Gemächliche Untersuchung. Eine Zwischenbilanz des Berliner Untersuchungsausschusses zum Neukölln-Komplex

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Erweiterte Fassung eines Beitrages von Ulli Jentsch (apabiz/NSU-Watch)
und Sebastian Schneider (NSU-Watch), zuerst erschienen in monitor 96,

Februar 2023

Jahrelang kämpften Betroffene der Serie neonazistischer Brandanschläge, Bedrohungen und Einschüchterungsversuche in Berlin-Neukölln sowie andere Aktive um die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses im Abgeordnetenhaus. Seit Juni 2022 tagt nun endlich der „1. Untersuchungsausschuss (‚Neukölln‘)“. Er soll vor allem die Erkenntnisse und das Verhalten der Ermittlungsbehörden angesichts der organisierten neonazistischen Angriffsserie, den sogenannten Neukölln-Komplex, untersuchen. Seinem Gegenstand hat sich der Ausschuss seitdem in elf Sitzungen nur sehr gemächlich angenähert. Die Geduld der Betroffenen wurde teilweise stark auf die Probe gestellt.

Kritik von Betroffenen und Initiativen

In einem ersten offenen Brief hatten Betroffene und Initiativen, darunter auch NSU-Watch, im September 2022 die mangelhafte Öffentlichkeit im Ausschuss kritisiert. Aufgrund von Corona-Regeln kann die Öffentlichkeit den Ausschuss lediglich in einem anderen Saal per Video- und Audioübertragung verfolgen. Der Brief forderte, die räumlichen Bedingungen herzustellen, damit die Öffentlichkeit pandemiekonform in einem Raum mit dem Ausschuss sitzen kann. Denn: „Die Öffentlichkeit ist nicht hergestellt, wenn der Ausschuss sie nicht wahrnimmt!“ (Link) Bis zur Unterbrechung des Ausschusses im Januar 2023 wegen der anstehenden Wahlwiederholung änderte sich an dieser Situation jedoch nichts. In einem zweiten offenen Brief schilderten Betroffene und Initiativen im Dezember 2022 ihre Wahrnehmungen vom Geschehen im Ausschuss: „Wir haben den Eindruck, dass Abgeordnete und Fraktionen immer noch nicht verstanden haben, was der Untersuchungsausschuss leisten soll und muss. Der Ausschuss wird bloß mehr oder weniger durchgezogen. Wir können noch keine Strategie sehen, die etwas verändern möchte und das Potential dazu hat. Derzeit werden letztlich nur Tatsachen zusammengetragen, die in der Zivilgesellschaft seit Jahren bekannt sind.“ (Link)

Dabei erkennen die Initiativen durchaus an, dass Zeug*innen und Sachverständige aus Initiativen wie BASTA oder Projekten wie der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR), der Beratungsstelle ReachOut oder den Berliner Registerstellen zu Beginn gehört wurden. Diese Anhörungen seien, so der offene Brief, „ein großer Erfolg der Betroffenen von rassistischer und rechter Gewalt sowie der mit ihnen solidarischen Menschen aus Gesellschaft und Politik“. Positiv ist auch, dass es trotz der weiterhin schwierigen Bedingungen im Abgeordnetenhaus immer noch eine solidarische Öffentlichkeit gibt und auch die Presse weiter vom Ausschuss berichtet. Verschiedene Initiativen, nicht nur NSU-Watch, beobachten den Ausschuss, regelmäßig werden Kundgebungen vor dem Abgeordnetenhaus organisiert.

Verweigerung von Aktenlieferungen

Engagierte Abgeordnete griffen die Kritik aus den offenen Briefen durchaus auf, etwa wegen der mangelhaften Öffentlichkeit. Auf große Kritik durch Abgeordnete stieß vor allem die ausbleibende Lieferung von Akten an den Ausschuss. Diese wird von den Senatsverwaltungen für Inneres und für Justiz blockiert. Zur Begründung bezieht sich die von Lena Kreck (Linke) geführte Senatsverwaltung für Justiz auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt/Main, wonach die Herausgabe von Akten an den hessischen Untersuchungsausschuss zum Mord an Walter Lübcke das Verfahren gegen dessen Mörder gefährde. In Analogie dazu wird das Verfahren gegen die Verdächtigen im Neukölln-Komplex herangezogen, um zu rechtfertigen, dass der Ausschuss keine Akteneinsicht in die entsprechenden Akten bekommt. Alleine die Akten aus dem abgeschlossenen Verfahren wegen des Mordes an Luke Holland sowie aus dem Ermittlungsverfahren wegen des Mordes an Burak Bektaş liegen bisher vor.

