Die Legende vom „Trio“: Der NSU und sein Netzwerk

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Von Michael Weiss und Felix Hansen, erschienen in: Lotta – Antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen, #56, Sommer 2014

Nach Ansicht der Generalbundesanwaltschaft (GBA) und der Ermittlungsbehörden war der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) eine Vereinigung von drei Personen, die sich einiger weniger Helferinnen und Helfershelfer bediente. Dagegen geistern Zahlen von bis zu 500 Personen durch die Medien, die auf Listen von Ermittlungsbehörden stünden, weil sie in irgendeiner Form im NSU-Kontext auftauchten. Klar ist: Ohne ein breites Unterstützungsnetzwerk wäre der NSU nicht möglich gewesen. Doch dieses zu skizzieren ist schwer.

Die Ermittlungsbehörden, allen voran die GBA als Anklägerin im Münchner Prozess, sprechen unisono von einem NSU-Trio. Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sollen der NSU gewesen sein, alle anderen Personen allenfalls Unterstützungshandlungen für sie erbracht haben. Gegen wie viele Personen, die nicht in München vor Gericht stehen, noch ermittelt wird, ist unklar, die Bundesanwaltschaft gibt über laufende Ermittlungen keine Auskünfte. Teilweise wurden die Verfahren bereits eingestellt oder stehen kurz davor, wie z.B. bei André Kapke. Der Thüringer Neonazi war in der Anfangszeit des Untertauchens ein enger Vertrauter und Unterstützer.

Mit einzelnen Personen aus dem Unterstützungskreis unterhielten Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt eine derart enge soziale, politische und strukturelle Verbindung, die es wahrscheinlich macht, dass der NSU aus mehr als drei Personen bestand. Wie eng der Kontakt in die Legalität war, zeigt sich am Beispiel der Familie Eminger. , Ehefrau des Angeklagten besuchte regelmäßig mit ihren Kindern die Wohnung der drei in der Zwickauer Frühlingsstraße. Als Zschäpe nach dem missglückten Banküberfall in Eisenach untertauchen musste, konnte sie auf Hilfe zählen – sie hatte Kontakt mit André Eminger, er soll sie zum Bahnhof gefahren haben, als sie sich stellte, trug sie eine Jacke von Susann Eminger. An der Person André Eminger zeigt sich die Kontinuität der UnterstützerInnen: Bereits im Jahre 1999 hatte er eine Wohnung für die drei Untergetauchten in Chemnitz angemietet. Auch eine Anmietung eines Wohnmobils zum Zeitpunkt der Platzierung der Bombe in der Kölner Probsteigasse lief auf seinen Namen.

Besonders aus der Anfangszeit des Untertauchens sind zahlreiche UnterstützerInnen bekannt, die zeigen, wie der NSU in militante Neonazistrukturen eingebettet war. Bekannt ist, wie zunächst Neonazis aus dem lokalen Umfeld die drei Untergetauchten unterstützten: Die beiden Angeklagten Ralf Wohlleben und Carsten Schultze besorgten die Ceska-Pistole, andere Neonazis sammelten Geld, wieder andere wurden wegen Waffen angefragt. Vieles geschah offensichtlich unter den Augen des Verfassungsschutzes. , damals V-Mann des Brandenburgischen Geheimdienstes, wurde über ein Handy, das er von eben jenem Dienst bekommen hatte, nach einer Schusswaffe gefragt.

