Bilder des Schreckens

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Zwischen Nazi-Peeping und Lichtbildmappen-Slapstick: Verstörendes aus den ersten drei Monaten des Prozesses vor dem OLG München

Von Friedrich Burschel

zuerst in einer kürzeren Version erschienen im Hinterland Magazin, Nr. 23 (pdf), vielen Dank an den Autor.

Der Kontrast zwischen den beklemmenden Bildern spiegelt noch einmal die gesamte prekäre Aufmerksamkeitsökonomie im NSU-Prozess vor dem Münchener Oberlandesgericht (OLG) wider: Exponiert stets die Hauptangeklagte Beate Zschäpe; das gerichtstägliche Ritual, wenn sie hereingeführt wird, gleicht einem kurzen Tanz oder ein paar Trippelschritten auf einem Laufsteg während die Apparate der anwesenden Pool-Photographen hektisch klicken; täglich die kollektive Bewertung des Outfits der rätselhaften, ungerührt heiteren und offenbar mit ihrer Rolle kokettierenden Frau, die für viele geradezu ein „Faszinosum“ zu sein scheint; „Telekom-Magenta“, flüsterte der Sitznachbar auf der Journalist_innen-Tribüne kürzlich, als die Angeklagte in knalligem Hemd wieder mit schwungvoller Drehung der klickenden „Öffentlichkeit“ den kalten Rücken zeigt: auch die langen Haare Zschäpes werden beim Ausbildungsfriseur in der Stadelheimer Haftanstalt aufgehübscht – an jenem Tag tatsächlich ebenfalls getönt in jenem Glanz der Markenfarbe.

Mural / Wandbild in Berlin-Kreuzberg

Selten in der Presse zu sehen im Gegensatz zu Beate Zschäpe: Enver Şimşek auf einem Mural / Wandbild in Berlin-Kreuzberg.

Obwohl man dieses groteske Prozedere nach bald drei Monaten gründlich satt hat, bleibt es einer umfassenden Prozessbegleitung und -beobachtung nicht erspart, auch diesen Aspekt wahrzunehmen und Entwicklungen, Wendungen im Verhalten aller fünf Angeklagten aufzuzeichnen. Auch wenn Kritiker_innen unterdessen schon von „Nazi-Wochenschau“ sprechen oder, zumal nach der Veröffentlichung eines Liebesbriefes aus ihrer Feder, von einer „Zschäpe-Peepshow“ und „Hofberichterstattung für die rechte Szene“. Im Zentrum stehen, das liegt in der Natur des Strafverfahrens,die Angeklagten und das sind nun mal Nazis. Und ihr Verhalten wird auch für den Ausgang des Verfahrens, den Schuldspruch und die konkrete Strafzumessung mitentscheidend sein: wer hätte zum Beispiel erwartet, dass der als Kronzeuge aussagende, schwule Nazi-Szenen-Aussteiger Carsten S. unter Tränen sein Mitwissen an einem weiteren Sprengstoffanschlag der NSU bereits im Jahr 1999 in Nürnberg preisgeben würde. Damals explodierte eine präparierte Taschenlampe in den Händen einer Reinigungskraft in der Toilette der von einem türkisch-stämmigen Wirt betriebenen Pilsbar „Sonnenschein“ und verletzte diese schwer. Trotz Überprüfung möglicher weiterer Verbrechen der NSU-Verdächtigen nach deren Auffliegen 2011, war dieser frühe Anschlag, den die Nürnberger Polizei bezeichnenderweise damals ebenfalls im „Drogenmilieu“ verortete, den Staatsanwaltschaften wieder nicht aufgefallen. Er passte wieder nicht ins Bild. Nun wird auch  in diesem Verdachtsfall gegen Zschäpe und den NSU ermittelt.

