Zusammenfassung der Prozesstage vom 25. Juli 2013 bis 25. September 2013 #4

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Prozessbeobachtende und Verfahrensbeteiligte hatten vom 7. August bis 4. September Sommerpause.  An dieser Stelle versuchen wir, die davor und die danach folgenden Prozesstage zu rekapitulieren und die Erkenntnisse und Eindrücke zusammenzufassen. In diesen Zeitraum fiel auch die Veröffentlichung des Abschlussberichtes des Untersuchungsausschuss des Bundestages zum NSU. Wir werden uns dem an anderer Stelle widmen.

Struktur

Die Beweisaufnahme im Münchner NSU-Prozess ist noch immer nicht thematisch-inhaltlich geordnet, etwa nach einzelnen Taten wie es Nebenklagevertreter Kienzle am 17. Juli in einem Antrag gefordert hatte. Noch immer wechseln sich Themen- und Tatkomplexe ab, noch immer ist kein Tatkomplex abgeschlossen. Das erschwert es nicht nur Berichterstatter_innen sondern auch Anwält_innen sich auf die Verhandlungstage vorzubereiten. Emotional schwierig wurde es für anwesende Nebenkläger_innen wie schon bei Prozessbeginn erneut Mitte September, als ein Verhandlungstag wegen zwei Befangenheitsanträgen abgesagt wurde: Gamze und Elif Kubaşık und zwei Brüder und ein Cousin von Mehmet Turgut waren umsonst nach München angereist. Welche emotionale Belastung dies bedeutete, lässt sich nur schwer erahnen. Nur wenige Nebenkläger_innen haben in den letzten Wochen am Prozess teilgenommen. Inzwischen, nach der katastrophalen Vernehmung der Witwe Kılıç, hat der Vorsitzende Richter Götzl allerdings die Lage der Angehörigen besser im Blick: Er weist vor dem Zeigen brutaler und eventuell die Intimsphäre der Opfer verletzender Fotos vorher darauf hin und ermöglicht es Angehörigen, selbst zu entscheiden, ob sie sich der Dokumentation der Brutalität der Morde aussetzen wollen.

„Sie haben mir mein Herz abgerissen“

Ali Taşköprü, der Vater des am 27. Juni 2001 in Hamburg ermordeten Süleyman Taşköprü, schilderte am 37. Verhandlungstag wie er seinen Sohn am Tatort in einer Blutlache liegend gefunden hatte. Die bewegende Aussage des Zeugen führte noch einmal vor Augen, was in der Flut der Details, die in der Beweisaufnahme behandelt werden, bisweilen unterzugehen droht: Der NSU nahm zehn Menschen das Leben, verletzte Dutzende schwer und hinterließ bei Angehörigen und Freund_innen schwerwiegende Traumatisierungen. Ali Taşköprü antwortete auf die Frage des Vorsitzenden Richters Götzl nach den Folgen der Tat: „Sie haben mir mein Herz abgerissen.“ Der Geschäftspartner von Theodoros Boulgarides, der seinen toten Kompagnon im gemeinsamen Laden gefunden hatte, antwortete am 38. Verhandlungstag auf die gleiche Frage: „Die totale Zerstörung, würde ich sagen. Nicht nur für die Angehörigen.“

Die ignorierten Hinweise auf zwei Fahrradfahrer und weiße Deutsche

Die Beweisaufnahmen zu den einzelnen Mordtaten machten, obwohl noch nicht abgeschlossen, auch sehr deutlich, dass zwei Fahrradfahrer an mehreren Tatorten gesehen worden waren – und die ermittelnden Beamt_innen dieser offensichtlichen Spur nicht nachgingen. Schon am Tatort Şimşek hatten Zeugen Personen in Radfahrerkleidung gesehen, beim Mord an Habil Kılıçwurden Radfahrer gesehen und schließlich haben gleich mehrere Zeug_innen unabhängig voneinander am Tatort des Mordes an İsmail Yaşar am 9. Juni 2005 in Nürnberg Radfahrer gesehen (vg. v.a. Protokoll 34, aber auch 33 und 32). Zudem sind auf den Videoaufnahmen in der Keupstraße bekanntermaßen auch Radfahrer mit der Bombe zu sehen, deren Ähnlichkeit mit den Radfahrern in Nürnberg eine Zeugin schon vor dem Auffliegen des NSU bemerkt hatte. Auch Ali Taşköprü hatte in Hamburg zumindest zwei weiße Männer („Deutsche“) gesehen.

