NSU-Untersuchungsausschuss: Ende der Beweisaufnahme

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Bericht von der 72. Sitzung des Untersuchungsausschusses am 16. Mai 2013

Nach rund 15 Monaten endeten am 16.03. die öffentlichen Sitzungen des -Untersuchungsausschusses im Bundestag. An den über 70 Terminen wurden insgesamt fast einhundert Zeug_innen befragt. Auf der Tagesordnung der letzten Sitzung stand die Vernehmung zweier weiterer Beamt_innen des Bundesamtes für Verfassungsschutz (), sowie die Anhörung verschiedener Sachverständiger zur Analyse der Ereignisse sowie zum weiteren Vorgehen.

Zeug_innen:

Sachverständige:

  • Prof. Barbara John, Ombudsfrau für die Opfer und Opferangehörigen des NSU
  • Dr. des. Britta Schellenberg, Centrum für angewandte Politikforschung (CAP)
  • Diplom-Kriminalist Günther Schicht
  • Diplom-Kriminalist Bernd Wagner, „EXIT-Deutschland“ – Ausstiege aus dem Rechtsextremismus
  • Leitender Polizeidirektor Jürgen Funk, Leiter der Polizeidirektion für Aus- und Fortbildung und Bereitschaftspolizei der Polizei des Landes Schleswig-Holstein

Die Sitzung begann mit der Vernehmung der Zeugin Rita Dobersalzka, die das Referat Terrorismus im BfV leitete, das sich seit 1998 mit dem abgetauchten Trio befasste. Wie alle Mitarbeiter_innen der Geheimdienste trat auch sie nur mit ihrem Arbeits-Pseudonym auf. Erörtert werden sollte, warum der Verfassungsschutz von 1998 bis 2004 Anzeichen für Rechtsterrorismus für „nicht erkennbar“ hielt.
So schrieben die Autor_innen des BfV Spezial, Ausgabe 21: „Gefahr eines bewaffneten Kampfes deutscher Rechtsextremisten – Entwicklungen von 1997 bis Mitte 2004“ vom Juli 2004: „Für einen planmäßigen Kampf aus der Illegalität heraus, wie ihn auf linksextremistischer Seite die „Rote Armee Fraktion” (RAF) führte, fehlt es derzeit bei Rechtsextremisten nicht nur an einer Strategie zur gewaltsamen Systemüberwindung, sondern auch an geeigneten Führungspersonen, Logistik, finanziellen Mitteln sowie einer wirkungsvollen Unterstützerszene. Möglich bleibt aber ein von Kleingruppen oder Einzelpersonen geführter ‚Feierabendterrorismus‘.“

Diese fatale Fehleinschätzung fand sich im gleichen Wortlaut bereits in einem Bericht von 1998, kurz nachdem das NSU-Trio in den Untergrund abgetaucht worden war. Sebastian Edathy (SPD), Vorsitzender des Ausschusses, hielt dem BfV zwar zugute, dass einige der Analysen aus dem BfV Spezial dem Ermittlungsstand entsprechend zutreffend waren – die Bewertung dagegen „grottenfalsch“.

Auch CDU-Obmann fragte die Zeugin, ob es „in sechs Jahren keine neuen Erkenntnisse“ gegeben habe, worauf (Die LINKE) Dobersalzka ein Zitat aus dem Antifaschistischen Infoblatt 1.2000 vorlas: „Anfang November vergangenen Jahres trafen sich deutsche, schwedische, englische und norwegische Neonazis aus dem internationalen Netzwerk von (C18) und () in einer Kleinstadt bei Oslo in Norwegen. Wesentlicher Programmpunkt des Treffens, an dem zwei deutsche Neonazis aus dem Umfeld von Thorsten H. teilnahmen: Die Koordinierung internationaler -Aktivitäten und damit verbundener klandestiner Terror gegen AntifaschistInnen, JournalistInnen und Vertreter staatlicher Behörden.“ Auf die Frage, ob und wenn ja wie diese Informationen vom BfV verwertet worden waren, antwortete die Zeugin ausweichend, ihr sei dieses Zitat nicht in Erinnerung, grundsätzlich würden aber auch die Erkenntnisse des AIB verwertet werden.

Auf die anschließende Kritik von Dr. , SPD-Obfrau, Rita Dobersalzkas Referat habe nach Entdeckung des NSU nicht ausreichend recherchiert und selbst bekannte Informationen über rechtsextreme und rechtsterroristische Organisationsformen nicht an die ermittelnden Behörden weitergeleitet bis auf gezielt angefragte Akten, wich die Zeugin aus, das BfV habe zu wenige Befugnisse in laufende Ermittlungen einzugreifen und sie habe nicht „ins Blaue greifen“ wollen.

Damit endete die letzte öffentliche Vernehmung von Zeug_innen. Der zweite Zeuge des Tages, Bert Kippenborck vom BfV, wurde am Abend in nicht-öffentlicher Sitzung vernommen, da seine Identität geschützt werden sollte, angeblich sei er noch operativ tätig.

John kritisiert Vorurteile bei Behörden

Nachdem die Befragung und die anschließende Pause die auf 13:00 Uhr angesetzte Sachverständigenanhörung um eine Stunde verzögerten, kam Prof. Barbara John, Ombudsfrau der NSU-Opfer und ihrer Angehörigen, zu Wort.