Vereinigung und Netzwerk

Das Beharren der Behörden, dass der NSU aus nur drei Personen bestanden habe, ist allzu offensichtlich dem Ansinnen geschuldet, keine weiteren Ermittlungskomplexe zu eröffnen und schon bestehende schnell abzuwickeln. Dennoch verdichten sich Indizien und Hinweise bei einzelnen Personen derart, dass es naheliegend erscheint, dass diese dem NSU angehörten und nicht nur dem Umfeld oder Netzwerk.
Der NSU war eine Organisation, die sich eines Netzwerkes bediente. Die Organisation ist der feste Kreis derer, die sich selbst als eine Gruppe verstanden und in diesem Bewusstsein kleinere oder größere Aufgaben für ein gemeinsames Ziel übernahmen. Bei einem Netzwerk ist diese Eingrenzung nicht möglich. Es ist nicht statisch und zeichnet sich dadurch aus, dass es durch Knotenpunkte – Orte oder Personen, über die Informationen ausgetauscht und Aktivitäten abgestimmt werden – verbunden ist. Typisch daran ist, dass viele Personen, die an einem Knotenpunkt kooperieren, oft wenig Wissen darüber und Einfluss darauf haben, wie die von ihnen eingespeisten Informationen und Aktivitäten „weiterverarbeitet“ werden. Das meint: Wenn sich eine Organisation wie der NSU in einem Netzwerk einrichtet, so könnten Personen „zwei Ecken weiter“ gar kein Wissen über die Existenz und das Wirken der Organisation haben. So lässt sich das „Netzwerk des NSU“ unterschiedlich interpretieren: Zum Einen als Geflecht von Personen unmittelbar um den NSU, bei denen man davon ausgehen muss, dass sie zumindest ein partielles Wissen über die Existenz und das Tun des NSU hatten. Wobei sich hier die Frage stellt, inwiefern Organisation und Netzwerk verschwimmen. Zum anderen als der Personenkreis, der durch sein Handeln an (mitunter weiter entfernten) Knotenpunkten die Struktur des NSU gefördert hat – und ohne dessen Hilfe der NSU nicht hätte existieren können.

Um bei der Skizze des NSU-Umfeldes und -Netzwerkes nicht in die allgemeine Szenebetrachtung „X kennt Y“ abzudriften, sind die Fragen wesentlich, wo substanzielle Schnittstellen des NSU waren und wer dort mit welchem Wissen agierte. Bei der Beschreibung fast aller Stränge des NSU-Komplexes stützt man sich darauf, was plausibel, logisch, nachvollziehbar oder naheliegend erscheint und was nicht. Befriedigend ist dieser Zustand nicht – doch es geht derzeit kaum anders.

Die drei Untergetauchten und ihr unmittelbares, in der Legalität befindliches Umfeld waren bundesweit bestens vernetzt. Man muss nicht lange suchen, um Verbindungen in die Städte zu finden, wo die Morde und Anschläge verübt wurden. Für die Taten waren gute Ortskenntnisse notwendig. Bei der sogenannten „Taschenlampenbombe“ beispielsweise, die 1999 in einer Nürnberger Gaststätte deponiert wurde, hatte von außen nichts darauf hingedeutet, dass diese Gaststätte erst wenige Monate vorher von einem Pächter migrantischer Herkunft übernommen worden war.

Spuren nach Dortmund

Der Mord an dem Dortmunder Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık am 4. April 2006 war der achte in der Reihe der NSU-Morde. Im Brandschutt der Zwickauer Wohnung von Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt fand die Polizei u.a. einen Kartenausdruck von Dortmund, der im Jahre 2005 erstellt worden war und auf dem ein türkisches Bildungszentrum markiert war. Exakt auf dieses Zentrum war in der Nacht vom 30. auf den 31. März 2006, vier Tage vor dem Mord an Mehmet Kubaşık, ein Brandanschlag verübt worden, der bis heute nicht aufgeklärt ist.

Als Kern der militanten Szene in Dortmund galt zu dieser Zeit die Streetfighting Crew, entstanden aus dem Fankreis der 1995 gegründeten Dortmunder Neonaziband Oidoxie, die sich seit jeher mit dem Label (C18) schmückt. Entstanden Mitte der 1990er Jahre als bewaffneter Arm von wurde C18 zum führenden internationalen Label für neonazistischen Terror. Noch 2011 wurden die „Oidoxie-Jungs“ in der Szene als quasi autorisierte Vertreter des deutschen C18 wahrgenommen. Die Mitglieder der Oidoxie Streetfighting Crew sind ein eng verbundener Freundeskreis. Sie stellen den „Sicherheitsdienst“ auf Oidoxie-Konzerten und sind als Repräsentanten eines deutschen C18 gemeinsam in Europa unterwegs. In den Jahren 2006 und 2007 reiste Oidoxie mindestens dreimal nach Kassel, um im Rahmen von Geburtstagspartys „ihrer“ Kasseler Leute aufzuspielen. Ein Konzert fand statt, zwei verhinderte die Polizei. Der Oidoxie Streetfighting Crew gehörten im Jahr 2006 auch mehrere Kasseler Neonazis an – darunter Michel F., der nach Auffliegen des NSU als einer der ersten Neonazis der Kasseler Szene von der Polizei auf Verbindungen zum NSU überprüft wurde.