Institutioneller Rassismus

Doch nicht nur Ignoranz und Dilettantismus sind treffende Beschreibungen für die Ermittlungsarbeit einiger Beamt_innen. Trotz öffentlicher Thematisierung des Rassismus in den Behörden bekamen wir in den letzten Vernehmungen immer wieder Beamt_innen zu hören, die unverbesserlich an ihrer Überzeugung festhielten, gute Arbeit geleistet zu haben. (Bsp.: https://www.nsu-watch.info/2013/08/protokoll-31-1-8-2013/9).

Immer wieder zeigte sich in Aussagen von Beamten, aber auch von Zeug_innen und Angehörigen wie von der Polizei nicht nur Spuren vernachlässigt, sondern massiv gegen die Opfer und Angehörige ermittelt wurde. Dabei wurden offenbar keine Kosten und Mühen gescheut. Die Beamt_innen setzten zum Beispiel bei den Ermittlungen zum Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel Überwachungstechnik und sogar einen verdeckten Ermittler gegen die Familie ein. Der am 39. Verhandlungstag zum Fall Yozgat gehörte Ermittler erdreistete sich dennoch das Verhältnis der Polizei zur Familie als „harmonische Kooperation“ zu bezeichnen.
Dazu sagt Nebenklagevertreter Alexander Hoffmann: „Da sitzt im September 2013, mehr als sieben Jahre nach dem Mord an Halit Yozgat in Kassel, ein Polizeibeamter als Zeuge im Gericht und erzählt munter, wie gut das Verhältnis seiner Ermittlungsgruppe zu der Familie des Ermordeten gewesen sei, wie aufgeschlossen und offen die Familie gewesen sei. Dass die polizeilichen Ermittlungen sich im Wesentlichen gegen die Familie richteten […] ist für diesen Polizeibeamten weder ein Widerspruch zu dieser Behauptung […] noch ein Grund, Bedauern über seine unzulängliche Ermittlungsarbeit zu empfinden.“ Den Hinweis des Vaters von Halit Yozgat, es könne doch ein rassistisches Motiv vorliegen, ignorierten die Ermittler offenbar geflissentlich. Rechtsanwalt Hoffmann weiter: „Es wird deutlich, dass dieser Beamte bis heute nicht verstanden hat, dass seine Ermittlungsgruppe ‚Café‘ eine Tataufklärung mehr verhindert als gefördert hat.“

Überraschend war in diesem Zusammenhang die Aussage des Kriminalhauptkommissars Hänßler, er sei schon 2005 von einem rassistischen Motiv ausgegangen und diese Einschätzung sei in der „BAO Bosporus“ grundsätzlich geteilt worden. Das kann eigentlich nur eine unverfrorene Schutzbehauptung sein. Die Ermittlungen liefen auch von seiner Seite fast ausschließlich gegen die Familie.

Die „Kronzeugen“ Holger G. und Carsten S.

Ob der Angeklagte Holger G. zur weiterhin notwendigen Aufklärung noch etwas beitragen wird, blieb auch die letzten Wochen offen: Es ist unklar, ob sich G. noch einmal selber einlassen wird (vgl. Protokoll 33). G. möchte zwar offenbar von der so genannten „Kronzeugenregelung“ profitieren, nach der deutlich milder bestraft werden kann, wer wesentlich zur Aufklärung beiträgt. Er nimmt jedoch in Kauf, dass ihm das bloße Verlesen einer vorformulierten Erklärung als Teilschweigen ausgelegt werden kann. So trägt G. nur sehr wenig zur Aufklärung des NSU-Komplexes bei. Einiges spricht zudem dafür, dass G. die Unwahrheit sagt, was seinen angeblichen Ausstieg aus der Nazi-Szene angeht. Diese Tatsache wirft auch ein schlechtes Licht auf seine sonstigen Angaben. Nebenklagevertreter Sebastian Scharmer erklärte dazu in einer Pressemitteilung: „Holger G. läuft insoweit Gefahr, dass der ‚Strafrabatt‘, den er sich durch seine vorherigen Aussagen erhofft hat, durch sein Prozessverhalten jedenfalls deutlich relativiert werden wird.[…] Naheliegend erscheint, dass Holger G. im Rahmen einer kritischen Befragung Details offenbaren würde, die ihn stärker belasten, als zuvor.“ Dafür hat jedoch der Angeklagte Carsten S. am 36. Verhandlungstag überraschend angekündigt, nun auch Fragen der Verteidigung von Ralf Wohlleben zu beantworten, was er bisher stets abgelehnt hatte. Dies wird voraussichtlich am 10. Oktober stattfinden.

