Der NSU-Komplex in Mecklenburg-Vorpommern. Eine Bilanz der Arbeit zweier Untersuchungsausschüsse

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Am 27. Mai 2024 beendete der zweite NSU/Rechter Terror-Untersuchungsausschuss im Landtag Mecklenburg-Vorpommern vorerst seine Arbeit zum NSU-Komplex. Und das obwohl zahlreiche Fragen zum Mord an Mehmet Turgut in Rostock und zu den beiden Überfällen auf eine Sparkasse in Stralsund offen sind. Der aktuelle Ausschuss und sein Vorgänger in der vergangenen Legislaturperiode brachten tatsächlich Erkenntnisse: Zum einen wurden dem NSU-Komplex in Mecklenburg-Vorpommern neue Teile hinzugefügt. Zum anderen wurden einige Sachverhalte, die Betroffene und Antifaschist*innen bereits seit den 1990er Jahren wussten und publizierten nun auch staatlicherseits festgestellt.

von NSU-Watch

Der erste Untersuchungsausschuss Mecklenburg-Vorpommern, der noch ausschließlich den NSU-Komplex zum Thema hatte, wurde erst nach Ende des ersten NSU-Prozesses aktiv. Es hatte Jahre gedauert, ihn zu erkämpfen, obwohl Mecklenburg-Vorpommern den anderen Tatort-Bundesländern in nichts nachstand, etwa wenn es um ausgebliebene Ermittlungen in Richtung eines rechten Motivs oder um rassistische Ermittlungen gegen Betroffene und deren Umfeld geht. Mit Ausnahme von Hamburg, das bis heute keinen Untersuchungsausschuss eingesetzt hat, hatte es in den anderen Tatortländern zu diesem Zeitpunkt bereits Untersuchungsausschüsse gegeben. Gleichzeitig weist der Nordosten Deutschlands auch Besonderheiten in Bezug auf die rechtsterroristische Mord- und Verbrechensserie auf.

Frühe Netzwerke und Urlaube

Freund*innen, Kamerad*innen und Verwandte des NSU-Kerntrios lebten in Rostock – teilweise fußläufig oder sogar in Sichtweite des Tatortes. Tante und Cousine von Uwe Böhnhardt lebten zum Beispiel in dem Plattenbauviertel Toitenwinkel im Nordosten der Stadt, in dem auch der Mord stattfand. Diese Verwandten soll Böhnhardt nach deren Aussagen jedoch Jahre vor dem Abtauchen zuletzt gesehen haben. Deutlich schwerer für die spätere Aufklärungsarbeit der Behörden und des NSU-Prozesses hätten dagegen die Gesinnungskameraden wiegen müssen, die das Kerntrio Anfang der 1990er Jahre, also vor dem Abtauchen, auf einem Campingplatz in Krakow am See kennenlernte. Aus den Urlaubsbekanntschaften wurden Freund*innen, die sich gegenseitig in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen besuchten und mindestens zu einem gemeinsamen Urlaub nach Tschechien aufbrachen. Mundlos schwärmte unter anderem in einem Brief von einem billigen Waffenladen, den man in Rostock entdeckt habe. Die Silvesternacht 1995/96 verbrachte das Kerntrio schließlich in einer Wohnung, die ein nahezu freies Sichtfeld auf den späteren Tatort, den damals bereits existierenden Döner-Imbiss, zuließ. Wann und vor welchem Hintergrund das NSU-Kerntrio den Entschluss fasste, seine Mordserie 2004 hier fortzusetzen, ist bis heute ungeklärt.

Die Mordserie des NSU begann mit dem Mord an Enver Şimşek im Jahr 2000, es folgten die Morde an Abdurrahim Özüdoğru und Süleyman Taşköprü. Nach dem Mord an Habil Kılıç am 29. August 2001 in München unterbrach der NSU – soweit bekannt – zunächst seine Mordserie. 2002 verschickte er den sogenannten NSU-Brief an Neonazi-Strukturen, auch in Mecklenburg-Vorpommern. 2004 setzte er seine Mordserie in Rostock fort und ermordete am 25. Februar Mehmet Turgut. Mecklenburg-Vorpommern blieb das einzige ostdeutsche Bundesland, in dem der NSU mordete. Es war zudem der einzige Mord in einem Wintermonat.

Am 7. November 2006 und erneut am 18. Januar 2007 überfiel der NSU eine Sparkasse in Stralsund. Es sind die einzigen bekannten Überfälle des NSU, die nicht in der Nähe der sächsischen Wohnorte des NSU-Kerntrios oder in Thüringen, seinem Herkunftsland, stattfanden. Der NSU erbeutete in Stralsund besonders hohe Summen und nur dort gelang es , die gleiche Bankfiliale zweimal erfolgreich zu überfallen.

Auch im sogenannten Untergrund nutzte der NSU Mecklenburg-Vorpommern als sein Urlaubsland. Bereits 2000 hielt sich das Kerntrio laut Aussage von Unterstützer Holger Gerlach auf Usedom auf, es habe ihn empfangen und ihm einen Rundflug über die Insel spendiert. Im Jahr 2011 sollen vom 18. bis zum 22. Mai auf Rügen gewesen sein. Für das Folgejahr 2012 lag zudem eine Reservierung für einen Campingplatz auf Rügen vor. All diese Fakten, die ja erst nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 ermittelt oder recherchiert wurden, reichten nicht aus, um einen Untersuchungsausschuss einzusetzen.

