V-Mann Piatto im NSU-Komplex: Die wissende Quelle

0

Mit Mütze, falschen Bart, verstellter Stimme, begleitet von einem Anwalt des Verfassungsschutzes und allenfalls per Videoschaltung – so soll, geht es nach der so genannten „Sperrerklärung“ des Brandenburger Innenministeriums – Carsten Sz. alias V-Mann „Piatto“ am 4. November 2014 im NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und ihre vier Mitangeklagten in München als Zeuge gehört werden. Zu groß sei die Gefahr, dass „Links- oder Rechtsextremisten“ im Gerichtssaal Fotos des Zeugen machen würden, der seit der Enttarnung seiner V-Mann-Tätigkeit im Juni 2000 im Zeugenschutzprogramm lebt, behauptet die Behörde. „Am Beispiel Carsten Sz. alias Piatto zeigt sich, wie mit dem Geheimdienst-Prinzip ‚Quellenschutz statt Strafverfolgung‘ die Aufklärung von Mord und Totschlag blockiert wird,“ sagt dagegen Rechtsanwalt Sebastian Scharmer. Der Anwalt vertritt die Tochter des in Dortmund vom NSU ermordeten Kioskbesitzers Mehmet Kubasik und hatte mit anderen Nebenklägervertretern die Ladung von Carsten Sz. als Zeugen beantragt. Die Anwälte haben am vergangenen Donnerstag Richter Götzl gebeten, das Innenministerium Brandenburg darauf hinzuweisen, dass die Sicherheit der vor dem OLG München als Zeugen gehörten neonazistischen V-Leute und im Zeugenschutzprogramm befindlichen Angeklagten bislang sehr wohl gewährleistet worden sei. Sebastian Scharmer hält das Vorgehen des brandenburgischen Innenministeriums schlicht für einen „Akt der Sabotage“. Er verweist darauf, dass mit einer Videoübertragung – noch dazu unter Ausschluss der Öffentlichkeit – die Chancen für mögliche Rechtsmittel der Angeklagten gegen ein Urteil größer würden.

Ein Blick in vielen Seiten, die der Abschlussbericht des Bundestagsuntersuchungsausschusses zum „Nationalsozialistischen Untergrund“ dem V-Mann Piatto widmet, macht die Brisanz einer Zeugenvernehmung von Carsten Sz. am OLG München deutlich. Denn bereits am 9. September 1998 – da wurde das Trio aus Jena gerade einmal sechs Monate wegen Sprengstoffbesitzes und Rohrbombenbau per Haftbefehl gesucht und war in Chemnitz bei Kameraden aus dem Neonazinetzwerk Blood&Honour untergekommen – hatte Carsten Sz. als V-Mann Piatto seinem V-Mann-Führer gemeldet: „Einen persönlichen Kontakt zu den drei Skinheads soll Jan W. haben. Jan W. soll zur Zeit den Auftrag haben, ‚die drei Skinheads mit Waffen zu versorgen‘. Gelder für diese Beschaffungsmaßnahmen soll die ‚‘-Sektion Sachsen bereitgestellt haben. Die Gelder stammen aus Einnahmen aus Konzerten und dem CD-Verkauf. Vor ihrer beabsichtigten Flucht nach Südafrika soll das Trio einen weiteren Überfall nach dem Erhalt der Waffen planen, um mit dem Geld sofort Deutschland verlassen zu können. Der weiblichen Person des Trios will ihren Pass zur Verfügung stellen. (…).“