Sicherlich gibt es rechtliche Schwierigkeiten, wenn Straftaten parlamentarisch untersucht werden sollen, deren juristische Klärung noch nicht beendet ist. Dass diese lösbar sind, zeigen aber schon die diversen NSU-Untersuchungsausschüsse, die parallel zum Münchener Prozess und zu weiteren Ermittlungsverfahren im NSU-Komplex stattfanden und ebenfalls Zugang zu Akten hatten. Es macht daher eher den Anschein, dass derlei rechtliche Fragen seitens der Berliner Behörden als Vorwände benutzt werden, um die Arbeit des Neukölln-Untersuchungsausschusses zu blockieren.
Bislang setzen die Ausschussmitglieder weiterhin auf die einvernehmliche Klärung dieser Angelegenheit, eine Klage zur Herausgabe der Akten scheint derzeit politisch nicht gewollt.

Ein kläglicher Rest von Strafprozess

Angesichts der Entwicklungen im Prozess gegen den Neuköllner Neonazi Sebastian Thom und andere vor dem Amtsgericht Tiergarten stellt sich ohnehin die Frage, was es da noch zu gefährden gibt. Zu dem Prozess war es überhaupt nur gekommen, weil die Berliner Generalstaatsanwaltschaft die Verfahren zum Neukölln-Komplex nach Jahren erfolgloser Ermittlungen und diverser eingestellter Verfahren an sich gezogen hatte. Betroffene des Neukölln-Komplexes hatten sogar eine Übernahme des Verfahrens durch den Generalbundesanwalt gefordert, was dieser aber ablehnte. Im Verfahren wurden dann sehr unterschiedliche Tatkomplexe zusammengefasst. Verhandelt wurde unter anderem auch ein Betrugsvorwurf im Zusammenhang mit Corona-Hilfen gegen Sebastian Thom. Von den im Prozess ursprünglich fünf Angeklagten stand im Januar 2023 nur noch einer – eben Thom – vor Gericht. Die Verfahren gegen drei Angeklagte waren eingestellt oder abgetrennt worden. Tilo P. wurde Mitte Dezember 2022 in Bezug auf die angeklagten Brandstiftungen freigesprochen. Von dem umfangreich erscheinenden, letztlich aber unnötig aufgeblähten Verfahren blieb am Ende nur ein kläglicher Rest. Das Amtsgericht Tiergarten sprach Sebastian Thom am 7. Februar von dem Vorwurf der Beteiligung an zwei Brandanschlägen frei. Die von den Brandanschlägen betroffenen Ferat Koçak und Heinz Ostermann sprachen nach dem Urteilsspruch von einem niederschmetternden Ergebnis und einer „Katastrophe“. Wegen Bedrohungen, Sachbeschädigungen, Volksverhetzungen und Störungen des öffentlichen Friedens wurde Thom zu 1,5 Jahren ohne Bewährung verurteilt. Wegen des Betruges mit Corona-Soforthilfen muss er zudem 16.000 Euro an das Gericht zahlen. Die Generalstaatsanwaltschaft hat formal gegen das Urteil Berufung eingelegt. Wie es damit weitergeht, entscheidet sich erst, wenn das schriftliche Urteil vorliegt.

Aufgrund der schwachen Beweisführung und der gescheiterten Ermittlungen ist beim Verfahren also kaum etwas herausgekommen. Die Angeklagten hätten, so die Nebenklage in einem früheren Statement, nicht allein agiert, sondern arbeitsteilig mit anderen Gleichgesinnten gehandelt:. „Es wäre also unbedingt erforderlich gewesen, dieses arbeitsteilige Verhalten aufzuklären und dabei das Augenmerk auch auf die Helfer und Unterstützer der Angeklagten und ihre Tatbeiträge zu richten. Dies ist nicht geschehen. Vielmehr hat die Generalstaatsanwaltschaft Berlin mit Anklageerhebung zu diesem Verfahren die Entscheidung getroffen, die Neonazistrukturen nicht weiter aufzuklären.“ (Link)