Wer im Nordosten wusste vom NSU?

In den Jahren nach der Selbstenttarnung spielte Mecklenburg-Vorpommern immer wieder eine tragende Rolle. So zeigte sich, dass das Kerntrio in Mecklenburg-Vorpommern Hilfe gesucht hatte. 1999 fuhren ihre Unterstützer Ralf Wohlleben und Carsten Schultze nach Goldenbow nahe Schwerin, um dort den NPD-Landesvorsitzenden und Parteianwalt Hans Günter Eisenecker zu treffen. Dieser sollte Beate Zschäpe bei ihrem damaligen Plan unterstützen, sich der Polizei zu stellen. Da der V-Mann Tino Brandt diesen Plan dem Thüringer Verfassungsschutz gemeldet hatte, wurden die beiden bei dem Besuch überwacht: Vom Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern, der aus Thüringen um Amtshilfe gebeten worden war. Auch dieser Hinweis auf das konkrete Netzwerk des NSU reichte nicht aus, um einen Untersuchungsausschuss einzurichten.

Ende März 2012 veröffentlichte NSU-Watch einen Fund des antifaschistischen Archivs apabiz. Im Neonazi-Fanzine „Der Weisse Wolf“ war man auf das Kürzel NSU gestoßen – abgedruckt neun Jahre vor der Selbstenttarnung. Genannt wurde das Kürzel in einem im Editorial der Ausgabe 18 aus dem Jahr 2002. Dort steht fett abgesetzt: „Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen ;-) Der Kampf geht weiter…“. Als Folge dieser Veröffentlichung durchsuchte die Polizei Wohnung und Landtagsbüro des damaligen mecklenburg-vorpommerischen NPD-Abgeordneten David Petereit. Petereit war im Jahr 2002 der Herausgeber des „Weissen Wolfes“. Bei der Durchsuchung wurde der sogenannte NSU-Brief in Petereits Wohnung gefunden. Den Brief hatte der NSU 2002 mit einer Spende an verschiedene neonazistische Organisationen verschickt. In ihm rief er dazu auf, aktiv zu werden. Anlässlich des antifaschistischen Recherchefundes durchsuchte auch Verfassungsschutz des Landes Mecklenburg-Vorpommern seine Archive und stieß dabei auf die Meldung eines Spitzels, wonach bei dem Fanzine eine hohe Bargeldsumme eingegangen sein soll. Die Ausgabe 18 des „Weissen Wolfs“ habe dort aber nicht vorgelegen, sondern nur im Bundesamt für Verfassungsschutz. Da wiederum dort die Quellenmeldung über die Spende nicht bekannt gewesen sei, seien an keiner Stelle die relevanten Informationen zusammengeführt worden. Trotzdem: Kein Untersuchungsausschuss in Mecklenburg-Vorpommern.

Zwei Jahre später, 2014, stand Mecklenburg-Vorpommern wieder im Mittelpunkt eines Skandals im NSU-Komplex, wieder ging es um das Auftauchen des Kürzels NSU vor der Selbstenttarnung und wieder war dies nicht direkt durch die Behörden offengelegt worden. In kurzen Abständen wurden in Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Sachsen Exemplare der NSU/NSDAP-CD/DVD gefunden. Im Booklet dieser Daten-CD war sogar vom „Nationalsozialistischer Untergrund der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“ die Rede. Der Fund in Mecklenburg-Vorpommern wurde als Zufallsfund vermeldet – die CD sei während einer Drogen-Razzia aufgefallen. Dem Landesamt für Verfassungsschutz Hamburg habe ein V-Mann die CD übergeben, nachdem er sie zufällig, so das LfV Hamburg, beim Aufräumen seines Dachbodens gefunden habe. Und in Sachsen sei die CD bei einer Durchsuchung im Rahmen des Verbots der Neonazi-Gruppe Nationalen Sozialisten Chemnitz sichergestellt worden. Später stellte sich heraus, dass die etwa 2003 erstellte CD/DVD dem Bundesamt bereits seit 2005 vorgelegen hatte – übergeben vom umtriebigen Neonazi Thomas Richter alias V-Mann „Corelli“. Diesen konnte man dazu aber nicht mehr befragen, da er 2014 tot aufgefunden wurde. Aber in Mecklenburg-Vorpommern änderte sich auch jetzt nichts.

