Protokoll 298. Verhandlungstag – 14. Juli 2016

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Der heutige Prozesstag ist sehr kurz. Er beschäftigt sich mit Beweisanträgen der Verteidigung Wohlleben und der Befragung eines Sachverständigen, der Fingerabdrücke von Beate Zschäpe untersucht hat.

Zeuge:

  • Markus Lo. (Kriminalhauptkommissar BKA, Sachverständiger für Daktyloskopie)

Der Verhandlungstag beginnt um 09:48 Uhr. RA Klemke von der Verteidigung Wohlleben beantragt, sämtliche beim GBA geführten Verfahrensakten zu Ermittlungen gegen namentlich bekannte und unbekannte Unterstützer des NSU, insbesondere gegen Jan Botho Werner, beizuziehen sowie der Verteidigung Einsicht in die Akten durch Übersendung der Originalakten in die jeweilige Kanzlei zu gewähren. Klemke führt aus, dass die Verteidigung Wohlleben am 06.07.2016 [295. Verhandlungstag] die Beiziehung der Vernehmungsniederschriften von Frank Wu., genannt „Schmaler“, und Mirko Sz., genannt „Barny“, beantragt habe. Dabei sei es u.a. um von Carsten Schultze behauptete Körperverletzungshandlungen an der Endhaltestelle in Jena-Winzerla gegangen, an welchen Wohlleben laut Schultze beteiligt gewesen sein solle. Die BAW habe am 12.07.2016 Vernehmungsprotokolle betreffend Sven Kl. vom 20.06.2013 und Mirko Sz. vom 21.06.2013 und 11.07.2013 zu den Akten gereicht.

Vernehmungsniederschriften zu Frank Wu. hätten sich nicht dabei gefunden. RA Klemke sagt: „Die Sichtungen der Vernehmungsniederschriften haben ergeben, dass diese Vernehmungen die angeklagte Tat betreffen und deswegen eigeninitiativ von der Bundesanwaltschaft zu den Akten dieser Verhandlung zu geben gewesen wären.“ Beide Zeugen hätten zudem die Teilnahme an den von Schultze behaupteten Körperverletzungen in Abrede gestellt. Es handele sich damit um für Wohlleben entlastende Aussagen. Gleichwohl habe sich die BAW erst durch den Antrag der Verteidigung genötigt gefühlt, diese Aktenbestandteile dem Senat immerhin schon drei Jahre nach ihrem Entstehen vorzulegen. Klemke: „Die von der Bundesanwaltschaft unter Verstoß gegen den Grundsatz der Aktenvollständigkeit praktizierte selektive Aktenvorlage verletzt eklatant den Anspruch Herrn Wohllebens auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren. Sie lässt zudem vermuten, dass die Bundesanwaltschaft weitere verfahrensgegenständliche und Wohlleben entlastende Aktenbestandteile zurückhält.“

RAin Schneiders stellt dann einen weiteren Antrag und bezieht sich dabei auf das Verfahren gegen die Musikgruppe „“. Sie beantragt Aktenbestandteile aus dem sogenannten „Landser“-Verfahren der StA Dresden, die die sich noch als Aktenrückhalt in Kopie beim LKA Sachsen befänden, beizuziehen. Außerdem beantragt sie die Vernehmung des Zeugen Jörg An. und die Vernehmung des Zeugen bzw. hilfsweise des schweizerischen Vernehmungsbeamten von Jörg An.