Das Beispiel

Seit einem Jahr etwa wird Thomas Starke als damaliges Verbindungsglied nach Dortmund gehandelt. Der heute 46-Jährige war eine zentrale Persönlichkeit der Chemnitzer Neonaziszene der 1990er Jahre. Er bewegte sich im Kreis der 1992 verbotenen Nationalistischen Front, war ab 1995 eine Führungsperson der Skinheads Chemnitz 88 und verband dies ab 1996 mit seinen Aktivitäten für Blood & Honour. Uwe Mundlos kannte er ab spätestens 1995, als Starke in Haft sitzend von ihm betreut wurde, mit Zschäpe war er zeitweise liiert. 1997 besorgte Starke von einem sächsischen Blood & Honour-Aktivisten Sprengstoff und gab diesen an Mundlos weiter. Als der Sprengstoff bei der Garagen-Durchsuchung 1998 gefunden wurde, tauchten Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt unter, Starke war ihre erste Anlaufstelle. Er besorgte dem Trio Unterkünfte in Chemnitz. 1999 fand Starke Arbeit im Märkischen Kreis (westliches Sauerland) und pendelte zwischen Chemnitz und seinem neuen Wohnort Neuenrade, 50 Kilometer von Dortmund entfernt.

Über Starkes Treiben in Nordrhein-Westfalen gelangten einzelne Informationen in die Medien. In einer SMS aus dem Jahr 1998 beschwerte er sich beim Chemnitzer Gunter F., dass es „hier“ (in Neuenrade) zu viele Türken gebe, worauf F., zu dieser Zeit ebenfalls ein Unterstützer der Untergetauchten, antwortete: „Da weiß man ja, wo nächstes Mal aufgeräumt werden muss.“ Auch fand sich in Starkes Adressbuch, das im Jahr 2000 beschlagnahmt wurde, eine Kontaktnummer von Oidoxie. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse wurde Thomas Starke zum mutmaßlichen Bindeglied zwischen dem Chemnitzer und Dortmunder Blood & Honour-Milieu.

Eine genauere Betrachtung stützt diese Annahme nicht. Zum einen geschah dies zwischen 1998 und 2000, also einige Jahre vor dem Mord an Mehmet Kubaşık. Weiterhin finden sich keine Spuren, dass Starke ab 2000 – als sich Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos in Zwickau niederließen – noch Kontakt zu den dreien hielt. Tatsächlich befanden sich im Jahr 2000 in Starkes Adressbuch Dutzende Einträge von Musikbands – kaum verwunderlich, da er zu dieser Zeit Konzerte für Blood & Honour Sachsen organisierte. Während bei den meisten Einträgen Namen und Vornamen der Bandmitglieder notiert waren, findet sich hinter dem Bandnamen Oidoxie lediglich eine Handynummer. In dem persönlichen Adressverzeichnis von Starke ist unter mehr als 300 bundesweiten Kontakten keine einzige Person der Band notiert. Dies lässt eher darauf schließen, dass er im Jahr 2000 keinen engeren Kontakt zur Band hatte.

Sein vorrangiger Kontaktmann in die weitere Region um Dortmund war – das weiß man erst seit kurzem – der Neonazi Jörg E.. Jörg E. war Anfang der 1990er von Neuenrade nach Chemnitz gezogen und gehörte dort der „Liste 88“ der Nationalistischen Front (NF) an. In der „Liste 88“ sammelte die NF Aktivisten, die für den Aufbau einer paramilitärischen Struktur vorgesehen waren. Drei Chemnitzer Personen waren 1992 in dieser „Liste 88“ erfasst – neben Jörg E. auch Patrick S., der 1999 mehrere Monate im gleichen Haus in der Chemnitzer Wolgograder-Allee 76 lebte wie Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt, die dort in einer Wohnung wohnten, die André Eminger für sie angemietet hatte. Dieser Zusammenhang ist den Ermittler_innen bis heute offensichtlich nicht aufgefallen.

Um 2001 zog Thomas Starke zurück nach Chemnitz. Im Jahr 2012 flog er als V-Mann auf, als „VP 562“ wurde er von November 2000 bis Januar 2011 vom Berliner LKA geführt. Thomas Starke war zweifellos jemand, der ein soziales Verhältnis zu den Untergetauchten pflegte und individuelle Unterstützungshandlungen beging. Und doch lässt dies nicht den Rückschluss zu, dass er in die Mordpläne und Morde involviert war.