Vom Unterausschuss zum Untersuchungsausschuss

Erst im April 2017 beschäftigte sich der Landtag Mecklenburg-Vorpommern gesondert mit dem NSU-Komplex, allerdings nicht in einem ordentlichen Untersuchungsausschuss, sondern in einem so genannten Unterausschuss des Innen- und Europaausschusses. Dem vorausgegangen war sowohl zivilgesellschaftlicher als auch parlamentarischer Druck, hier vonseiten der Linksfraktion. Der erste Versuch auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses war in der vorangegangen Legislaturperiode gescheitert. Die Fraktion Bündnis90/Die Grünen zog ihre Zusage kurzfristig zurück, womit das notwendige Quorum von 25 Prozent nicht erreicht war. Es stellte sich jedoch nach den ersten Sachverständigenanhörungen im Unterausschuss schnell heraus, dass dieses Gremium völlig untauglich ist, um offenen Fragen im NSU-Komplex nachzugehen. Die Abgeordneten hatten nämlich weder das Recht, Akten anzufordern noch Zeug*innen zu laden und zu vernehmen. In der Folge verschenkte der Landtag Mecklenburg-Vorpommern ein weiteres Jahr bis sich die koalitionstragenden Fraktionen aus SPD und CDU im April 2018 davon überzeugen ließen, einen richtigen Untersuchungsausschuss einzusetzen, mitgetragen von der Linksfraktion und der damals noch im Landtag vertretenen Fraktion „Bürger für Mecklenburg-Vorpommern“.

Der erste Untersuchungsausschuss fragte insbesondere nach dem Mord an Mehmet Turgut am 25. Februar 2004 in Rostock, nach den Umständen, die den Mord ermöglicht haben, und den Polizeiermittlungen.

Es müssen Nazis gewesen sein. Keiner glaubte uns jedoch.“

Die Aussagen im ersten Untersuchungsausschuss zeigten erneut, dass die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft sich in das gleiche rassistische Schema einreihten, für das der NSU-Komplex heute bekannt ist. Ermittelt wurde gegen Mehmet Turgut, seine Familie, sein Umfeld. Dabei war schnell klar, dass mit diesem Mord eine Mordserie fortgesetzt wurde. Ein rechtes Motiv schlossen die Ermittler*innen jedoch bereits nach einer Woche aus, wie ein Presseentwurf der ermittelnden Mordkommission belegt.

Mustafa Turgut, der Bruder von Mehmet Turgut, sagte vor dem Untersuchungsausschuss: „Mein Bruder hat niemandem etwas angetan. Wir wurden von allen Seiten bedrängt. Es kamen die Gerüchte auf. Meine Eltern mussten aus ihrem Dorf wegziehen. Es war für sie schrecklich, dass die Leute gedacht haben, ihr Sohn muss etwas gemacht haben oder ihr Sohn sei kriminell. Die Leute sagten, keiner wird einfach so umgebracht. Deswegen haben wir uns immer und immer wieder die Frage nach dem Warum gestellt. Wir hatten jedoch keine Feinde. Unsere Familie hatte niemanden etwas angetan – weder in Deutschland noch in der Türkei. Unsere Familie war eine angesehene Familie. Jeder mochte meine Eltern und meine Familie. Wir haben schon damals gesagt – auch der Polizei: Wir haben keine Feinde, wir haben niemanden etwas angetan: Es müssen Nazis gewesen sein. Keiner glaubte uns jedoch.“1

Einige als Zeug*innen gehörte Ermittler*innen aus Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Bayern nutzten die Gelegenheit ihrer Aussage im Untersuchungsausschuss, um die rassistischen Annahmen und Gerüchte, die die Polizei nach den Morden verbreitete, erneut zu wiederholen. Der Ausschuss schritt hier nicht im ausreichenden Maß ein, obwohl ein Hinweis an die Zeug*innen, dass dies nicht zum Thema gehöre, auf der Hand gelegen hätte. Es zeigte sich auch, dass es bei den meisten gehörten Beamt*innen und Staatsanwält*innen kaum Wissen über die Neonazi-Szene und rechten Terror gab und gibt. Immer wieder wurden beispielsweise fehlende Schmierereien oder andere Bekenntnisse angeführt, die man als Anhaltspunkt für Ermittlungen in Richtung eines rechten Mordes aber gebraucht hätte. Das sei „ja von diesen Gruppen grundsätzlich immer der Fall,“ behauptete die zuständige Staatsanwältin allen gegenteiligen Erkenntnissen über rechten Terror ohne Bekenntnis zum Trotz noch im Jahr 2019.1 Wurden dagegen die rassistischen Thesen von Organisierter Kriminalität als Motiv bezüglich des Mordopfers oder seines Umfelds vermeintlich bestätigt – ob von zufälligen Zeug*innen oder vom Landesamt von Verfassungsschutz – hielten Ermittler*innen meist sofort für die plausibelste Möglichkeit. Bernd Sch., damaliger Leiter der Mordkommission bei der KPI Rostock sagte dazu: „Wenn Sie meinen, ich habe mich entschuldigt, nein. Es gab genügend Anhaltspunkte, dass hier was anderes läuft, also ich brauche mich für gar nichts entschuldigen“.2

