr. Koller sagte, Lu. wisse ja, was Ernst vorgeworfen werde, und fragte, ob dieser auch etwas zum Verstecken der Waffen wisse. Ernst hatte angegeben, dass Lu. ihm dabei geholfen habe. Lu. antwortete, das habe er erst auf dem Polizeirevier nach der Hausdurchsuchung bei ihm erfahren, vorher habe er davon gar nichts gewusst. Auch auf nachfolgende Fragen verneinte Lu. vehement, Ernst beim Vergraben der Waffen nach dem Mord an Walter Lübcke geholfen zu haben, er habe an dem Abend „ganz normal meine Arbeit gemacht“. Sie hätten sich in der Gruppe darüber unterhalten, „was durch die Medien kam“ – also den Mord an Walter Lübcke – und mit Ernst habe er auch nochmal darüber gesprochen, sagte Lu. auf Frage, an was er sich bezüglich dieser Nachtschicht erinnere. In seiner Firma fiele es während der Nachtschicht auch auf, wenn jemand ein bis zwei Stunden weg sei, das sei üblich. Sagebiel fragte, ob sich Lu. mit Ernst über Politik unterhalten habe. Dieser antwortete, man habe 2015 schonmal über die „Flüchtlingssituation“ gesprochen, dass das schlimm sei und sich nicht nur Deutschland, sondern die ganze Welt darum kümmern solle. Sagebiel hielt aus der richterlichen Vernehmung vor, dass Lu. dort angegeben habe, dass die „Grenzöffnung“ ein Thema gewesen sei und er gefunden habe, dass Merkel schuld sei. Lu. sagte, das könne gut sein. Sagebiel kam dann auf das Thema „vorbereitet sein“ zu sprechen. Lu. sagte, das sei kein Thema für ihn gewesen, er habe nur gesammelt. Auf die Frage, ob Ernst so etwas gesagt habe, antwortete Lu. daran erinnere er sich nicht. Sagebiel: „Ich verstehe nicht, warum Leute im Gerichtssaal so ein kurzes Gedächtnis haben“, sonst sei das nicht so. Lu. sagte dann auf Frage, dass „Merkel muss weg“ für ihn heiße, dass sie abgewählt werden müsse.

Richterin Adlhoch fragte den Zeugen danach, dass bei ihm Bilder und Bücher aus der Zeit des Nationalsozialismus gefunden worden seien, und ob er mit Ernst darüber gesprochen habe. Lu. sagte, er habe erzählt, dass er sowas sammele, daraus mache er keinen Hehl, aber „dass ich die Ideologie vertrete: nein“. Er sammele die Dinge nur als Wertanlage. Von der Zugeneigtheit von Ernst zum Nationalsozialismus habe er erst im Nachhinein erfahren, sagte Lu. auf Frage. Richter Koller hinterfragte, warum er als Sammler von Waffen auch Munition gekauft habe. Lu.: „Das war Dummheit von mir, reine Dummheit.“ Er habe aber nie geschossen, Elmar J. kenne er nicht. Nebenklagevertreter Elberling fragte, wie Ernst zur Arbeit gekommen sei: „Meist mit dem Fahrrad“, antwortete der Zeuge. Er fragte auch nach rassistischen Äußerungen und Gewaltfantasien, die Ernst laut des Zeugen Holger M. auf der Arbeit geäußert haben soll. Der Zeuge sagte, das könne sein, man sage „ja so viel einfach raus“, meine es aber nicht ernst. Der Verteidiger von Stephan Ernst, RA Kaplan, erinnerte den Zeugen daran, dass er sich strafbar mache, wenn er vor Gericht lüge und hakte dann nach, ob Lu. mit der von Ernst gekauften Waffe zur Probe geschossen habe, was dieser daraufhin bestätigte. Sie seien dafür auf einen Parkplatz beim Firmengelände gegangen, dort habe er einen Probeschuss abgegeben. Nach der Aussage von Lu. und einer Erklärung von Rechtsanwalt Clemens dazu, dass diese nicht sonderlich ergiebig gewesen sei, endete der Prozesstag.

Der Prozesstag bei NSU-Watch Hessen