Tatkomplex

Fast abschließend abgehandelt ist der Tatkomplex Frühlingsstraße, seit auch die sich über mehrere Verhandlungstage ziehende Vernehmung des Brandermittlers zum Brand in der Frühlingsstraße abgeschlossen ist (vgl. Tag 38). Nach den Aussagen der Zeug_innen aus der Zwickauer Frühlingsstraße ergibt sich ein rundes Bild: Beate Zschäpe wurde gleich von mehreren Zeug_innen gesehen, wie sie sich kurz nach der Explosion vom Brandhaus entfernte. Dabei fand sie, so Zeug_innenaussagen, noch Zeit, ihre Katzen bei Nachbarinnen auf der Straße in Sicherheit zu bringen. Vieles ist hierzu und auch zur weiteren Flucht von Zschäpe jedoch noch unklar: Wie hat Zschäpe davon erfahren, dass Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt tot sind? Wurde ihr bei der Flucht geholfen und wenn ja von wem?

Einen Einblick in das Leben der unmittelbaren Nachbarschaft bzw. in das „Untergrund“-Leben Zschäpes gab die Aussage des Zeugen Olaf B. am 27. Verhandlungstag. Olaf B. wohnte in der anderen Hälfte des Doppelhauses Frühlingsstraße 26/26a in Zwickau. Er berichtete unter anderem, wie er im Keller seiner Haushälfte regelmäßig mit Freunden trank und sich hin und wieder auch Beate Zschäpe, die er „Dienelt-Maus“ nennt, der Runde angeschlossen und Prosecco getrunken habe. Das alles unter einem -Bild, das auf dem Fernseher stand, das B. aber nicht politisch gedeutet wissen will.

Bei der Vernehmung anderer Zeuginnen stellte sich heraus, dass zur Brandzeit in der Wohnung einer alten Frau ein regelmäßiger Kaffeeklatsch mit den Nichten der fast neunzigjährigen Bewohnerin hätte stattfinden sollen. Die Wohnung lag Wand an Wand mit der Wohnung von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt, die Brandlegung und die folgende Explosion gefährdete also nicht nur die zwei Handwerker und die 89jährige Nachbarin, sondern auch deren Besucherinnen.

Die mehrtägige Vernehmung des Brandermittlers mit der Vorführung von über 1.000 Fotos gab einen Einblick in das Leben im so genannten „Untergrund“. Zu sehen waren neben Waffen, Sprengstoff und Banderolen von Geldinstituten auch verschiedene Ausweisdokumente auf die unterschiedlichen Aliasnamen der Untergetauchten. Besonders makaber waren jedoch zusammengeheftete Folien, in denen Ausschnitte verschiedener Zeitungen zu den Taten durchnummeriert wie Trophäen aufbewahrt wurden (vgl. Tag 38).  Aufhorchen lässt, dass es sich bei den Ausschnitten, die der NSU aufbewahrte, zum Teil um Artikel aus Lokalzeitungen von den Tatorten bzw. um Regionalteile handelt. Dies könnte ein Indiz für eine Unterstützung durch lokale Neonazis sein.

Neue Anhaltspunkte

Nebenklagevertreterin Doris Dierbach überraschte am 36. Verhandlungstag mit einem Beweisantrag zu einer Zeugin, die Mundlos, Böhnhardt, Zschäpe und einen unbekannten „Skinhead“ in Dortmund im Zeitraum des Mordes an Mehmet Kubaşık am 4. April 2006 gesehen haben will. Die Zeugin wurde am 30. September gehört. Sollten ihre Aussagen zutreffen wäre ihre Aussage ein entscheidender Punkt für den gesamten Prozess. Zum einen gäbe es einen ersten starken Hinweis auf eine Einbindung lokaler Neonazis und zum anderen brächte es die Angeklagte Zschäpe zum ersten Mal in einen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit einer Mordtat.

Anwesenheit von Neonazis

Nachdem Presse, Angehörige und Zuschauende im Prozesssaal lange eine relative Ruhe vor der Anwesenheit von zuschauenden Neonazis im Saal hatten, kommen seit September wieder vermehrt uns bekannte und uns unbekannte – doch an neonazistischen Kleidungsstücken sowie ihrer offensichtlichen Freundschaft zum Angeklagten André E. zu erkennende – Neonazis in das Münchener OLG. Die Neonaziszene in Thüringen und in Bayern propagiert offen Solidarität mit den Angeklagten („Sie bereuen nichts“) und einzelne KameradInnen beweisen sie auch durch ihre physische Präsenz am OLG. Auch das Auftreten des Angeklagten André E. wird dreister. Er bewegt sich wie selbstverständlich zwischen Nebenkläger_innen und ihren Vetreter_innen sowie Prozessbesucher_innen auf dem großen öffentlichen Platz vor dem Gerichtsgebäude. Dort verbringt er täglich die Pausen mit oder ohne neonazistische Gesellschaft. An einer Gruppe von Angehörigen, unter anderem dem Bruder des ermordeten Süleyman Taşköprü, lief er am 37. Verhandlungstag unnötig nah vorbei, was diesen provozierte.