Aus der TKÜ des „Landser“-Verfahrens von Werner werde sich ergeben, so Schneiders, dass vom Zeugen eine scharfe Schusswaffe habe erwerben wollen und deshalb bei Szczepanski mehrfach telefonisch und per SMS nachgefragt habe; dass Werner Erlöse aus -Konzerten für die Beschaffung von scharfen Schusswaffen verwendet habe; dass Werner Kontakt zu den verstorbenen Böhnhardt und Mundlos gehabt habe; dass Werner den Auftrag gehabt habe, für Böhnhardt und Mundlos scharfe Schusswaffen zu beschaffen. Aus der TKÜ des „Landser“-Verfahrens von Marschner werde sich ergeben, so Schneiders, dass Marschner vom Zeugen An. scharfe Schusswaffe habe erwerben wollen und deshalb bei An. im Rahmen eines Pfingstfussballtumiers in Greiz im Jahr 1998 nachgefragt habe, ob dieser ihm scharfe Schusswaffen besorgen könne; dass Marschner Erlöse aus B&H-Konzerten für die Beschaffung von scharfen Schusswaffen verwendet habe; dass Marschner an Pfingsten 1998 Kontakt zu Böhnhardt und Mundlos gehabt habe; dass Marschner den Auftrag gehabt habe, für Böhnhardt und Mundlos scharfe Schusswaffen zu beschaffen; dass Mundlos bei Marschner unter der Aliaspersonalie „Max-Florian Burkhardt“ gearbeitet habe.

Zur Begründung führt Schneiders u.a. aus, dass der Senat bereits Aktenteile aus dem „Landser“-Verfahren beigezogen habe, die Akten der TKÜ betreffend Jan Werner seien jedoch bereits zu weiten Teilen vernichtet. Nach Aktenlage würden sich jedoch Kopien dieser Akten im Rahmen eines Aktenrückhalts beim LKA Sachsen finden. Es sei zu erwarten, dass sich in diesem Aktenrückhalt noch TKÜ-Unterlagen befinden. Anhaltspunkte für die unter Beweis gestellten Tatsachen würden sich aus der bisherigen Beweisaufnahme und dem Inhalt der dem Senat vorliegenden Akten ergeben. Weiter führt Schneiders die Aussage des Zeugen An. aus dem Jahr 2012 an, der in der Schweiz ausgesagt habe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt an Pfingsten 1998 bei einem Fußballturnier gesehen zu haben. Böhnhardt und Mundlos seien laut der Aussage von An. mit einer dritten, ziemlich fetten Person da gewesen. Die Person habe laut der Aussage von An. einen Kampfhund dabei gehabt. Er, An., habe sich mit dieser Person über Waffen und Munition unterhalten. Zu dieser Zeit habe er, An., Kontakt zu einem Waffengeschäft in Laufen gehabt und habe dort eine Pumpgun Espress Magnum, ein Kleinkalibergewehr und Zielfernrohr, Schalldämpfer und einen Pilotenkoffer mit Munition gekauft. Diese Dinge seien 2002 bei einer Hausdurchsuchung bei ihm, An., beschlagnahmt worden und seien jetzt in einer Asservatenkammer in Freiburg. Er habe dafür in Deutschland eine Strafe bekommen.

Schneiders sagt, dass An. laut Vernehmungsniederschrift bei einer Lichtbildvorlage bestätigt habe, dass es sich bei der dicken Person um Ralf Marschner gehandelt habe. Die Beweiserhebung, so Schneiders, werde ergeben, dass sowohl Werner als auch Marschner nach dem Untertauchen Kontakte zu Böhnhardt und Mundlos gehabt hätten; beide hätten den Auftrag gehabt, Waffen zu besorgen; beide seien zudem Mitglieder von B&H Sachsen gewesen. Es würden, so Schneiders weiter, Deckblattmeldungen des V-Mannes „Piatto“ [Szczepanski] vorliegen, dass die Waffenkäufe durch die B&H-Sektion Sachsen aus Konzerterlösen hätten finanziert werden sollen. Schneiders sagt, es bestünden konkrete Anhaltspunkte dafür, dass sich aus den beizuziehenden Akten weitere Erkenntnisse bezüglich Werner und Marschner ergäben. Dies diene der Entlastung Wohllebens, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Tatwaffe über Werner und Marschner zu Böhnhardt und Mundlos gekommen sei.