Der Rädelsführer

Die Umstände, unter denen Carsten Sz. an diese Informationen gelangte, dürften selbst nach Geheimdienstmaßstäben als ungewöhnlich gelten. Der ehemalige Postazubi hatte sich schon als 19-Jähriger in West-Berlin der „Nationalistischen Front“ angeschlossen und die „White Knights of the KKK“ – die Weißen Ritter des “ – in Deutschland aufgebaut. Im Dezember 1991 fanden Polizeibeamte u.a. vier Rohrbombenrohlinge, Sprengstoff und fremde Reisepässe in einer von Carsten Sz. genutzten Wohnung. Als der Generalbundesanwalt im Februar 1992 ein Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung nach §129a StGB gegen 33 mutmaßliche Mitglieder der „Weißen Ritter des KKK“ einleitete und Carsten Sz. als einer der mutmaßlichen Rädelsführer vernommen wurde, machte er gegenüber den BKA-Vernehmern umfangreiche Aussagen. Drei Monate später – am 8. Mai 1992 – ist Carsten Sz. der Anführer einer aufgepeitschten Gruppe von Naziskins, die in der Diskothek des Dorfs Wendisch-Rietz unter lauten „Ku-Klux-Klan“ und „White-Power“-Rufen über den nigerianischen Lehrer Steve Erenhi herfallen. Obwohl Zeugen schon zwei Tage nach dem Angriff, den Steve Erenhi mit schwersten Kopfverletzungen nur knapp überlebt, Carsten Sz. als den Rädelsführer benennen, gibt es keine Fahndung nach ihm. Im Gegenteil: Der Generalbundesanwalt stellt sogar wenige Monate später das Ermittlungsverfahren nach §129a StGB gegen ihn und die anderen „Weißen Ritter“ ein. Die Begründung: Es fehlten „Anhaltspunkte dafür“, dass der Angriff „wegen der Zugehörigkeit der Täter zum ‚Ku- Klux-Klan‘ und in Erfüllung des Vereinszwecks“ begangen worden sei.

Begleitmusik zu Mord- und Totschlag

In den folgenden zwei Jahren wird zwar der Haupttäter des Überfalls auf Steve Erenhi zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt, doch Carsten Sz. bleibt unbehelligt. Er nutzt die Zeit, um ein neues Naziheft namens „“ herauszubringen und intensive Kontakte im Netzwerk von „Blood&Honour“ aufzubauen. Zum Beispiel zur Sektion Chemnitz, deren Aktivistinnen und Aktivisten im Januar 1998 der erste Unterstützerkreis für Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sein werden. B&H Aktivisten verstehen sich als politische Soldaten in der Tradtion der Waffen-SS. Um die NS-Ideologie zu verbreiten, setzt Blood&Honour auf bewaffnete, führerlose Terrorzellen gegen „Rote, Ausländer und Asoziale“ und auf RechtsRock, um eine flächendeckende Neonazi-Bewegung aufzubauen. Blood & Honour Bands wie „Blue Eyed Devils“ oder „No Remorse“ spielen damals jedes Wochenende vor hunderten von Naziskins, die begeistert die Begleitmusik zu Mord- und Totschlag mitgröhlen. Mittendrin Carsten Sz. – u.a. als Mitverantwortlicher für eines der größten brandenburgischen Neonazikonzerte im Juli 1993 in Prieros mit über 800 Besuchern – inklusive SS-Uniformen und Hakenkreuz-Fahnen.

Erst im Mai 1994 erlässt die zuständige Staatsanwaltschaft Frankfurt/Oder auf Drängen des Berliner Rechtsanwalts Christoph Kliesing, der Steve Erenhi vertritt, Haftbefehl gegen Carsten Sz. . Drei Monate später trifft sich der Untersuchungsgefangene Carsten Sz. mit Vertretern des Verfassungsschutzes Brandenburg – und wird wenig später als V-Mann „Piatto“ verpflichtet. Daran ändert auch die Verurteilung von Carsten Sz. zu acht Jahren Haft wegen versuchten Totschlags im Fall Steve Erenhi durch das Landgericht Frankfurt/Oder im Februar 1995 nichts. Dabei hatte Carsten Sz. während des ganzen Prozesses keinerlei Reue erkennen lassen. „Carsten Sz. hat immer da, wo es für ihn vorteilhaft erschien, gelogen, Geschichten erzählt, die Schuld auf andere geschoben,“ erinnert sich Christoph Kliesing. Und schon damals habe sich der brandenburgische Verfassungsschutz geweigert, seine Informationen über Carsten Sz. gegenüber dem Gericht und den Prozessbeteiligten offen zu legen.

