Protokoll 22. Verhandlungstag – 11. Juli 2013

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Der Tag drehte sich um den Mord an  Habil Kılıç. Zunächst berichtete der Münchener Mordermittler Wilfling frei von Selbstkritik, wie akribisch zum Mordfall Habil Kılıç ermittelt wurde – fast ausschließlich in Richtung Organisierte Kriminalität. Die Witwe und die Schwiegermutter von Habil Kılıç waren am Nachmittag die ersten Angehörigen eines Mordopfers, die vor Gericht sprechen. Ihre Aussagen ließen das ihnen widerfahrene Leid erahnen und das Ausmaß des Unrechts greifbar werden.

Zeug_innen:

  • (KOR a.D., Ermittlungen zum Mordfall Kılıç)
  • Manfred H. (EKHK, Lichtbildvorlagen mit der Zeugin S., Mordfall Kılıç)
  • Bruno A. (KHK, Lichtbildvorlagen mit der Zeugin M., Mordfall Kılıç)
  • P. Kılıç (Witwe von Habil Kılıç)
  • Erda O. (Schwiegermutter von Habil Kılıç)

Der Verhandlungstag beginnt um 9.47 Uhr. RA Pausch,Verteidiger von Carsten S., lässt sich heute durch RA Potzler vertreten.

Erster Zeuge ist der Kriminaloberrat a.D. Josef Wilfling, ein auch aus den Medien bekannter Ermittler, der beim Mord an Habil Kılıç am 29. August 2001 in München mit den ersten Ermittlungen betraut war. Er berichtet, dass seine Mordkommission kurz nach 11 Uhr vormittags verständigt worden sei, in einem Frischemarkt in der Bad-Schachener-Straße sei es zu einem  Tötungsdelikt mit Schusswaffe gekommen. Der Ladeninhaber habe in seinem Geschäft hinter der Theke in einer Blutlache gelegen. Es seien dann die ersten Maßnahmen ergriffen worden.

Die Tatzeit sei ziemlich genau einzugrenzen gewesen durch Telefonate und Zeugenaussagen. Um 10.30 sei noch ein Kunde im Laden gewesen, um 10.32 Uhr sei Kılıç von einem Arbeitskollegen angerufen worden, das Gespräch habe drei Minuten gedauert. Danach müsse der Mord passiert sein. Um 10.40 Uhr sei eine Kundin in den Laden gekommen und habe Kılıç gefunden. Ein Postbote habe dann vom Festnetz um 10.52 Uhr die Polizei benachrichtigt. In einer Anwohnerbefragung hätten zwei Nachbarinnen von gegenüber des Geschäfts unabhängig voneinander ausgesagt, sie hätten einen dunklen Mercedes vor dem Geschäft gesehen, in den ein dunkelhäutiger Mann eingestiegen sei, der zuvor aus dem Laden gekommen sei. Der Wagen habe sich dann mit quietschenden Reifen entfernt. Später habe sich heraus gestellt, dass die Aussage „ein Fake“ gewesen sei. Die eine Zeugin habe ein Alkoholproblem gehabt, habe sich die angebliche Beobachtung ausgedacht und der zweiten Zeugin davon erzählt. Es habe einen Hinweis auf ein Fahrzeug hinter dem Laden gegeben, einen silbernen Ford Escort mit offener Türe, an dem ein Türke gestanden habe. Später habe sich heraus gestellt, dass das Auto einem Rentner gehörte. Die Beobachtung habe keine Tatrelevanz gehabt. Des weiteren habe es Aussagen von zwei Anwohnerinnen gegeben. Die eine habe ausgesagt, dass sie einmal gegen 9.30 Uhr und später noch einmal zwei junge Männer in dunkler Kleidung mit Fahrrad gesehen habe. Die zweite Zeugin habe ausgesagt, gegen 10.45 Uhr zwei junge Männer gesehen zu haben, die unterhalb ihres Balkons auf ihre Räder gestiegen und weg gefahren seien. Die Beschreibungen seien bei beiden Zeuginnen nahezu identisch gewesen, eine genauere Beschreibung der Radfahrer habe nicht vorgelegen. Es habe sich laut den Aussagen um junge, sportliche Männer im Alter zwischen 18 und 30 gehandelt. Sie hätten gewirkt wie Kurierfahrer. Es sei dann nach den Fahrzeugen gefahndet worden. Nach den Radfahrern sei öffentlich als Zeugen gefahndet wurden, es habe keine Hinweise darauf gegeben, dass es sich um die Täter handelte.