Im Laufe des ersten Ausschusses stellte sich auch heraus, dass die Beteuerungen von Staatsanwaltschaft und Polizei, man habe alles getan, um den Mörder von Mehmet Turgut zu finden, falsch waren. Dies wurde jedoch erst klar, als bayerische Ermittlern vor dem Ausschuss aussagten und dieser Darstellung widersprachen. Nach dem Mord an Mehmet Turgut wurde demnach beantragt, dass die Ermittlungen von Bundesbehörden übernommen werden. Dies scheiterte jedoch. Lediglich Finanzermittlungen übernahm das BKA. So stellten es auch die Zeug*innen aus Mecklenburg-Vorpommern dar. Den entscheidenden Zusatz machte jedoch erst der Kriminalbeamte Richter aus Bayern, der in der damaligen Ermittlungsgruppe mit dem rassistischen Namen BAO (Besondere Aufbauorganisation) „Bosporus“, wo sich Soko-Mitglieder der Tatortländer   regelmäßig trafen, tätig war. Denn dass der Antrag so ausging war den Ermittler*innen im Nordosten damals wohl nicht klar: Es es gab die folgenreiche Fehlannahme in der KPI Rostock, dass das BKA die Gesamtermittlungen übernommen habe. Das bedeutete, „dass einige Dinge, die bei einem Morddelikt eigentlich Usus sind, versäumt wurden“, so der bayerische Ermittler3. Bestätigen lässt sich diese Aussage durch einen Blick in die Zeitung „Norddeutsche Neueste Nachrichten“ vom 11./12. Juni 2005, die nach dem Mord an İsmail Yaşar den Polizeisprecher in Rostock zu den Ermittlungen im Mordfall Turgut befragte. Der Sprecher antwortete: „Wir haben das Verfahren damals über das Landeskriminalamt an das Bundeskriminalamt weitergegeben.“ Zudem wurde erst auf Druck der „BAO Bosporus“ die Soko „Kormoran“ zum Mord an Mehmet Turgut eingesetzt, zuvor hatte es keine Sonderkommission gegeben. Der bayerische Kriminalbeamte sagte außerdem zur Zusammenarbeit mit der Soko „Kormoran“, dass die Kollegen vom ersten Tag an bemüht gewesen seien, aber es habe den großen Nachteil gegeben, dass 2007 der G8-Gipfel in Heiligendamm stattgefunden habe, „da ist es gänzlich auf Null runtergefahren worden, da stellt man sich schon die Frage, wie hoch die Wichtigkeit angesehen war“.

Staatliche und gesellschaftliche Ermöglichungsstrukturen

Der erste Untersuchungsausschuss hatte es sich außerdem zur Aufgabe gemacht, die Arbeit der Polizei über die konkreten Ermittlungen nach dem Mord und den Banküberfällen hinaus zum Thema zu machen. So wurde auch die Arbeit der Polizei zu und mit rechten Strukturen zur Zeit der Sozialisation des NSU untersucht. Ein besonderes Augenmerk lag auf der Arbeit der Mobilen Aufklärung Extremismus (MAEX), die 1999 eingerichtet wurde, um der rechten Szene in Mecklenburg-Vorpommern etwas entgegenzusetzen. Nach den Zeugenaussagen der beteiligten Beamt*innen drängt sich der Eindruck auf, dass das Hauptziel dieser Einheit war, die Rechten – oft von ihnen als „grölende Jugendliche“4 bezeichnet – lediglich aus der Öffentlichkeit zu verbannen, da Mecklenburg-Vorpommern diesbezüglich einen schlechten Ruf bekommen hatte. Einige Beamte sahen sich eher in der Rolle von Sozialarbeitern, die ihre Schützlinge mitunter zu Gerichtsterminen begleiteten: „Ich habe ihn nicht als Rechtsextremisten begleitet, sondern als Mensch“, äußerte der entsprechende Beamte dazu.5 Andere beschrieben, wie sie donnerstags vor dem städtischen Jugendclub MAX in Rostock-Groß Klein, einem damaligen Treffpunkt rechter Jugendlicher, Autokennzeichen von anwesenden Neonazis notierten, da sie zum Club selbst keinen Zugang hatten. Zu den Fragen des Ausschusses nach Neonazi-Strukturen trugen sie auffällig wenig bei, manche kannten auf Nachfrage nicht einmal die Namen bekannter Neonazis. Darüber zeigten sich auch die Abgeordneten irritiert. Der Abgeordnete Peter Ritter (Linksfraktion) hatte damals für einen Beschluss im Landtag gestimmt, nach dem rechte Konzerte verhindert werden sollten. Die Schilderungen der MAEX-Polizisten, wie sie teilweise lediglich vor den Konzerten standen, sorgten daher bei ihm für Empörung.

Darüber hinaus fragte der erste Untersuchungsausschuss nach Ermöglichungsstrukturen für rechte Gewalt und rechten Terror in Mecklenburg-Vorpommern. Dazu gehörten Jugendclubs, in denen eine rechte Dominanz zugelassen wurde. Genauer in den Blick nahm der Ausschuss den bereits erwähnten Rostocker Jugendclub MAX: Dieser war bis Anfang der 2000er-Jahre ein wichtiger Ort der Vernetzung für die Neonazi-Szene in Mecklenburg-Vorpommern, insbesondere von „Blood & Honour“. Er wurde schon anlässlich des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen von Antifaschist*innen als rechter Treffpunkt benannt. Vom MAX aus brachen auch rechte Jugendliche zu dem Pogrom auf. Im Ausschuss sagte der ehemalige Leiter des Jugendclubs dazu: „Natürlich haben wir das mitbekommen, dass Jugendliche nach Lichtenhagen rübergegangen sind: Wir haben versucht Einfluss zu nehmen. Glauben Sie nicht, dass das so einfach ist, die sind einfach gegangen.“ „Wir haben am 23.8. während des Pogroms in Rostock den von Rechtsradikalen genutzten Jugendclub ‚MAX‘ in Rostock-Lichtenhagen abgefackelt“, hielten Antifaschist*innen dagegen. Der Jugendclubwurde dann aber wieder aufgebaut und Teil des inzwischen breit kritisierten „Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt“7