Beklemmende Leichenschau

Und dann die anderen Bilder: Ende Juni wurden vor Gericht verschiedene Versionen des NSU-Bekennervideos gezeigt, welche Beate Zschäpe nach dem Ende der Zwickauer NSU-Zelle noch verschickt hatte, ehe sie sich selber der Polizei stellte. Die infamen Trickfilmmontagen mit der Comic-Figur Paulchen Panther, die als eine Art Conferencier mit höhnischen Texten und perfidem Spaß durch die Mordserie führt, wobei Tatortfotos der zehn Mordopfer eines völkischen Rassismus höhnisch verspottet und einer Schaulust bloßstellt werden, ist ein Dokument beklemmenden Grauens.

Die toten Körper werden im Gerichtssaal einer morbiden Schaulust extragroß auf die Wandflächen an beiden Seiten des Saales A 101 projiziert. Die von Kugeln durchsiebten Körper von Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru und Habil Kılıç wurden dieser entsetzlichen Leichenschau bereits unterzogen. Zwei der angeschossenen Männer lebten noch als die Rettungskräfte eintrafen, die an den Sterbenden Wiederbelebungs- und Rettungsmaßnahmen versuchten und das sprichwörtliche Blutbad zu einem infernalischen Bild vom gewaltsamen Tod verschmierten, das dann von der Spurensicherung festgehalten wurde. Und jetzt blicken fast 200 Augenpaare auf die geschändeten Körper der Hingerichteten; in die durchbohrten und vom Blut aufgeschwemmten Gesichter, um die Einschußwinkel der Projektile in Augenschein zu nehmen; ein letztes Mal werden sie dem schamlosen Blick dessen präsentiert, was in der Rechtsordnung Öffentlichkeit heißt. Nach allem, was ihnen post mortem und ihren Familien schon widerfahren und zugemutet worden ist. Unvorstellbar, was diese Bilder bei den anwesenden Angehörigen der von Nazis umgebrachten Männer Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und der einen Frau, der Polizistin Michèle Kiesewetter, auslösen mögen. Viele von ihnen sind gar nicht oder nicht mehr regelmäßig im Gerichtssaal anwesend, vermutlich um sich diesem Grauen, zumal in Anwesenheit der unbeeindruckt scheinenden, wahrscheinlichen Mittäterin, nicht aussetzen zu müssen. Nach allem, was sie und ihre Familien schon durchlitten haben.

Renitentes „Opfer“

Ein Bild von Unbeholfenheit gab dann auch der Vorsitzende Richter Manfred Götzl ab, als die erste Opferangehörige, die Witwe Pinar Kılıç, in den Zeugenstand tritt. Diese Szenen machten deutlich, wie wenig der Umgang mit diesem immensen Leid im Verfahren vorgesehen und gewollt ist. Frau Kılıç, die 1977 nach Deutschland eingewandert ist, ehe der Ehemann ihr einige Jahre später folgen konnte, spricht nur gebrochen Deutsch. Sie ist von dem Geschehen gezeichnet, präsentiert sich aber nicht als das „Opfer“, als das sie Gehör finden soll. Sie ist renitent als der Richter sie auffordert, zu schildern, wie es nach der Tat für sie und ihre Tochter gewesen sei: „Wie kann das sein? Können sie das nicht überlegen? Wie über uns geredet wird? Wie schlecht geredet wird? Wie man uns behandelt hat…“ Und erstmals konfrontiert sie Beate Zschäpe selber mit den ihr vorgeworfenen Taten, indem sie, auf sie deutend, fragt: „Wie soll ich das hier der Frau erklären? Jahrelang bin ich verdächtigt worden; jahrelang bin ich herumgeschoben worden? Wir mussten das ganze Blutbad selber sauber machen; wie kommt das ganze Blut in die ganze Wohnung?“ Götzl bohrt ungewohnt unsensibel nach, vielleicht auch genervt von den Verständigungsschwierigkeiten und herrscht die  Zeugin an: „Wenn ich sie hier höflich etwas frage, erwarte ich auch eine höfliche Antwort!“ Frau Kılıç, deren Leben durch den Mord an ihrem Mann  zerstört wurde, lässt sich davon nicht beeindrucken und weigert sich hartnäckig, etwas zu den psychischen Folgeschäden des Mordes an ihrem Mann zu offenbaren: „Fragen sie meinen Anwalt und meinen Arzt“, insistiert sie, die ihr Leid nicht vor der ungerührten potentiellen Täterin ausbreiten will. Wohl aber, wie sie vom Freundeskreis geschnitten wurde, wie die soziale Umgebung sich zurückzog von ihr und ihrer Tochter, weil ihr erschossener Mann ja über Jahre der Verstricktheit in kriminelle Machenschaften, in Drogengeschäfte verdächtigt wurde. Man kann sich das vorstellen, wie hinter vorgehaltener Hand die stigmatisierende Wirkung der polizeilichen nach dem Motto „Da wird schon was dran sein, wenn die Polizei da so hinterher ist…“ sich sozial entfaltete.