V-Mann-Führer und -Fahrer

Vor dem NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss schwärmte Piattos ehemaliger V-Mann Führer von dem „Quantensprung“ im Wissen über die Neonaziszene, den der Verfassungsschutz durch die redselige Quelle „Piatto“ gemacht hätte. Entsprechend kümmern sich Meyer-Plath und ein weiterer Kollege um den in der JVA Brandenburg einsitzenden Neonazi: Schon Ende 1997 kommt Carsten Sz. in den offenen Vollzug; alle 14-Tage wird er von seinen V-Mann Führern vor der JVA abgeholt und mit dem Auto zu Neonazitreffen und – konzerten gefahren, über die er dann dem Verfassungsschutz Bericht erstattet. Nahezu unbehelligt kann Carsten Sz. auch das Heft „United Skins“ aus der Haftanstalt herausgeben. Das entwickelt sich schnell zum bundesweiten Sprachrohr für Blood & Honour und dessen Terrornetzwerk – versehen mit ausführlichen Grüßen an die „Chemnitzer Kameraden“. Insbesondere Antje und Michael P. und Jan W. werden namentlich genannt. Angesichts der engen Freundschaften – die vorzeitige Haftentlassung auf Bewährung Ende 1999 für Carsten Sz. begründet ein Gericht ausgerechnet mit dessen Anstellung im Neonaziladen von Antje und Michael P. – überrascht es wenig, dass V-Mann Piatto von den Chemnitzern erfährt, welche Pläne das dort untergetauchte Trio hat. „Wir gehen davon aus, dass bei Blood & Honour Treffen im September und Oktober 1998 mehrere Chemnitzer Unterstützer des Trios mit Piatto sowie zwei weiteren Neonazis aus Thüringen über die Finanzierung und die weitere Unterbringung der Drei gesprochen haben,“ sagt Nebenklagevertreter Sebastian Scharmer. „Daher halten wir es für absolut notwendig, Carsten Sz. in München als Zeuge zu hören.“

„Wo bleibt der BUMS?“

Doch genau das will das Innenministerium Brandenburg offensichtlich nicht. Denn dessen Vernehmung in München birgt viele Unwägbarkeiten. So war im Bundestagsuntersuchungsausschuss offen geblieben, ob und wie die Fahnder des Thüringischen Landeskriminalamtes von Verfassungsschützern über die Meldungen von „Piatto“ zum gesuchten Trio informiert wurden. Denn schon 1998 hatte der Verfassungsschutz Brandenburg auf absoluten „Quellenschutz“ für Piatto bestanden. In Bedrängnis geraten könnte auch der damalige V-Mann Führer Gordian Meyer-Plath, der seit eineinhalb Jahren den Verfassungsschutz in Sachsen als neuer Präsident reformieren soll. Und nicht zuletzt ist die Rolle von Carsten Sz. bei der Waffenbeschaffung für das Trio völlig offen. So existiert eine Meldung eines Berliner Neonazis und V-Mannes, wonach Carsten Sz. eben jenem Jan W. aus Chemnitz Waffen angeboten haben soll. Dazu passt eine SMS von Jan W. am 25. August 1998 an das von Carsten Sz. genutzte Handy mit der Frage „Wo bleibt der BUMS?“, die die Polizei abgefangen hatte. Und nicht zuletzt wurde Carsten Sz. im Sommer 2000 als Quelle „Piatto“ abgeschaltet, weil er gemeinsam mit anderen Neonazis unter dem Label „“ an der Planung von Anschlägen mit Rohrbomben und Präzisionsgewehren auf Linke beteiligt war. Bis dahin hatte er 50.000 Euro als steuerfreie Prämien kassiert – genau die Summe, der er Steve Erenhi an Schmerzensgeld schuldig blieb.

Christoph Kliesing geht inzwischen davon aus, dass sowohl ihm als Nebenklägervertreter als auch dem NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss umfangreiche Akten vorenthalten worden sind. Das Motiv: Wahrscheinlich sei Carsten Sz. – anders als bislang immer behauptet – schon seit dem 23. Februar 1992 Informant bzw. Quelle einer Sicherheitsbehörde gewesen. Und das wäre dann auch ein weiterer Grund, warum seine Vernehmung vor dem OLG München verhindert werden soll.

Ob, wann und wie Carsten Sz. nun als Zeuge vor dem OLG München aussagen wird, ist letztendlich wohl eine politische Entscheidung, die die Rot-Rote Landesregierung in Brandenburg treffen muss.

Die Autorin Heike Kleffner ist Journalistin und Expertin für neonazistische Gewalt. Sie war Referentin im NSU-Untersuchungsausschuss für die Linksfraktion im Bundestag. Erschienen in gekürzter Form in der taz vom 27.10.2014.