Etabliert war über Jahre hinweg der „Glatzendonnerstag“, an dem sich gezielt Neonazis im Club MAX trafen, unter anderem die örtlichen „Blood & Honour“-Strukturen. Die ehemalige Leiterin stellte diese Donnerstage als eine Art Eindämmung der rechten Vormacht dar, weil sich die Nazis ja nur noch an einem Tag im Club hätten treffen dürfen. Der Ausschuss konnte, obwohl die damalige Leiterin das bei ihrer Aussage vehement bestritt, dennoch Konzerte rechter Bands wie „Nordmacht“ in diesem Jugendclub noch einmal als parlamentarisches Gremium dokumentieren, die bereist vorher durch antifaschistische Recherchen bekannt waren. Er sah es als sogar erwiesen an, dass die Zeugin sogar die Instrumente der Band im Auto des Jugendclubs zum Auftritt gefahren hatte.

Die Zeug*innenaussagen im ersten Ausschuss konnten – oft unfreiwillig – die gesellschaftliche Stimmung in Mecklenburg-Vorpommern in den Jahren vor dem Mord an Mehmet Turgut nachzeichnen. Jahre, die geprägt waren von rechter Dominanz sowohl auf der Straße als auch im gesellschaftlichen Meinungsbild auf der einen und einer massiven Verharmlosung dieses Zustands auf der anderen Seite. Als Mehmet Turgut dann ermordet wurde, dachte man bei der Polizei trotzdem nicht an ein rechtes Motiv. Nur das Umfeld von Mehmet Turgut machte darauf aufmerksam. Die Personen aus Turguts Umfeld hatten in Mecklenburg-Vorpommern schließlich schon selbst Erfahrungen mit rechter Gewalt gemacht. So geriet der Imbiss, in dem Mehmet Turgut ermordet wurde, bereits in den 1990er Jahren in Fokus von Rechten, was auch bei der Polizei aktenkundig war. Unter anderem wurde der Betreiber Haydar Ay. unter rassistischen Beleidigungen 1998 Opfer einer Prügelattacke. Auch nach einer Anzeigenerstattung wurde er weiterhin durch den Täterkreis eingeschüchtert und damit bedroht, dass sein Imbiss eines Tages in die Luft fliegen werde. Nur wenig später brannte der Imbiss unter ungeklärten Umständen aus.

Der Weisse Wolf“

Der erste Untersuchungsausschuss beschäftigte sich darüber hinaus mit dem Gruß an den NSU im „Weissen Wolf“. Gefragt wurde etwa zu der Beteuerung des Verfassungsschutzes Mecklenburg-Vorpommern, die entsprechende Ausgabe 18 habe nicht vorgelegen. Außerdem war die Meldung einer Quelle zu einer Spende an den „Weissen Wolf“ mit beiliegendem Brief im Vorfeld dieser 18. Ausgabe Thema. Der zuständige Auswerter des Verfassungsschutzes Mecklenburg-Vorpommern, der unter dem Kürzel „VS 12“ aussagte, versicherte dem Ausschuss auch nach vehementerer Befragung, dass man den „Weissen Wolf“ zwar im Blick gehabt und bei Quellen in der Szene angefordert habe, man aber trotzdem nicht alle Ausgaben bekommen habe. Klar wurde aber auch, dass die Ausgabe beim LfV Brandenburg und beim Bundesamt vorlag und dies in Mecklenburg-Vorpommern auch bekannt war. Etwas aus der Zeit gefallen war die Begründung von „VS 12“, warum man von dort keine Kopie eingefordert habe: Das sei damals „unüblich“ gewesen, „weil man hätte alles kopieren müssen“.8 Warum man das Magazin nicht einfach über den im Heft angegeben Kanal – ein Postfach – bezog, konnte der Zeuge nicht beantworten.

Gleichzeitig machte der Zeuge klar, dass die Spende von 2.500 Euro an den „Weissen Wolf“, zu der es eine Quellenmeldung gab, ungewöhnlich hoch war. Beigelegen habe laut Quelle auch ein Brief, in dem es sinngemäß geheißen habe, „macht weiter so, das Geld ist bei euch gut aufgehoben“. Den Brief habe man aber ebenfalls nicht beschaffen können. Insgesamt bezweifelte der Zeuge, dass man auch mit der Quellenmeldung, dem Brief und der Ausgabe 18 den NSU hätte festnehmen können. „VS 12“ betonte aber, dass er die Spende als wichtig eingestuft habe und dass er nach Erhalt der Quellenmeldung Arbeitsaufträge verteilt habe, um herauszufinden, woher die Spende stammt. Der Zeuge, „VS 17“, V-Mannführer der Quelle, hätte seine Quelle erneut nach der Spende befragen können, verneinte im Ausschuss aber, einen Auftrag dazu bekommen zu haben.9