Ferner beantragt Schneiders, die V-Mann-Akten von Ralf Marschner, alias „Primus“, des BfV, die Akten des Strukturverfahrens gegen Unbekannt und die Verfahrensakten der BAW gegen Werner und Marschner beizuziehen. Aus den Akten des BfV werde sich ergeben, so Schneiders, dass der VS über „Primus“ über den Aufenthaltsort von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe informiert war. Eine Festnahme der Gesuchten sei damit bei Weitergabe dieser Informationen an die Ermittlungsbehörden möglich gewesen. Die gezielte Vereitelung der Festnahme durch die Nichtweitergabe dieser Information an die Ermittlungsbehörde sei im Falle einer Verurteilung strafmildernd für Wohlleben zu berücksichtigen.

Aus den Verfahrensakten und der TKÜ ergebe sich auch, dass sowohl Werner als auch Marschner in den Jahren 1998 bis 2000 Kontakte über die B&H-Szene in die Schweiz gehabt hätten. Schneiders verweist auf einen Artikel der „Welt“, demzufolge sich aus dem Akten der BAW eine Fülle von Verdachtsmomenten ergebe, dass Mundlos sogar bei Marschner gearbeitet habe. Schneiders sagt, das Gericht dürfe sich nicht von vornherein mit nur einem Beweismittel begnügen, das hierzu voraussichtlich weniger zuverlässig oder weniger umfassend geeignet sei. Der Senat habe sich somit der fortlaufenden Ermittlungen der BAW zu bedienen, um mögliche weitere Quellen, die Mundlos und Böhnhardt Waffen und damit möglicherweise auch die Tatwaffe 83 besorgt haben könnten, umfassend aufzuklären. RA Grasel von der Verteidigung schließt sich dem zuerst verlesenen Antrag an.

Dann betritt der Zeuge Lo. den Saal. Götzl bittet den Zeugen darüber auszusagen, was er untersucht habe. Der Zeuge Lo. berichtet: „Daktyloskopie ist ein Gebiet der Kriminalistik und befasst sich mit Papillarbildern. Ziel ist es, Spurenverursacher zu identifizieren oder auszuschließen, dass Spuren von Personen verursacht wurden. Man hinterlässt aufgrund des Hydrolipidfilms eine Spur, in der Regel unbewusst, aus den Aussonderungen der Talg- und Schweißdrüsen, dient eigentlich dazu, die Haut geschmeidig zu halten. Wenn man etwas berührt, die Tischplatte oder ein Blatt Papier, bilden sich die Papillarleisten als Papillarlinien ab. Die sind nicht beziehungsweise nur latent sichtbar, können aber sichtbar gemacht werden. Bei den vorliegenden Spuren handelt es sich um Spuren auf Papier. Gemäß dem Spurensicherungsbericht sind sie mit physikalischem Entwickler gesichert worden, der auf die Salze im Hydrolipidfilm reagiert. Im vorliegenden Fall wurden Spurenfragmente sichtbar gemacht, die relativ klar noch zur Abbildung gekommen sind, schön schwarz auf grauem Untergrund. Wir gehen dann so vor, dass wir vom groben Erscheinungsbild uns auf das engere Erscheinungsbild vorarbeiten, ob ein Muster erkennbar ist. Wir unterscheiden vier unterschiedliche Muster: Bogenmuster, Schleifen rechts links, Delta, Musterform Wirbel.

Als zweites suchen wir nach anatomischen Merkmalen: Wenn eine Linie dazu kommt oder weniger wird. Wir sprechen dann von Identität, wenn genügend übereinstimmender Informationsgehalt vorhanden ist, in der Regel bei 12 anatomischen Merkmalen, die in Form und relativer Lage zueinander übereinstimmen. Hand und Finger sind ja weich, deshalb nicht immer gleich wie bei einem Stempel, sondern manchmal verschiebt sich das ein bisschen. Bei den hier zu begutachtenden Spuren hab ich jeweils 12 anatomische Merkmale, die in Form und Lage übereinstimmen, im Vergleichsmaterial von Frau Zschäpe gefunden und kann daher sagen, dass diese beiden Fingerabdrücke von Frau Zschäpe verursacht wurden.“