Ausruhen auf vorhandenem Wissen

Die Aufklärung der – bei weitem nicht auf Neukölln begrenzten – Neonazistrukturen, aus denen heraus die Taten im Neukölln-Komplex begangen wurden, muss eine der zentralen Aufgaben des Untersuchungsausschusses sein. Dafür muss er aber bereit sein, sich nicht nur auf vorhandenem Wissen auszuruhen. Die als Zeug*innen gehörten Betroffenen und die Gutachterinnen von MBR, ReachOut und Registerstellen haben deutlich gemacht, wie viel bereits seit Jahren über die Straftatenserie in Neukölln und die dahinter stehenden Strukturen bekannt ist. Sie präsentierten ein beeindruckendes Detailwissen über den Neukölln-Komplex. (Bericht zu den Gutachten von MBR und ReachOut; Gutachten der Berliner Registerstellen, externer Link) Dieses Wissen ist aber eben nicht neu, es liegt schon lange vor – wenn auch nicht in der konzentrierten Form, wie es im Ausschuss vorgetragen wurde. Im Ausschuss muss aber vieles davon immer noch einmal wiederholt werden. Einige Ausschussmitglieder halten sich gern damit auf, sich noch ein zweites oder drittes Mal die Arbeitsweise der Projekte erklären zu lassen. Und manche Ausschussmitglieder zeigen sich auch mal ganz überrascht über Erkenntnisse, die man schon vor zehn Jahren in diversen Antifa-Broschüren nachlesen konnte. Der Ausschuss müsste aber auf dem vorhandenen Wissen aufbauen und durch eigene Untersuchungen neues Wissen generieren. Das tat er aber auch in den folgenden Sitzungen nicht. In seiner 10. Sitzung hörte der Ausschuss die beiden Mitglieder der sogenannten Kommission Neukölln, die ehemalige Polizeipräsidentin von Eberswalde Uta Leichsenring und den früheren Bundesanwalt Herbert Diemer. Die Einsetzung dieser Kommission im Jahr 2020 verfolgte offenbar auch das Ziel, der Forderung nach Einsetzung eines Untersuchungsausschusses den Wind aus den Segeln zu nehmen. Wie zu erwarten hatten die beiden Sonderermittler*innen im Ausschuss nichts beizutragen, was nicht bereits in ihrem 2021 veröffentlichten Bericht stand. Der in der 11. Sitzung gehörte Opferbeauftragte des Landes Berlin konnte, weil er als Opferbeauftragter nie mit dem Thema befasst war, im Grunde gar nichts beitragen. Auf die Idee, in Vorbereitung auf anstehende Vernehmungen etwa von Ermittlungsbeamten auch Sachverständige aus der Wissenschaft oder dem investigativen Journalismus zu hören, kam der Ausschuss bisher nicht.

Stagnation und mangelndes Engagement

Bei vielen, die sich bereits länger antifaschistisch oder zivilgesellschaftlich in diesem Bereich engagieren, entsteht langsam eine gewisse Frustration sowie der Eindruck einer Stagnation und des mangelnden Engagements im Ausschuss. Dieser Eindruck hat allerdings eine Vorgeschichte. Insbesondere die SPD hatte sich lange gegen die immer lauter werdende Forderung nach einem Untersuchungsausschuss gesperrt. Seit 2001 stellte die SPD 16 Jahre lang den oder die Innensenator*in und durchgehend den*die Bezirksbürgermeister*in von Neukölln. Die anderen Berliner Regierungsparteien, Grüne und Linke, mussten den Untersuchungsausschuss nach der Wahl 2021 gegen ihren Koalitionspartner durchsetzen. Diese Konstellation führte auch zu der ungewöhnlichen Situation, dass der Untersuchungsausschuss – üblicherweise ein Mittel der Opposition – von den Koalitionsfraktionen beantragt wurde. Alle Fraktionen außer der FDP, die sich enthielt, stimmten für den Ausschuss. Dabei mag einigen Abgeordneten das zu Beginn der parlamentarischen Beschäftigung mit dem NSU-Komplex durchaus vorhandene parteiübergreifende Aufklärungsinteresse vorgeschwebt haben. Es findet im Neukölln-Ausschuss aber keine Entsprechung. Im Gegenteil: Der Ausschuss und seine Mitglieder auf Seiten der Regierung wie auf Seiten der Opposition scheinen oft nicht genau zu wissen, wo es mit dem Ausschuss eigentlich hingehen soll. Einige Ausschussmitglieder wirken eher gelangweilt. Der CDU-Abgeordnete Stephan Standfuß hatte bereits bei der Debatte zur Einsetzung des Ausschusses für sich die Frage gestellt, ob ein Untersuchungsausschuss für das, „was hier vorliegt, tatsächlich notwendig“ sei und lapidar angefügt: „Gut, wir werden aber heute zustimmen“. (Plenarprotokoll 11. Sitzung vom 5. Mai 2022, S. 782; externer Link) Eben dieser Abgeordnete sagte bei der Befragung der Sachverständigen Klose von der MBR im Ausschuss, er gebe zu, dass er deren – Tage vorher schriftlich vorliegendes – Gutachten nicht gelesen habe.