Auch der im Bundesamt für die Auswertung des „Weissen Wolf“ zuständige Sebastian Egerton (Deckname) wurde im Ausschuss befragt. Der Zeuge sagte, er habe den abgesetzt gedruckten Gruß an den NSU nicht wahrgenommen oder nicht als relevant eingestuft. Egerton sagte, dass, hätten ihm die zwei weiteren Informationen, Quellenmeldung und Brief, vorgelegen, er dies anders bewertet und möglicherweise weiter nachgeforscht hätte. Egerton sagte, er gehe davon aus, dass der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern die 18. Ausgabe des „Weissen Wolfs“ ausgewertet habe, da alle Landesämter lokale Fanzines auswerten sollten. In Mecklenburg-Vorpommern hätten demnach zwei von drei Informationen vorliegen müssen. Damit konfrontiert, dass dies nicht der Fall war, sagte Egerton: „Das höre ich zum ersten Mal“.10

Vom ersten zum zweiten Untersuchungsausschuss in Mecklenburg-Vorpommern

Der erste NSU-Untersuchungsausschuss beendete seine Arbeit ohne einen Abschlussbericht. Die Fraktionen waren sich einig, dass die Aufklärung nicht abgeschlossen war und stellten lediglich einen Zwischenbericht vor, der keine Bewertungen, Schlussfolgerungen oder Konsequenzen aus den Zeug*innenvernehmungen zog. Es handelt sich vielmehr um einen Verlaufsbericht der Ausschussarbeit, der Grundlage für einen zweiten Ausschuss nach der Wahl sein sollte. Ein weiterer Grund für die Fortsetzung des Untersuchungsausschusses waren fehlende und massiv geschwärzte Akten gewesen, die die Aufklärungsarbeit beeinträchtigt hätten. Ausschussmitglieder beklagten, dass sie teilweise nach Jahren der Beantragung noch immer keine Akten vom Verfassungsschutz bekommen hätten. Eine Fortführung wurde auch deswegen als notwendig benannt. Die Linksfraktion legte zum Ende des ersten Untersuchungsausschusses den Bericht Kein Ende der Aufklärung“ vor, in der sie Schlussfolgerungen zog und Forderungen aufstellte.

Seit dem Sommer 2022 tagt nun dieser zweite NSU / Rechter Terror-Untersuchungsausschuss im Landtag in Schwerin auch öffentlich, er war kurz nach der Wahl des aktuellen Landtages eingesetzt worden. Der SPD-Innenminister verkündete, wie sehr er und die ihm unterstellten Behörden sich auf die Aufklärung freuten. Der Plan des Gremiums ist ambitioniert und verlangt nach einigem Tempo, auch wenn formal bis zum Ende der Legislaturperiode 2026 Zeit ist. Doch der Start verlief schleppend und es dauerte rund ein halbes Jahr, bis der Ausschuss mit Zeugenvernehmungen begann.

Keine Historienforschung“

Bei den ersten Sitzungen des zweiten Ausschusses lag der Schwerpunkt im Schweriner Schloss auf den Ermittlungen zum NSU-Komplex in den Monaten nach der Selbstenttarnung. Da die meisten geladenen Zeug*innen zum ersten Mal vor einem parlamentarischen Aufklärungsgremium aussagten, gab es hier einige neue Erkenntnisse zu gewinnen. Diese werfen auch ein Licht darauf, warum die Aufklärung des NSU-Komplexes insgesamt auf dem bekannt prekären Stand ist. Für Irritationen sorgte bei den Abgeordneten und auch bei Teilen der vernommenen Beamt*innen der Umstand, dass Mecklenburg-Vorpommern – trotz der vielfältigen Verbindungen in den NSU-Komplex – kein eigener Ermittlungsabschnitt innerhalb der „BAO Trio“ des BKA wurde, sondern das LKA Mecklenburg-Vorpommern eine eigene „BAO Trio M-V“ ins Leben rief. Im Auftrag dieser mecklenburg-vorpommerischen BAO standen eigene Ermittlungen, trotzdem war man an Weisungen der Bundesbehörden, also der des GBA (Generalbundesanwalt, Anklagebehörde des Bundes, bekannt auch als Bundesanwaltschaft) und des BKA, gebunden. Warum die Ermittlungen in Mecklenburg-Vorpommern, wie im Fall anderer Bundesländer, nicht unmittelbar ins BKA integriert wurden, konnten sich auch Ermittler*innen im Ausschuss nicht erklären.