Jägersprache

Einer dieser Mordermittler, der nachmalige Chef der Mordkommission München und prominente Kriminaler, Josef Wilfling, hatte kurz vor Frau Kılıç als Zeuge ausgesagt. Der Mann ist eine Legende, er hat an der Aufklärung der Morde an Walter Sedlmayr und Rudolph Moshammer mitgewirkt und über Mord und Mörder Bücher geschrieben. Mit dem Sound seiner Stentorstimme weht einen das Bayern der 1970er und -80er Jahre unter Franz Josef Strauss an: dem Mann hier sind Selbstzweifel zumal im Kontext mit den Münchener NSU-Morden offenbar fremd. Kritiker_innen herrscht er schon einmal an: „Man darf doch nicht den Fehler machen, mit dem Wissen von heute auf damals zu schließen!“ Es habe nur Spuren und Anzeichen für eine Serie im Bereich der Organisierten Kriminalität gegeben, die kurdische PKK, die Grauen Wölfe vielleicht oder die türkische Drogenmafia: „Jetzt soll man bitte nicht so tun, als gäbe es keine türkische Drogenmafia!“ trumpft Wilfling auf. Oder hatte Kılıç Schulden, war er da in etwas hineingeraten? habe man sich gefragt, und welchen Zusammenhang könnte es zu den Verbrechen in Nürnberg an Şimşek und Özüdoğru geben, die mit derselben Waffe verübt worden waren? Es kommt an diesem Tag zu lautstarken Wortgefechten, wo es immer und immer wieder um die Frage geht, wieso niemand, wirklich niemand, auf Nazis als Täter gekommen war. Statt den beiden Radlern hinterherzufahnden, folgten die Fahnder rassistischen Beschreibungen eines „dunkelhäutigen“ Täters, der vor dem Laden in einen „schwarzen Mercedes“ gesprungen und mit quietschen Reifen davongerast sei. Wilfling ließ seinerzeit nach einem „Mulatten“ suchen. Später stellte sich heraus, dass diese Geschichte frei erfunden war.
und konnten nach der „professionellen Hinrichtung“ und einem „Fangschuß“ auf Kılıç – so die Worte Wilflings, zweiteres der Jägersprache entlehnt – in aller Ruhe den Tatort über die Hinterhöfe des Ladens in der Badschachenerstraße in München-Ramersdorf verlassen und sich aus dem Staub machen. Berühmt geworden ist Wilfling mit seinem Satz, den er in diesem Zusammenhang vor dem NSU-Ausschuss des Bayerischen Landtags prägte: „Haben Sie schon mal einen Nazi auf dem Fahrrad gesehen?“ Niemand wollte und will behördlicherseits offenbar wissen, wie ausgerechnet Kılıç ins Visier der Nazi-Killer geraten konnte und welche Unterstützung sie dabei womöglich in der starken und gewalttätigen Münchener Szene erhalten haben. Und welche Nürnberger Kreise halfen dem NSU seine Mordanschläge dort vorzubereiten und auszuführen? Als es für Wilfling eng und brenzlig wird in der Befragung durch die Vertreter_innen der Nebenklage grätscht die Bundesanwaltschaft (BAW) für ihn ins Geschehen und mahnt – zum wiederholten Mal – an, sich auf die vorgeworfenen Taten und nicht auf polizeiliche Versäumnisse und Ermittlungsfehler zu konzentrieren, das tue nichts zur Sache.