Das teilweise gezeigte Desinteresse wiegt nachhaltig schwerer als die propagandistischen Interventionen des AfD-Abgeordneten Antonín Brousek. Die Äußerungen von Berufsrichter Brousek im Ausschuss waren meist ersichtlich auf die anschließende Social-Media-Verwertung ausgerichtet. Für Brousek ist der Neukölln-Komplex bloß eine „große Verschwörungserzählung“, die Zeug*innen bezeichnete er als „präpariert“. Gleichzeitig verbreitet er selbst die Verschwörungserzählung, dass der Neukölln-Ausschuss eigentlich ein Ausschuss gegen die AfD sei. Dabei kann er sich nicht so recht entscheiden, welche schräge historische Analogie denn nun besser geeignet ist für seine Propaganda gegen Linke, die ‚Altparteien‘ und ‚die Antifa‘ – mal ist der Neukölln-Ausschuss ein „McCarthy-Ausschuss“ gegen die AfD, mal ein „stalinistischer Schauprozess“. Insgesamt spielen Brousek und die AfD im Ausschuss aber keine relevante Rolle.


Politik für die Galerie?

In einem 2021 veröffentlichten Text von NSU-Watch zum Neukölln-Komplex heißt es: „Die Betroffenen des rechten Terrors haben ebenso wie die Öffentlichkeit ein Recht darauf, dass ein kommender Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex mehr liefert als Imagepflege. Ein Ausschuss allein bringt noch keine Aufklärung. (…) Er kann ein Baustein sein, dem bisher ungestraften, jahrelangen Terror der Neonazis in Berlin den Boden zu entziehen.“ (Link) Der Neukölln-Ausschuss erfüllt diese Anforderung bisher nicht. Und damit reiht er sich in eine bundesweite Entwicklung ein. Die verschiedenen Untersuchungsausschüsse zum Thema Rechter Terror produzieren immer weniger neue Erkenntnisse oder gar Konsequenzen. Diejenigen, die für NSU-Watch die verschiedenen Versuche der parlamentarischen Aufklärung beobachten, haben vermehrt den Eindruck, dass in den Ausschüssen Politik für die Galerie gemacht wird. Politik also vor allem für die anwesende Presse und vielleicht noch die – oft kleine – interessierte Öffentlichkeit. Betroffene und auch die solidarischen Netzwerke nehmen es aber durchaus sensibel wahr, wenn sie zu Komparsen einer Politikshow gemacht werden sollen. Bei einer Kundgebung zum NSU-Untersuchungsausschuss in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2015 sagte Arif S., Überlebender des Nagelbombenanschlags auf die Keupstraße in Köln, dass er sich von diesem Ausschuss eine konsequente und komplette Aufklärung wünsche. Sollte der Ausschuss, so Arif S. weiter, aber ein Resultat präsentieren, was keine neuen Tatsachen und Fakten zu Tage fördert, dann „werden wir alle als Betroffene in eine schlimme Krise stürzen“. (Zitiert nach der Übersetzung aus dem Türkischen auf der Kundgebung; Audiodatei: externer Link)

Wie weiter?

Wie es konkret mit dem Neukölln-Ausschuss nach der Wahlwiederholung weitergeht, ist unklar. Dass sich die personelle Zusammensetzung ändern wird, weil die Mitglieder des Ausschusses neu gewählt werden müssen, ist so gut wie sicher. Der Wissenschaftliche Parlamentsdienst des Abgeordnetenhauses legt das Urteil des Berliner Verfassungsgerichtshofs darüber hinaus so aus, dass, obwohl die Legislaturperiode weiterläuft, alle Ausschüsse – also auch der Untersuchungsausschuss – komplett neu eingesetzt werden müssen. (RBB24; externer Link)

Sowohl die Forderung nach einer parlamentarischen Untersuchung von rechtem Terror als auch deren kritische, antifaschistische Begleitung und Beobachtung bleiben sinnvoll. Die Einsetzung eines solchen Ausschusses ist aber kein Selbstzweck. Gerade für eine kritische Öffentlichkeit, für Antifaschist*innen und Antirassist*innen muss klar sein: Untersuchungsausschüsse sind kein Allheilmittel. Sie sind nur ein mögliches Instrument der Aufklärung – und sie finden statt unter den eingeschränkten – manchmal unerträglich stark eingeschränkten – Bedingungen parlamentarischer Regeln und parteipolitischer Auseinandersetzungen. Sich in diesem Feld zu engagieren, sollte wohl abgewogen sein. Vielleicht ist es darüber hinaus aber auch Zeit, wieder stärker andere Formate der Aufklärung zu verwenden oder neue zu entwickeln.