Eine tiefergehende Kenntnis über die extreme Rechte in Mecklenburg-Vorpommern oder über rechten Terror waren keine Voraussetzungen für die Ermittler*innen, die für die BAO „Trio M-V“ eingeteilt wurden. Den größten Raum bei den Ermittlungen nach der Selbstenttarnung des NSU in Mecklenburg-Vorpommern nahm offenbar eine größere Datenbankabfrage unter anderem mit den vom GBA gelieferten Namenslisten ein. Man suchte unter anderem nach Treffern in den Ermittlungsakten zum Mord an Mehmet Turgut und zu den Banküberfällen. Doch selbst wenn es Ergebnisse gab, wurde diesen nicht immer nachgegangen. Stellte man beispielsweise einen Treffer im System fest, war die Person aber inzwischen in ein anderes Bundesland verzogen, fühlte man sich in Mecklenburg-Vorpommern nicht mehr zuständig. In der landeseigenen Neonazi-Szene ermitteln? Vielleicht gar rechte Netzwerke aufdecken? Fehlanzeige. Und falls es doch mal den Ansatz tiefergehender Ermittlungen gab, wurde dieser durch das übergeordnete BKA bzw. den GBA rasch unter anderem mit dem Hinweis ausgebremst, dass man keine „Historienforschung“ betreiben würde.11

Der Ausschuss näherte sich bezüglich der Ermittlungen in mehreren Vernehmungen der Frage, wie das Kartenmaterial des NSU, das im Brandschutt des letzten Unterschlupfes des Kerntrios in Zwickau gefunden wurde, zu lesen und zu deuten ist. Hier hatte der Ermittler der BAO „Trio M-V“ die markierten Orte besucht und beschrieb diese im Zeugenstand. Anhand dieser Aussage und von mehreren markierten Straßenkarten von Greifswald wurde deutlich, dass die Ermittlungsbehörden dieser Frage trotz des Ortsbesuchs letztlich nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Im Ausschuss wurde die These laut, dass die Markierungen, zumeist Kreuze, nicht zwangsläufig mögliche Anschlagsziele oder Ziele für mögliche Raubüberfälle zeigen müssen. Stattdessen könne es sich bei den Markierungen auch um geeignete Ausspähpunkte oder Fluchtmöglichkeiten handeln. So sagte der Zeuge, ein Pfeil auf einer Karte markiere die Hauptzufahrt über die Wolgaster Straße in Greifswald. Von einem markierten Punkt habe man eine Sparkasse direkt sehen können. Auch einen Imbiss habe man von dort im Blick gehabt. Es habe dort keine Straftaten gegeben, aber vielleicht sei das interessant für den NSU gewesen.12 Außerdem fand sich in der Altstadt Greifswald eine Markierung, die sich gegenüber eines früher existierenden linken Wohnprojektes befand. Abschließend konnte der Ausschuss die Frage nach der Bedeutung und Sinnhaftigkeit der vorgefundenen Markierungen nicht klären.

Dass eine Beschäftigung mit der rechten Szene in Mecklenburg-Vorpommern, die ja nach der Selbstenttarnung des NSU nahegelegen hätte, zu ihren Aufgaben gehört hätte, wiesen Ermittler der BAO „Trio M-V“ wiederholt zurück: „Das war nicht unser Auftrag, die rechtsextreme Szene im Allgemeinen aufzuhellen“, so André Ka., Leiter des Ermittlungsabschnittes „Zentrale Auswertung“.13 Anders sah das der Einsatzbefehl der BAO, demzufolge die Suche nach Strukturen und Veränderungen in der rechtsextremen Szene zum Auftrag gehört.

Immer wieder zeigte sich auch eine erschreckende Unkenntnis über die rechte Szene bei den Beamt*innen. Der Leiter des „Ermittlungsabschnitts Folgemaßnahmen“, der Ermittlungsaufträge, die sich aus ursprünglichen Aufträgen ergaben, weiter bearbeiten sollte, gab am 21. November 2022 vor dem Untersuchungsausschuss zu „Blood & Honour“ lediglich an, er kenne die Organisation zwar, sie sei aber seit dem Jahr 2000 verboten. Auch die polizeiliche Auswertung der Ausgabe 18 des „Weissen Wolfs“ war mehr als dürftig. Ein Ermittler des „Ermittungsabschnitts Auswertung“ sollte diese Ausgabe nach Bezügen zum NSU und nach Mecklenburg-Vorpommern untersuchen. Was er auswertete, waren folgende dürre Informationen: Das Kürzel NSU fand er einmal im Editorial. Außerdem: „Bezüge zu Mecklenburg-Vorpommern gab es nur an sehr wenigen Stellen.“14 Dies seien Adressen von anderen Fanzines in Mecklenburg-Vorpommern und die postalische Anschrift des Fanzines Der Weisse Wolf“. Es sei anzunehmen, so der Ermittler, dass „Der Weisse Wolf“ und das Fanzine „Freya“ verbunden sind, weil es so im Heft stehe. David Petereit aus Mecklenburg-Vorpommern sei der Herausgeber gewesen. Mehr als diese Nichtigkeiten konnte der Ermittler dem Ausschuss am 29. August 2022 nicht mitteilen. Die Inhalte der Artikel im Fanzine schienen für ihn keine Rolle gespielt zu haben.