Am Tatort sei, so Wilfling, ein Rechtsmediziner hinzugezogen worden, der festgestellt habe, dass Kılıç durch zwei Kopfschüsse getötet worden sei. Beim ersten Schuss habe Kılıç gestanden. Der zweite Schuss habe Kılıç im Fallen am Hinterkopf getroffen. Wilfling sagt, es habe sich um eine „absolut professionelle“ Hinrichtung gehandelt. Er sagt, der zweite Schuss sei „wie ein Fangschuss“ gewesen. Eines der Projektile des Kalibers 7.65 sei draußen gefunden worden, es sei wahrscheinlich durch Rettungskräfte oder Zeugen dorthin vertragen worden. Das andere sei später in einer Wand an der Theke gefunden worden. Hülsen seien keine gefunden worden, aber ein Stück von einer Plastiktüte. Daher sei geschlossen worden, dass die Waffe sich bei Schussabgabe in einer Tüte befunden habe. Es hätte sich keine weiteren Spuren gefunden, keinerlei Hinweise auf die Täter. Ein Raubmord sei ausgeschlossen worden, weil sowohl die Kasse als auch Kılıçs Geldbörse unangetastet gewesen seien.
Im Folgenden geht Wilfling am Richtertisch die Lichtbildmappe zum Mord an Kılıç durch. Zuerst werden ein Stadtplan und diverse Luftbilder gezeigt. Sie verdeutlichen, dass der Tatort in einem Eckhaus liegt. Hundert Meter entfernt befinde sich eine Polizeidienststelle, so Wilfling. Direkt am Haus befindet sich ein Durchgang zu quer zur Straße liegenden Wohnblöcken. In zwei der Häuser hätten die beiden Zeuginnen gewohnt, die die Radfahrer gesehen hätten, so Wilfling. Es werden diverse Bilder vom Außenbereichs des Geschäfts gezeigt. Dann folgen Bilder vom Inneren des Ladens. Wilfling sagt, der Täter habe nur durch die Vordertür in den Laden kommen können. Diese habe im Sommer immer offen gestanden habe, weswegen dort auch keine Spuren gefunden worden seien. Es folgen Aufnahmen vom blutüberströmten Leichnam Habil Kılıçs. Es sind noch Schläuche im Mund des Mordopfers zu sehen, die von einer versuchten Reanimation stammen. Es folgen viele Bilder aus dem Geschäft. Mehrfach betont Wilfling, dass sehr akribisch gearbeitet worden sei, jeder Quadratzentimeter sei abgesucht worden. Fingerabdruckspuren seien zahlreich gesichert worden, hätten aber nichts ergeben. Zu sehen sind auch Fotos aus der in der Nähe des Geschäfts gelegenen Wohnung der Familie Kılıç, die jedoch völlig unauffällig gewesen sei.