BAW vs. Nebenklage

Die Auseinandersetzung zwischen der BAW und etlichen Nebenklagevertreter_innen und auch den Verteidiger_innen der Angeklagten, ist der mäßig komische running gag im NSU-Verfahren. Vor allem die Hamburger Strafverteidiger_innen Thomas Bliwier, Doris Dierbach und Alexander Kienzle treten immer wieder mit scharfsinnigen Erklärungen und Beweisanträgen in Erscheinung, die es sich nicht nehmen lassen, tief in die Versäumnisse und Fehler sowie die Verstrickung staatlicher  Stellen in den NSU-Komplex hineinzuleuchten. Sie vertreten die Familie des am 6. April 2006 in seinem Internet-Café erschossenen Halit Yozgat. Gerade dieser Fall enthält ein paar ungeheuerliche Besonderheiten: so befand sich zur Tatzeit nachweislich ein -Führer des hessischen Verfassungsschutzes, , am Tatort. Temme, der später als Verdächtiger befragt wurde, trug in seinem Umfeld den Namen „Klein-Adolf“ wegen seiner politischen Ansichten. Vor weiterer Verfolgung schützte ihn die Intervention des damaligen hessischen Innenministers und heutigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU), der keine Aussagegenehmigung erteilte, weshalb das Verfahren gegen Temme 2007 eingestellt wurde. Die Hamburger Anwält_innen wollen nun die Verstrickungen Temmes in ein Nazi-Netzwerk offenlegen, in welchem sich neben Mundlos, Böhnhardt und möglicherweise Zschäpe, auch deren Knastbrieffreund Robin Schmiemann sowie weitere Neonazis aus befunden haben könnten, aber auch zwei weitere V-Leute des Verfassungsschutzes. Sie alle könnten sich, das wollen Bliwier, Dierbach und Kienzle nachweisen, bei einem Konzert der Nazi-Band „Oidoxie“ in getroffen haben. Und zwar am 18. März 2006, nur zwei Woche vor der Ermordung von Mehmet Kubaşık in Dortmund am 4. April 2006 und zwei Tage später der von Yozgat.

Die drei Hamburger Anwält_innen versuchten schon von Anfang an, die Rolle aller möglichen Behörden, ihrer V-Leute und beamteter Beobachter_innen im Prozess in Frage zu stellen: Das Bundesamt für Verfassungsschutz und das Bundeskriminalamt hatten gegenüber dem Gericht nämlich schriftlich angekündigt, sie wollten Prozessbeobachter in den Gerichtssaal entsenden, um – so das BKA im Schreiben vom 15. Februar 2013 – »in Abstimmung mit der Bundesanwaltschaft auch neuen und bisher noch nicht bekannten Ermittlungsansätzen, insbesondere wenn die Erforschung der Wahrheit keinen Aufschub gewährt, zeitnah nachgehen zu können« und darüber »politische Entscheidungsträger« sowie untergeordnete Dienststellen zu unterrichten.
Die Hamburger Nebenklagevertreter_innen formulierten hier den dringenden Verdacht, dass über diese Art »dienstlicher Prozessbeobachtung« relevante Informationen aus dem Verfahren dafür benutzt werden könnten, potenzielle Zeug_innen aus den Behörden entsprechend den offiziellen Sprachregelungen zu präparieren. Mit Bezug auf den V-Mann des LKA Berlin, Thomas Starke, der dem NSU Sprengstoff geliefert haben soll, hieß es in ihrem Antrag vom 4.6.2013: »Dieselbe Staatsschutzabteilung soll ankündigungsgemäß Empfänger der Erkenntnisse der Prozessbeobachtung durch das BKA sein. Es liegt auf der Hand, dass damit eine Informationsweitergabe an (potenzielle) Zeugen nicht nur möglich erscheint, sondern ausdrücklich mitgeteilt wurde.« Dass diese Anwürfe und dieses offene Misstrauen gegen staatlich Stellen von der BAW als »haltlos« und »überzogen« zurückgewiesen wurden und sich die Richter_innen dem anzuschließen hatten, war eine Frage von „übergeordnetem Interesse“, denn nichts Geringeres als die Integrität und Glaubwürdigkeit der staatlichen Gewalt steht hier in Frage.