Das Beispiel

Bei Sylvia Sch. lässt sich nicht einmal vermuten, dass sie überhaupt von drei untergetauchten Neonazis in Chemnitz wusste. Dennoch stand die 34-jährige Friseurin aus Hannover im Winter im Blickpunkt des Interesses, als sie als Zeugin im Münchner NSU-Prozess aussagen musste.
Silvia Sch. bezeichnet sich als „politisch neutral“, und tatsächlich ist von ihr nicht bekannt, dass sie jemals an einem neonazistischen Treffen teilnahm. In einer Hannoveraner Diskothek hatte sie 2005 Kontakt zu einer Neonaziclique bekommen und wurde Lebensgefährtin des heute 34-jährigen Alexander Sch., der schon um 2000 zum dortigen Blood & Honour-Milieu zählte und sich in den vergangenen Jahren in der Kameradschaftsszene bewegte. Alexander Sch. wiederum war und ist ein Vertrauter von Holger Gerlach, der 1999 aus Jena in den Raum Hannover zog und heute in München auf der Anklagebank sitzt. Holger Gerlach soll den NSU über Jahre hinweg unterstützt haben, mit seinen Papieren wurden mehrere Wohnmobile für Morde angemietet, auch jenes, mit dem Böhnhardt und Mundlos am 4. November 2011 zum Bankraub nach Eisenach fuhren – das Ende ist bekannt. Eben jener Holger Gerlach habe ihr, so berichtete Silvia Sch., vor Jahren 300 Euro für persönliche Dokumente geboten. Sie habe nicht weiter darüber nachgedacht, ihm ihre Krankenversicherungskarte ausgehändigt und das Geld genommen. Dass diese an Beate Zschäpe weitergereicht wurde, will sie nicht gewusst haben. Silvia Sch. war das letzte Glied einer Kette, doch sie hat einen kleinen, aber wesentlichen Beitrag geleistet, dass Zschäpe ihr Alias-Leben in dieser Form aufbauen konnte.

Naheliegend ist ebenso, dass Holger Gerlach erheblich mehr Wissen über das Treiben des „Trios“ hatte, als er heute eingesteht. Der Knotenpunkt zwischen dem NSU-Kreis (Holger Gerlach) und dem Szeneumfeld (Silvia Sch.) war Alexander Sch.. Doch darüber, was er wusste, lässt sich auch heute nur vage spekulieren.

Der „Wert“ von Informationen

Die Gefahr, dass vermeintlich neue Erkenntnisse zu „brisanten Informationen“ und falsch oder überinterpretiert werden und sich bei genauerem Hinsehen relativieren, zeigt bei der Suche nach NSU-Verbindungen nach Dortmund nicht nur das Beispiel Thomas Starke. So reisten – wie Medien berichteten – führende Personen des Oidoxie-Kreises im Jahr 2002 zur Jahreshauptversammlung der Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene () nach Hessen. Die 2011 verbotene HNG war die mitgliederstärkste Organisation der deutschen Neonaziszene. Unter den über 300 Teilnehmenden dieses Treffens war auch , die das untergetauchte Trio in der Anfangszeit in Chemnitz unterstützt hatte. Doch legt alleine das Zusammentreffen von Probst und Oidoxie-Leuten 2002 in Hessen nahe, dass es eine Interaktion zwischen Neonazis aus Dortmund und Chemnitz an diesem Tag und in der Folgezeit gegeben hat?

Die Recherche nach dem „Netzwerk des NSU“ ist ein Puzzle, bei dem bislang kaum Randteile gefunden werden konnten. Ständig ergeben sich neue Ansätze, von denen viele wieder versanden. Vor diesem Problem stehen professionelle Journalist_innen ebenso wie Nebenklage-Anwält_innen und Antifa-Recherchen. Es ist wichtig, alle verfügbaren Informationen einzufangen, auszutauschen und zu werten. Ebenso wichtig ist es jedoch, sorgsam mit den Informationen – bzw. den Puzzleteilen – umzugehen und nicht vorschnell von Tatsachen zu sprechen.
Nach dem Willen der Ermittlungsbehörden und der GBA sollen die Akten nach einer Verurteilung von Zschäpe für immer geschlossen werden. Der NSU soll baldmöglichst historisiert werden. Gerade eine kritische Berichterstattung sollte den Begriff des „Trios“ nicht unerklärt übernehmen und seine Suggestionswirkung unterschätzen. Es gilt, das staatliche Narrativ vom NSU mit seinen drei Mitgliedern immer wieder zu hinterfragen und ihm etwas entgegenzusetzen.