Nach einer Pause folgt die Befragung durch die Nebenklagevetreter_innen. RA Scharmer fragt nach einem Vermerk, demzufolge die Projektile mit dem Zusatz ‚Eilt sehr‘ zum LKA geschickt worden seien. Wilfling sagt, sie hätten von einer Serie gezielter Hinrichtungen gewusst, es sei darum gegangen, möglichst schnell herauszufinden, ob das Delikt dazu gehöre. Zu weiteren Anhaltspunkten dafür, dass das Delikt zu der Serie gehören könnte, sagt Wilfling: „In erster Linie die Opfer.“ Es seien alles türkische Mitbürger gewesen, da brauche man nicht lange nachzudenken, dass da ein Zusammenhang sei. Es habe in 2001 weitere Taten mit Waffen der Kaliber 6.35 und 7.65 gegeben, die mit Drogendelikten im Zusammenhang gestanden hätten. Und auch bei der Ceska-Serie habe es vage Hinweise auf einen Drogenhintergrund gegeben. Sein letztes Telefonat habe Kılıç mit einem Mann geführt, der mit Drogen zu tun gehabt habe. Das habe sich später als nicht tatrelevant heraus gestellt. Ob andere Motive überprüft worden seien, will Scharmer wissen. Sie hätten in alle Richtungen, die man sich überhaupt vorstellen könne, ermittelt, so Wilfling. Gegen die Angehörigen Kılıçs habe nie ein Verdacht bestanden. Kılıç sei fast ausschließlich in der türkischen Community verkehrt, es sei logisch, dass man dort ermittelt habe. Dass es in Nürnberg auch Zeugenaussagen gegeben habe, die von Radfahrern berichten, sei sicher besprochen worden, das sei aber erst später gewesen. Er selber sei nicht Teil der „Soko Halbmond“ gewesen. In München habe es keinen Hinweis für einen Tatzusammenhang gegeben. Wilfling: „Heute weiß man es besser, heute weiß ich auch, das waren die Täter.“ RA Narin hält Wilfling vor, laut einer Aussage, habe es sich bei der Person, die angeblich aus dem Laden gelaufen und in den Mercedes gestiegen sei, um einem „Mulatten“ gehandelt. Götzl moniert, der Vorhalt sei nicht korrekt. Wilfling sagt, er glaube, Narin hätte das auch nicht anders eingeordnet, wenn zwei Zeuginnen unabhängig voneinander eine solche Aussage machen. Es sei „völlig normal, dass das die prioritäre Spur ist.“ Die Radfahrer seien als Kuriere beschrieben worden. Es habe etwas gedauert, bis sie herausgefunden hätten, dass die Aussagen der beiden Zeuginnen von gegenüber dem Laden falsch gewesen seien. Narin hält Wilfling eine Aussage eines Zeugen vor, ein Tatverdächtiger sei als Türke einzuschätzen und habe einen schmalen Schnurrbart, einen so genannten „Mongolenbart“ getragen. Wilfling sagt, das basiere auf der Aussage eines Rentners. Es sei ein Phantombild angefertigt worden, das aber zu nichts geführt habe. Der Mann sei außerdem als Zeuge, nicht als Tatverdächtiger gesucht worden. Nach einer Frage des RA Rabe fragt Narin Wilfling nach seiner Aussage beim NSU-Untersuchungssausschuss Bayern. Wilfling sagt, eine grüne Abgeordnete habe immer wieder wissen wollen, warum sie nicht gewusst hätten, dass es sich bei den Radfahrern um Neonazis handele: „Dann habe ich dummerweise den Satz gesagt: ‚Haben sie schon mal einen Neonazi auf einem Fahrrad gesehen?'“ RA Daimagüler fragt, ob die Tatsache, dass sich die möglichen Zeugen, die Radfahrer, nie gemeldet haben, etwas an der Einschätzung geändert habe, dass es sich um Zeugen handelt. Wilfling sagt, er habe sich damals nicht vorstellen können, dass es sich um die Täter handeln könnte. Man solle sich doch in die damalige Lage versetzen, der heutige Kenntnisstand sei ein anderer. Sie hätten die Radfahrer als Zeugen eingestuft, wer als Tatverdächtiger in Frage kommt, habe man damals nicht sagen können. Ob sich auch Gedanken über einen politischen Hintergrund gemacht worden sei, will Daimagüler wissen. Wilfling sagt, das sei überprüft worden. Vier Fünftel der Zeug_innen seien türkisch gewesen, es sei auch auf PKK und Graue Wölfe hingewiesen worden. Ein Zeuge habe gesagt, es könne sich um einen „Türkenhasser“ handeln, habe dabei aber die PKK gemeint. Man müsse auch den Modus der Tat berücksichtigen, es habe sich um eine gezielte Tötung mit konspirativem Annähern gehandelt. Sie hätten sich einige Tötungsdelikte von rechts angeschaut. Das seien alles brutale, laute Angriffe gewesen, die Täter hätten sich keine Mühe gegeben, das zu verbergen. Es habe aber viele Hinweise auf Organisierte Kriminalität gegeben. Wilfling: „Jetzt soll man mal bitte nicht so tun, als ob es keine türkische Drogenmafia gibt.