Tatwaffen-Memory

Um Bilder ging es auch am 19. Prozesstag Anfang Juli 2013, allerdings eher um ein Art groteskes Tatwaffen-Memory, wo einmal mehr Professionalität und Integrität der Ermittlungsarbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft in Frage standen. Kurz nach ihren Festnahmen Ende 2011 bzw. Anfang 2012 legten die Vernehmungsbeamten den beiden heute Angeklagten Holger G. und Carsten S. zum Teil Lichtbilder oder echte Waffen vor, um herauszubekommen, welche Waffen von wem wann transportiert wurden und wie sie in die Hände der mutmaßlichen NSU-Mörder gerieten. Was sich im Laufe des Verhandlungstages vorne am Richter_innentisch abspielte, glich indessen eher einer Slapstick-Nummer voller turbulenter Einlagen und tollpatschiger Szenen. Zunächst konnte der Beschuldigte S. ausschließen, dass die ihm am heutigen Tag vorliegenden Bilder dieselben seien, die ihm seinerzeit gezeigt worden waren. „Das waren so sehr schlechte Schwarzweiß-Kopien“, sagte er, die gestochen scharfen Farbkopien von Pistolen vor sich betrachtend. Er habe dann bei einigen Waffen, die ihm ähnlich der Waffe – nämlich der späteren Tatwaffe „Ceska 83“ – erschienen, die er 1999 oder 2000 an den NSU nach geliefert hatte, gedeutet und gemeint, das könne „so grob die Richtung sein“… Nicht wirklich klären ließ sich auch, ob dem Beschuldigten bei seinen verschiedenen Vernehmungen eine Wahllichtbildmappe mit völlig verschiedenen Waffen vorgelegt worden war oder ob es sich ausschließlich um Waffen, wenn auch nicht um Originalwaffen, aus dem NSU-Komplex gehandelt hat, was dann ein durchaus fragwürdiger Vorgang gewesen sein könnte. S. meinte, er habe sich an einem Schalldämpfergewinde bei seinen Ungefähr-Identifikationen auf schlechten Kopien und an echten Waffen gehalten. Ihm sei im Übrigen der Begriff „Ceska“, also der Name jener Tatwaffe, mit der 9 Morde begangen worden sind, nicht geläufig gewesen: Nebenklagevertreter Alexander Hoffmann verlieh seiner Verwunderung über diese Aussage Ausdruck, zumal doch auf S.s privatem Rechner eine Blaupause einer „Ceska“ gefunden worden sei…