In ihrem Statement kritisierte sie strukturelle Defizite, wie mangelnde Zusammenarbeit mit den Hinterbliebenen, lange Zeitverzögerungen, aber auch Mangel an Selbstkritik und Vorurteilslastikeit der Beamten und bezeichnete deren Diskussionskultur als „Duckmäusertum“. Sie plädierte dafür, eine umfangreiche Studie oder Untersuchung anzustellen, um „die Triebkräfte und Umstände solcher Einstellungen und Haltungen herauszuarbeiten und Vorschläge für Änderungen zu entwickeln“.
Außerdem empfahl sie die Einrichtung einer unabhängigen Ombudsstelle als Clearing- und Beschwerdestelle zu polizeilichem Fehlverhalten, sowie die Gründung einer Stiftung unter Beteiligung der Opferfamilien zur Archivierung und Auswertung aller Akten und eines Instituts gegen Rassismus, dessen Aufgabe Dokumentation und Monitoring der Umsetzung aller Forderungen des „Internationalen Übereinkommens von 1965 zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung“ (CERD) sein sollte.
Schließlich empfahl sie, dezentrale Opferberatungsstellen zu unterstützen und den Begriff der „fremdenfeindlichen Straftat“ neu zu definieren. Ermittlungen gegen Rechtsextremismus sollte Standardaufgabe bei Gewalt gegen Menschen mit Migrationshintergrund sein, ferner sollten Hasskriminalität und Rassismus als Offizialdelikt ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden.

Auch Dr. Schellenberg ging mit den Behörden sowie der Gesellschaft berechtigterweise hart ins Gericht: Im europäischen Vergleich gebe es in Deutschland eine auffällig hohe Rate von rechtsextremen Gewalttaten, insbesondere Gewalt mit Todesfolge. Auch die Anzahl sogenannter „rechtsextremer Angstzonen“ liege vergleichsweise hoch.
Ursachen, so Schellenberg, sind nicht zuletzt darin zu suchen, dass Behörden Gewalttaten oft nicht als rechtsextrem erkennen und selbst wenn doch, wird rechtsextreme Gewalt weit mehr als ein Verstoß gegen das Grundgesetz anstatt als Diskriminierung wahrgenommen, was zu einer relativ geringen Beschäftigung mit den Opfern führt.
Außerdem kritisierte sie das Demokratieverständnis des Staates: So sei eine hohe Skepsis von Behörden gegenüber antirassistischen Initiativen zu beobachten. Antirassistisches Engagement aus der Gesellschaft werde als demokratiegefährdend wahrgenommen, da sie aus Behördensicht einen Angriff auf die behördliche Durchsetzung der Demokratie darstelle.

„Kasernenhofstil“ und „latenter Rassismus“

Bernd Wagner von EXIT-Deutschland betonte die Wichtigkeit, das rechtsextreme Täter_innenfeld zu beeinflussen, da staatliche Repressionen von den Strukturen „gut verdaut“ werden. Für einen erfolgversprechenden Ansatz hält er es, die Angehörigen von Rechtsextremen direkt anzusprechen, thematisierte aber auch die Problematik, gleichzeitig die Ermittlungsarbeit zu unterstützen.

Diplom-Kriminalist Günter Schicht kritisierte die Dienststellenkultur der Polizei, die er als Subkultur zur offiziell und nach außen hin propagierten Polizeikultur bezeichnete. So erführen gerade junge Beamt_innen häufig einen Praxisschock, wenn sie den Polizeialltag antreten, da auf den Dienststellen noch viele Einflüsse des „alten Kasernenhofstils“ herrschen.

Doch auch bereits während der Ausbildung gebe Belege für „latenten Rassismus“, sagte Schicht unter Verweis auf vereinzelte Untersuchungen. Es fehle jedoch eine systematische Evaluierung. Trotz guter Fortbildungsangebote für den Umgang mit Rechtsextremismus und Rassismus käme das Thema „in der Breite nicht an“. Als Beispiel dafür führte er Racial Profiling an und kritisierte diese Praxis scharf. So stellte er fest, dass es sich bei der in der Polizei gängigen Annahme, „90% der Afrikaner in der Hasenheide seien Drogendealer“, nicht etwa um Erfahrungswerte handelt, sondern um rassistische Vorurteile. Er schloss seinen Beitrag mit der Empfehlung, Polizist_innen müssten „lernen, über ihr eigenes Denken nachzudenken“.

Polizeidirektor Jürgen Funk (Leiter der Aus- und Fortbildung bei der Polizei Schleswig-Holstein) warb für „interkulturelle Kompetenz“ und Sensibilisierung und bekam schließlich selbst Nachhilfe in Sachen Sensibilisierung, als Sebastian Edathy ihn schließlich auf seine den ganzen Beitrag hindurch unreflektierte und willkürliche Verwendung der Begriffe „Ausländer“ und „Menschen mit Migrationshintergrund“ hinwies.

Der Grünen-Abgeordnete Wolfgang Wieland sagte anlässlich des Endes der Beweisaufnahme, es sei „tatsächlich das Totalversagen unserer Sicherheitsbehörden in allen Etagen“ zu konstatieren. „Wir sind immer wieder auf Abgründe gestoßen“, fügte die Linken-Vertreterin Petra Pau hinzu.
FDP-Obmann Hartfrid Wolff forderte, den Untersuchungsausschuss auch in der nächsten Legislaturperiode fortzuführen, da „viele Komplexe“ nicht abgearbeitet seien. Bis dahin wird der Ausschuss zunächst im August seinen Abschlussbericht vorlegen. „Wir werden versuchen, uns auf gemeinsame Vorschläge zu verständigen, soweit das möglich ist zwischen den fünf Fraktionen“, sagte Edathy.

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