“ Es habe auch Spuren nach Holland gegeben. Daimagüler fragt, ob es bei Kılıç Hinweise auf Holland gegeben habe, darum gehe es ja hier. Wilfling sagt, nicht bei Kılıç, aber in Nürnberg. Wilfling: „Der Herr Kılıç war ein kreuzbraver, arbeitsamer, humorvoller Mensch.“ RA Rabe fragt, welches Nürnberger Opfer denn Kontakte nach Holland gehabt habe. Wilfling sagt, soweit er wisse, Özüdoğru. Bundesanwalt Diemer fährt heftig dazwischen, um was es denn hier gehe. Die Anklage gehe davon aus, dass und die Täter waren und sei als Mittäterin angeklagt. Es solle doch bitte um die Taten gehen. Rabe sagt, die Anklage verhalte sich nicht dazu, welchen Hintergrund die Opferauswahl gehabt habe. Diemer sagt, die Anklage gehe davon aus, dass die Opfer ausgesucht wurden, weil sie Ausländer waren, man solle sich doch auf den Anklagevorwurf beschränken. Rabe antwortet: „Wenn hier ein Polizeibeamter suggeriert, es gebe kriminelle Verstrickungen der Opfer, dann wird die Nebenklage dazu etwas sagen.“ RA Kuhn fragt, ob weitere Schlüsse gezogen wurden außer dem Ausschluss eines Raubmordes. Wilfling sagt, es sei alles untersucht worden. Das Opfer habe in der Großmarkthalle gearbeitet, diese sei ja bekannt als Drogenumschlagplatz, es habe Schulden gehabt und sie hätten geschaut, ob es sich bei dem Mord um einen Auftragsdelikt habe handeln können. Ob denn Überlegungen angestellt worden seien, dass es wenn es um Schulden gegangen wäre, naheliegend gewesen wäre, dass das Geld genommen wird, will Kuhn wissen. Wilfling sagt, er wisse es nicht. Nebenklagevertreter RA Erdal möchte wissen, ob Wilfling von den Brandanschlägen in Mölln und Solingen wisse. Es folgt eine heftige Auseinandersetzung zwischen dem Vorsitzenden Richter Götzl und Erdal. Erdal solle zum Thema fragen, so Götzl. Wilfling sagt: „Jetzt darf ich ihnen mal was sagen: Wir alle hätten diese Serie gern geklärt. Wir sind keine, die auf dem rechten Auge blind sind.“ Erdal möchte wissen, warum nicht nach rechts ermittelt worden sei. Götzl ermahnt Erdal. Erdal wird lauter und sagt, der Zeuge operiere mit Halbwahrheiten, es habe nur eine Spur nach Holland gegeben. Aufgeregt sagt Götzl, Erdal sei zu emotional. Damit Erdal sich beruhigen könne, mache er jetzt fünf Minuten Pause.
In der Pause unterhält sich der Angeklagte André E. angeregt mit RAin , der Verteidigerin von .
Nach der Pause fragt RA Manthey, ob sich um die Familie Kılıç gekümmert worden sei. Wilfling spricht davon, dass ein Kontakt zum „Weißen Ring“ vermittelt worden sei, es habe intensiven Kontakt gegeben. Nach Fragen von RAin , Verteidigerin von Zschäpe, fragt RAin Schneiders zu einer Vernehmung eines Herrn D. Wilfling sagt, D. sei amtsbekannt als Hinweisgeber, der immer zu allem etwas gewusst haben will. Dessen Angaben, auch die zu Kılıç, müsse man mit Vorsicht behandeln. Es habe ein geflügeltes Wort bei der Polizei gegeben: „Wer den Herrn D. zum Freund hat, braucht keine Feinde mehr.“ Schneiders hält Wilfling Hinweise von D. auf Gerüchte im Großmarkt über eine Heroinlieferung, mit der Kılıç angeblich etwas zu tun habe, vor. Wilfling wiederholt, man müsse den Zeugen D. mit Vorsicht genießen. Den Spuren sei nachgegangen worden, ohne Ergebnis: „Wenn ein Hinweis nicht stimmt, kann es auch kein Ergebnis geben.“ RA , Verteidiger von Wohlleben, fragt nach der ‚Milli Görüş‘. Wilfling sagt, es könne sein, dass das in den 50 Zeugenvernehmungen erwähnt worden sei. Die ganzen Hinweise hätten sich aber alle nicht bestätigt.
Nebenklagevertreterin RAin Kanyuka fragt dann nach einer Besonderheit bei den Radfahrern. Wilfling sagt, einer oder alle beide hätten ein Headset getragen. Wenn nur einer ein Headset getragen hätte, dann hätte man vielleicht auf eine dritte Person schließen können. Er habe aber diesbezüglich nichts abgeklärt.