Ohne Lesebrille im Zeugenstand

Ein ziemlich trotteliger Kriminalbeamter konnte als Zeuge dann noch toppen, was der Vormittag mit S. geboten hatte. Es ging nun um den Angeklagten Holger G., dem ebenfalls mehrfach Waffen vorgelegt worden waren. Da G. bislang keine Aussagen macht vor Gericht (außer zur Person und einer Erklärung zu Prozessbeginn), musste nun dieser Polizist aussagen, wie das mit G. und den Waffen gelaufen ist: ein Fiasko. Eine Plastikwanne mit den Waffen wurde hereingetragen, welche G. nach seiner Verhaftung zur Identifizierung vorgelegt worden waren, darunter merkwürdigerweise auch Langwaffen wie ein Maschinengewehr und eine Maschinenpoistole. Der Polizeizeuge konnte jedoch selbst nicht mehr recht rekonstruieren, welche Waffen G. wann vorgelegt worden waren. Zudem hatte er seine Lesebrille vergessen – man stelle sich vor, einmal fährt dieser Mensch zur Vernehmung in einem spektakulären Prozess und vergisst seine Sehhilfe – und konnte nun also die kleinen Zettelchen an den Waffen nicht entziffern. Das stellte sich dann jedoch ohnehin als obsolet heraus, denn er wurde klar, dass dem Beschuldigten seinerzeit Vergleichswaffen aus der „Vergleichswaffensammlung des BKA“ vorgelegt worden waren, zumal die Originalwaffen bei der wohl von Beate Zschäpe herbeigeführten Explosion des letzten NSU-Unterschlupfs in starke Brandspuren aufwiesen. Die Waffen jedoch, die G. vorgelegt worden waren, waren lediglich „baugleiche“ Waffen und hätten nicht mal farblich oder von der „Brünierung“ (matte oder glänzende Schutzbeschichtung) her mit den Originalwaffen übereingestimmt haben müssen, räumte der polizeiliche Anti-Zeuge ein. Auch wisse er nicht, ob die heute im Gerichtssaal vorliegenden Waffen mit denen identisch seien, die G. vorgelegt worden waren. Oder ob es sich auch hier wieder nur um baugleiche Entsprechungen zu den damals vorgelegten handelte: also die ersatzweise Vorlage von Ersatzwaffen zur Identifizierung von versehrten Originalwaffen, mit denen echten Menschen ins Gesicht geschossen wurde. Auch der Versuch der BAW, die verwirrenden Listen, Nummern, Bilder, Kopien und Vorlagen sowie die Art und Weise der Vorlagen für nachvollziehbar zu erklären, vermochte es nicht, den schalen Nachgeschmack dieser Kriminalkomödie abzuschwächen. Für die Überführung der Angeklagten könnte dieses Waffenvorlagedesaster durchaus folgenschwer sein, wenn nicht eindeutig nachgewiesen werden kann, welche Waffe sie denn nun tatsächlich überbracht haben.

Lückenlose Aufklärung

Angesichts einer unüberschaubare Fülle solcher fragwürdigen Episoden aus dem NSU-Stadl bleibt also zu hoffen, dass die fast 50-köpfige Nebenklage-Vertretung weiter bohrende Fragen nach Hintergründen, Zusammenhängen und staatlichem Agieren darin stellt. Mit Unterstützung einer kritischen und unabhängigen Presse, die nicht noch weiter dem „Nazi-Peeping“ verfällt, und nicht-kommerzieller Prozessbeobachtung könnte diesen elektrisierenden Verdachten nachgegangen und und dafür gesorgt werden, dass den zum Teil bereits verblüffend weitgehenden Erkenntnissen der Untersuchungsausschüsse weitere erhellende Ergebnisse und Enthüllungen aus dem Prozess hinzugefügt werden können. Denn dass es sich nicht um eine winzige Drei-Personen-Zelle, gemäß einer „Einzeltäterthese à trois“, gehandelt haben kann, der eine Handvoll Helfer_innen zur Seite gestanden hat, dürfte inzwischen selbst Skeptikern klar sein. Welche Nazi-Netzwerke hier im Hintergrund agierten und wieviel Staat darin etwa über so fragwürdige V-Leute wie und etwa zwei Dutzend anderer, von einem halben Dutzend polizeilicher und geheimdienstlicher Stellen Angeworbener darin verwoben war, gehört zur „lückenlosen Aufklärung“ (Angela Merkel) zweifellos dazu.

Friedrich Burschel ist freier Journalist und als Politischer Bildner Mitarbeiter der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin. Für Radio Lotte Weimar beobachtet er, der im Akkreditierungszirkus vor Prozessbeginn zweimal erfolgreich war, den NSU-Prozess vor dem OLG München. Sämtliche Beiträge sind auf dem Blog http://antifra.blog.rosalux.de/ abrufbar.