Götzl bittet den Zeugen, nach vorne zu kommen und anhand der Bilder aus den Akten seine Untersuchungen zu erläutern. Hochvergrößerte Linien werden in Augenschein genommen.
Der Zeuge Lo. beschreibt die Linien, die im Gerichtssaal projiziert werden, und erklärt den Schluss, dass dabei Identität gegeben sei. Götzl fragt den Zeugen, ob Lo. zu seiner Ausbildung noch etwas mitteilen und schildern könne. Lo. antwortet, er sei seit 2003 Sachverständiger für Daktyloskopie. Er habe zehn Jahre Fingerabdruckbilder im Schichtdienst verglichen, dann habe er die Weiterbildung zum Sachverständigen, damals ein dreimonatiger Grundlehrgang, ein Praktikum in der Spurenauswertung und einen Lehrgang in der Auswertung gemacht. Götzl spricht die Methodik und die weiteren Gutachten an, die Lo. erstellt habe. Er fragt den Zeugen, ob die Methodik bei allen Gutachten identisch sei. Lo. antwortet mit Ja. Lo.: „Im vorliegenden Fall arbeiten wir mit AFIS, dem automatischen Fingerabdruckidentifizierungssystem. Die Spuren lesen wir digital ein, setzen die anatomischen Merkmale und lassen die im vorliegenden Fall gegen die Hinweispersonen laufen. Und wir arbeiten im Vieraugenprinzip.“ Ein Mitarbeiter recherchiere die Spuren und wenn dieser zum Ergebnis käme, sie seien identisch, dann lege er die Ergebnisse einem Sachverständigen vor, der das dann gegebenenfalls bestätige.

Götzl fragt weiter, ob der Zeuge etwas zur Übertragung daktyloskopischer Spuren sagen könne. Lo. antwortet: „Ich hatte noch nie so einen Fall und habe auch unter Kollegen keinen Fall gefunden, der einen Fall der Übertragung Papier-auf-Papier hatte. Die Ausnahme wäre ein Deckblatt einer Illustrierten: Wenn ich da ein stark saugendes Papier drauflege, da könnte es zu einer Spurenübertragung kommen. Aber dann wäre die Spur ja seitenverkehrt! Und hier ist keine Spur seitenverkehrt gewesen.“ Der Sachverständige Lo. wird um 10:36 Uhr entlassen.

Götzl wendet sich an die Angeklagte Zschäpe und fragt, ob er bzgl. der Angaben zum Thema Alkohol den SV Peschel laden und Antworten auf die Fragen von Professor Dr. Saß erwarten könne. [phon.] RA Grasel antwortet: „Das können Sie erwarten, ja.“ Götzl fragt: „Wann? Haben Sie eine zeitliche Vorstellung?“ Grasel: „Momentan nicht, nein.“ Der Prozesstag endet um 10:39 Uhr.

Das Blog „NSU-Nebenklage“ kommentiert: „Zu Zschäpes Fingerabdrücken am NSU-Archiv und Verteidigung Wohlleben will jetzt auch aufklären. […] Nach dem langen Tag gestern hatte das Gericht heute nur ein eingeschränktes Beweisprogramm: ein Sachverständiger zum Thema Fingerabdruckspuren schilderte, wie er die Fingerabdrücke an zwei Zeitungsartikeln im NSU-Archiv zu den Morden und Sprengstoffanschlägen anhand konkreter Übereinstimmungen Beate Zschäpe zuordnete. […]Die Verteidigung Wohlleben stellte zudem mehrere Anträge. […] Mehrere dieser Anträge sind in ähnlicher Form schon von der Nebenklage gestellt worden – Einsicht in die anderen Verfahrensakten der GBA, um weitere Ansätze zu Größe des NSU-Netzwerks und zu den Taten zu erlangen, Aufklärung der Rolle Marschners und des Verfassungsschutzes, weil die Verletzten und Angehörigen der Mordopfer ein Recht auf Aufklärung der staatlichen Mitverantwortung für die Taten des NSU haben. Es bleibt abzuwarten, ob das Gericht jetzt, wo sich die Verteidigung Wohlleben an die Anträge der Nebenklage anhängt, diesen nachkommen wird.“

http://www.nsu-nebenklage.de/blog/2016/07/14/14-07-2015-2/

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