Es folgen zwei Erklärung nach § 257 StPO. Die erste verliest RA Lucas für die Nebenklage Şimşek. Es geht um die Befragung des Zeugen durch RA Rabe. Im Rahmen der Hauptverhandlung müsse geklärt werden, vor welchem Hintergrund die Opfer ausgesucht wurden. Es gehe nicht um einen neuen Untersuchungsausschuss. Im Urteil müsse aber stehen, warum gemordet wurde. Jede Spur müsse daher zur Sprache kommen. Der Strafprozess müsse auch das postmortale Persönlichkeitsrecht schützen, Rehabilitierung könne nicht groß genug geschrieben werden. Die Familie Şimşek habe sich massiven Vorwürfen ausgesetzt gesehen. Er appelliere an die Vertreter des Generalbundesanwalts, diese Diskussion nicht jedes Mal neu aufzumachen. Es gehe auch darum, zu verstehen. Dann verliest RA Scharmer seine Erklärung. Er sagt, Fragen nach den Ermittlungen seien auch für die Schuldfrage relevant, wenn es darum gehe, dass Taten vielleicht hätten verhindert werden können.

Es folgt die Mittagspause von 12:15 bis 13:35

Nach der Mittagspause gibt Bundesanwalt Diemer eine Erklärung als Erwiderung auf die vorherigen Nebenklage-Erklärungen ab. Er verweist darauf, dass dies juristisch keine Erklärungen nach § 257 StPO gewesen seien, seine Erwiderung sei auch nicht formal juristisch korrekt, aber er müsse darauf antworten, da die Interventionen des GBA beanstandet worden sei. Er verweist darauf, dass Fragen beanstandet werden müssten, die den Prozess verzögern würden. Fehlende oder frühere Ermittlungsansätze, wie fehlender rechtsextremer Hintergrund, hätten keinerlei Bedeutung für die Angeklagten. Ob und wie mögliche Straftaten verhindert hätten werden können müsse an anderer Stelle geklärt werden, im Strafprozess könnten diese Fragen aufgrund der prozessualen Grundsätze und des Beschleunigungsgebots nicht beantwortet werden. Nebenklageanwalt Lucas erwidert, die Frage ob an einem früheren Ermittlungsansatz heute noch festgehalten wird, muss auf jeden Fall zulässig sein und gehört in die Hauptverhandlung.

Als nächster Zeuge erscheint EKHK (Erster Kriminalhauptkommissar) Manfred H. Als Kriminalbeamter beim K11 in München führte er im Jahr 2012 im Auftrag der BAO Trio Lichtbildvorlagen mit der Zeugin S. durch. Diese hatte die zuvor schon erwähnten Radfahrer im Mordfall Kılıç gesehen und wurde bei der Befragung gefragt, ob sie diese auf Fotos wiedererkennen würde. Sie berichtete H., dass sie meinte zwar bei mehreren Personen Ähnlichkeiten zu erkennen, aber konnte mit Sicherheit niemanden zuordnen, zumal sie die Radfahrer nur von schräg oben gesehen hatte. Sie wiederholte aber ihre früheren Angaben, wonach es bei den beiden Radfahrern um junge Männer handelte, beide in dunkler Fahrradkleidung, einer sei etwas größer als der andere gewesen. Der Größere haben einen Rucksack auf dem Rücken gehabt. Nachdem Böhnhardt und Mundlos in der Presse gewesen seien, meinte sie den kleineren in der Presse zu erkennen.

Im Anschluss erscheint als Zeuge KHK Bruno A, ebenfalls Kriminalbeamter beim K11 in München.  Auch in seiner Aussage geht es um eine Lichtbildvorlage im Zuge der Ermittlungen der BAO Trio, da die Zeugin M. ebenfalls die beiden Radfahrer am Tattag des Mordes an Habil Kılıç gesehen hatte. Er berichtet, wie er 2012 zur Zeugin M. nach Hause gefahren sei. Dort habe M. ihm gezeigt, auf welchem Weg sich die beiden Radfahrer auf silbernen Rädern entfernt hätten. Sie habe von zwei jungen Männern in dunkler Radkleidung berichtet, aber konnte niemanden auf den Lichtbildern erkennen. Sie hätte den beiden Radfahrern noch hinterher gerufen, dass man in der Grünanlage nicht fahren dürfte, diese hätten aber nicht reagiert.

Nach einer weiteren Pause kommen dann zum ersten Mal Angehörige eines Mordopfers im Prozess zu Wort. Als Zeugin ist zunächst die Witwe von Habil Kılıç, P. Kılıç, geladen. Die 51-jährige frühere Einzelhandelskauffrau betritt den Gerichtssaal und nimmt am Zeug_innen-Tisch platz. Ihr Anwalt, Rechtsanwalt Manthey, der sie als Nebenklägerin vertritt, bleibt zunächst auf seinem angestammten Platz im hinteren Teil des Saals sitzen. Götzl belehrt die Zeugin und fragt sie nach ihrer Adresse. Nur sehr zögerlich nennt sie die Straße und will den Ort nicht laut im Gerichtssaal nennen. Nach kurzer Diskussion gibt sie Götzl ihren Personalausweis. Zu Zschäpe gewannt sagt sie: „Also, was diese Frau gemacht hat…“. Götzl fragt, was ihr für ein Mensch Herr Kılıç gewesen sei. P. Kılıç berichtetet, dass er ein sehr guter Mensch für sie gewesen sei, ein Familienvater und anständiger Mann. Sie lernte ihn im Urlaub in der Türkei kennen, das sei schön gewesen. Götzl fragt nach Details, doch P. Kılıç fagt Götzl, ob er das nicht alles gelesen habe, er solle ihren Anwalt fragen, wichtiger sei, dass diese Frau (Zschäpe) bestraft wird. Götzl versucht ihr zu erklären, wozu die Befragung dient, sagt sie sei geladen worden, um etwas über ihren verstorbenen Mann zu erfahren. Nach und nach berichtet sie, dass Habil Kılıç als Gabelstaplerfahrer in der Großmarkthalle gearbeitet habe, jeden Morgen um 3:30 Uhr dorthin gefahren sei und Mittags zurück gekommen sei, dann habe er sie im Laden unterstützt. Götzl liest aus einer früheren Vernehmung vor, dass der Laden etwas mehr als ein Jahr vor dem Mord, im März 2000, eröffnet wurde. Samstags habe Habil Kılıç den Laden alleine geführt und sie länger schlafen lassen. Zum Zeitpunkt des Mordes war die Zeugin im Urlaub in der Türkei. Auf die Fragen von Götzl, wie die Situation nach der Tötung ihres Mannes gewesen sei, sagt sie: „Wie kann das sein? Können sie sich das nicht vorstellen, wenn man den Mann, dann den Laden verliert. Wie die Leute darüber reden, wenn man wie ein Verdächtiger behandelt wird. Sie können es lesen bei Herrn Manthey, was soll ich hier sagen vor dieser Frau [Zschäpe].“.Götzl erwidert, wenn er freundlich frage, erwarte er auch eine freundliche Antwort, es ginge nicht um diese Frau. P. Kılıç berichtet weiter: „sie“ hätten eine große Menge Schaden angerichtet, erst den Mann ermordet, dann den ganzen Freundeskreis kaputt gemacht, das ganze Finanzielle, „alles haben sie kaputt gemacht, alles“. Sie hätte auch nicht in der Wohnung bleiben können, die Wände seien beschmiert gewesen, auf den Möbeln lauter schwarze Flecke [von der Suche nach Fingerabdrücken]. Die Wohnung habe sie aufgeben müssen, ebenso den Laden, der noch voller Blut gewesen sei, als sie die Schlüssel von der Polizei wieder bekam. „Ich habe dann gesagt, ich kann nicht alles aufgeben. Ich habe die deutsche Staatsangehörigkeit, ich muss weiter machen, einen neuen Arbeitsplatz suchen. Ich habe gesagt, ich muss auf die Zähne beißen und nicht die Hoffnung aufgeben.“ Die Polizei habe auch ihre Familie und ihren Freundeskreis untersucht, auch in der Türkei. Mit diesen Ermittlungen sei viel Zeit verloren gegangen.

Ihr Geschäft habe sie aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen und werde noch heute ärztlich behandelt. Götzl bohrt nach, ob sie psychische Probleme gehabt habe, doch P. Kılıç will nicht darauf antworten und verweist auf ihren Anwalt und ihre Ärzte, alles sei in den Akten belegt. Nun begibt sich auch ihr Anwalt nach vorne und setzt sich neben die Zeugin. Götzl erkundigt sich nach ihrer finanziellen Situation. Ihre Eltern hätten sie unterstützen müssen berichtet die Zeugin. Heute erhalte sie 177€ Rente, jetzt nach Jahren noch eine weitere Rente von der Krankenkasse. Nach der ganzen Situation gefragt sagt sie: „Das ist nicht einfach, sie müssen stark sein, aber so stark kann man nicht sein, irgendwann bricht man zusammen.“ Sie sagt aus, wie sie zum Tatort kam und auf der gegenüberliegenden Seite einen Mann sah, der ihr erzählte, er sei von Nazis stranguliert worden, doch als sie die Kripo gerufen habe, war der Mann schon weg gewesen. Auf die Frage, ob der Mord auch ihr gegolten haben könnte, schließlich sei es ja ihr Laden gewesen, antwortet Kılıç, sie kenne „diese Frau“ [Zschäpe] nicht und habe keine Probleme gehabt. Götzl will noch mehr über ihren Mann wissen. Er sei gerne Auto gefahren und Schwimmen gegangen, so die Witwe. Götzl liest aus einer früheren Aussage vor, dass das Paar 1985 in der Türkei geheiratet habe. Habil habe aus ausländerrechtlichen Gründen erst drei Jahre später nach Deutschland kommen können. Nebenklage-Anwältin Kanyuka will wissen, wie ihre damals 10-jährige Tochter auf den Tod reagiert hat. Sie habe sie abgelenkt, berichtet P. Kılıç, und gewollt, dass zu Hause nicht mehr darüber geredet wird. Sie sagt, wenn sie jemanden ermordet hätte, wäre sie nach zehn Jahren wieder frei, aber so „kommt es mir vor, dass ich jetzt seit 13 Jahren mit einer Kette um den Hals aufgehängt bin… lebenslänglich!“

Nach einer zehnminütigen Pause übersetzt zunächst ein Dolmetscher für P. Kılıç, doch schon nach den ersten Fragen antwortet sie meist wieder auf deutsch. Nun fragt Rechtsanwältin Kanyuka noch einmal nach der Schule der Tochter. Die habe ihre Tochter wechseln müssen, so K. Kılıç, außerdem haben sie umziehen müssen, denn in dieser Wohnung hätten sie nicht weiterleben können. Von Seiten der Verteidigung kommen keine Fragen.

Als letzte Zeugin des Tages wird im Anschluss um 15:45 Uhr die Mutter von P. Kılıç und Schwiegermutter des Mordopfers Habil Kılıç angehört. Die 74-jährige Diplom-Chemikerin Erda O. erzählt auf die Frage von Götzl, wie das Opfer gelebt hat. Noch einen Tag vor seinem Tod habe sie mit ihm eine Tasse Kaffee getrunken, er sei gesund gewesen, alles sei in Ordnung gewesen. Am nächsten Tag habe ein Nachbar ihrer Tochter angerufen und gesagt, es stimme etwas nicht. Sie habe daran gedacht, dass sich ihr Schwiegersohn vielleicht den Fuß gebrochen habe, doch der Nachbar habe nur gesagt, sie solle in die Bayerstraße 34 kommen. Dort habe sie die Polizistin V. drei Stunden lang befragt, etwa wie sie mit ihrem Schwiegersohn zurecht komme. Von seinem Tod sei ihr zunächst nichts gesagt worden. Nach dreieinhalb Stunden habe das Telefon geklingelt, die Polizistin V. habe sich nach dem Telefonat zu ihr umgedreht und gesagt, dass ihr Schwiegersohn verstorben sei und in der Autopsie sei, die Organe seien aber gesund. Auch auf mehrfache Nachfragen von Götzl während der Befragung bleibt sie bei ihrer Darstellung, dass sie erst nach drei Stunden Vernehmung über den Tod informiert wurde. O. berichtet: „Wenn sie mir Bescheid gesagt hätten, hätte ich in der letzten Sekunde vielleicht seine Hand halten können.“ Auf den Vorhalt eines Aktenvermerks der Vernehmungsbeamtin V., sie sei vor der Befragung bei der Polizei über den Tod informiert worden, erklärt sie schlicht und einfach „Quatsch“.

Dann wird die Schwiegermutter von Habil Kılıç gefragt, wie die Familie mit dem Tod zurecht gekommen sei. Auch sie berichtet, dass ihre Tochter zunächst nicht in ihrer Wohnung wohnen durfte, später sei dann alles mit schwarzem Fingerabdruck-Pulver überzogen gewesen. Trotzdem hätte die Miete für den Laden und die Wohnung gezahlt werden müssen. Auch die Medien hätten sie fertig gemacht. Diese hätten über Drogen- und Frauengeschichten geschrieben, „das war eine reine Katastrophe, das war kein Leben mehr“. Götzl fragt nach der Enkelin. O. berichtet, wie die Schule sie zunächst rausschmeißen wollte, die Chefin hätte gesagt, dass sie Angst um die anderen Kinder hätte. Nur mit Ach und Krach hätte sie es geschafft, dass die Enkelin in der Schule bleiben durfte. Auch die ärztliche Behandlung ihrer Tochter wird noch einmal thematisiert. Götzl fragt nach Details. Die Zeugin sagt nur, dass die Witwe durchgängig in ärztlicher Behandlung sein. Am Ende der Vernehmung kommt Götzl noch einmal auf das damalige Verhör durch die Polizistin V. zurück, doch O. besteht darauf, dass es sich so zugetragen habe, wie sie berichtete. Nach dem Verhör sei sie zum Laden gefahren, dort sei alles mit Flatterband abgesperrt gewesen, Polizisten in weißen Anzügen seien vor Ort gewesen. Die Leiche war da schon nicht mehr am Tatort. Zu den Folgen der Tat sagt sie noch: „Warum wurde nur bei uns gesucht, 13, 14 Jahre lang? Warum wurden nicht die Verbrecher gesucht, das ist verlorene Zeit. Wissen sie, wie oft ich Fingerabdrücke abgeben musste?“

Der Prozesstag endet ohne weitere Fragen der anderen Prozessbeteiligten oder Erklärungen um 16:20.

Rechtsanwalt Scharmer erklärt zur Befragung des leitenden Kriminalbeamten Wilfling:
“Wenn man sich diese Ansichten des Zeugen vor Augen führt, verwundert es nicht, dass die Ermittlungsbehörden über 10 Jahre in die falsche Richtung ermittelt haben. Anstatt zu überprüfen, ob eine Personenidentität zwischen den in Nürnberg beschriebenen Tätern in Fahrradkleidung und den Fahrradfahrern am Münchener Tatort Kilic besteht, wurde „akribisch“ nach Drogen, „Mafia“ und „PKK“ ermittelt. Es ist bezeichnend, dass der Zeuge, ein pensionierter hochrangiger Kriminalbeamte, aussagt, er habe sich einfach nicht vorstellen können, dass die zwei Radfahrer, die wie Kuriere ausgesehen hätten, tatverdächtig sein könnten, stattdessen aber in seinen Vermerken von tatverdächtigen „Mulatten“ oder einem „Türken mit Mongolenbart“ spricht.“

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