Der Umgang mit den auch nach dem Verbot weiter existierenden „Blood & Honour“-Strukturen und dem Fanzine „Weissen Wolf“ stehen symptomatisch für die Ermittlungen nach der Selbstenttarnung des NSU in Mecklenburg-Vorpommern. Netzwerke wurden gar nicht erst gesucht und selbst wenn diese strukturellen Verflechtungen auf der Hand gelegen haben, hat man ihnen keine Relevanz beigemessen. Viele potenzielle Ermittlungsansätze wurden mit den Worten geschlossen: „Kein Bezug zum NSU“. Das bedeutete jedoch nur, dass diese Information keine Relevanz für das damals laufende NSU-Strafverfahren in München und die weiteren Verfahren des GBA hatten.15 Ähnliches gilt für die wiederholte Aussage im Ausschuss, man habe keine Hinweise auf NSU-Unterstützer gefunden. Damit waren jedoch meist lediglich Unterstützer*innen in einem strafrechtlichen Sinne, also Personen, die unmittelbar oder mittelbar an den Straftaten mitwirkten, gemeint. Über diese Punkte hinaus zeigten sich die Befragten wenig interessiert am Thema. Weitere Ermittlungen, die notwendig zur Aufdeckung und strafrechtlichen Verfolgung des terrorunterstützenden Netzwerks hätten geführt werden müssen, spielten daher in der Realität kaum eine Rolle.

Puzzlestücke

Der Untersuchungsausschuss beschäftigte sich neben diesen Ermittlungen auch mit Einzelaspekten des NSU-Komplexes in Mecklenburg-Vorpommern.

Eine noch nicht vollständig geklärte Rolle im NSU-Komplex spielt der damalige Szeneanwalt und NPD-Vorstand Hans Günter Eisenecker aus Mecklenburg-Vorpommern, der im November 2003 verstarb. Ähnlich wie die Szeneanwälte Jürgen Rieger und Gisa Pahl aus Hamburg führte er in den 1990er-Jahren sogenannte Rechtsberatungen für die Neonazi-Szene durch, unter anderem in Thüringen, und übernahm auch Mandate aus der Szene. Lange Zeit machte es den Anschein, dass der erste Kontakt Eiseneckers mit dem NSU Anfang 1999 war, als er sich mit den NSU-Unterstützern Wohlleben und Schultze traf. Eisenecker sollte die Vertretung von Beate Zschäpe übernehmen, um sie dabei zu unterstützen sich bei der Polizei zu stellen.

Der erste NSU-Untersuchungsausschuss in Mecklenburg-Vorpommern konnte jedoch zeigen, dass der erste Kontakt früher stattgefunden hatte. Eisenecker vertrat Zschäpe und Böhnhardt im Dezember 1998 in einem Prozess in Rudolstadt wegen Beleidigung. Diese Information lag als Meldung beim Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern vor. Wie man heute weiß, lebte das NSU-Kerntrio da schon unter falschen Namen und Zschäpe und Böhnhardt erschienen nicht zum Prozess.

Der zweite Untersuchungsausschuss widmete sich dem Treffen zwischen Eisenecker, Schultze und Wohlleben. Dieses Treffen war vom mecklenburg-vorpommerischen Verfassungsschutz im Auftrag des Landesamtes für Verfassungsschutz Thüringen observiert worden. Der V-Mannführer des Thüringer Neonazis Tino Brandt, Norbert Wießner, war nach einem entsprechenden Bericht seines V-Manns extra nach Mecklenburg-Vorpommern gereist, um das Observationsteam einzuweisen. Er zeigte dem Team offenbar nur Fotos von Schultze und Wohlleben, nicht aber vom untergetauchten Trio. Wießner sagte bei seiner Aussage vor dem Ausschuss in Schwerin, er habe vor der Observation auch gedacht, dass der untergetauchte Uwe Böhnhardt zum Treffen kommen könnte. Bildmaterial von Böhnhardt habe er aber nicht mit dem Observationsteam besprochen. Wießner geht heute trotzdem davon aus, dass das Observationsteam Böhnhardt erkannt und die Polizei gerufen hätte, da nach diesem ja gefahndet wurde.16 Während seiner Befragung und auch während der Befragung des Observationsteams wurde stellte sich aber heraus, dass man nicht vorbereitet gewesen wäre, wäre einer der Gesuchten am Observationsort in Goldenbow selbst aufgetaucht. Der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern inszenierte sich bezüglich der Observation selbst stets lediglich als Dienstleister – man brüstete sich gar mit einem Dankesbrief, den man danach aus Thüringen erhalten hatte. Dabei wusste man durch Meldungen zu dem Prozess in Rudolstadt bereits zum Zeitpunkt der Observation schon mindestens drei Monate von der Verbindung zwischen Trio und Eisenecker und hätte selbst aktiv werden können.

Zudem wandte sich der Ausschuss erneut den Neonazi-Netzwerken des NSU zu. Dabei ging es immer wieder um den ehemaligen NPD-Abgeordneten David Petereit. Er war nicht nur ab dem Jahr 2000 Herausgeber des „Weissen Wolf“, es steht außerdem im Raum, dass er die NSU/NSDAP-CD/DVD erstellt haben könnte. Eine Daten-CD mit 15.000 rechten Bilddateien aus dem Jahr 2003, die Anfang 2014 einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde.17 Befragungen im Ausschuss ergaben, dass Bundesanwaltschaft und BKA nach eigenen Angaben erst kurz vor den Funden in Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Sachsen durch einen Artikel in einer rechtslibertären Zeitschrift auf die CD aufmerksam geworden war, obwohl sie seit 2005 beim Bundesamt für Verfassungsschutz vorlag. Im Ausschuss wurde dazu eine E-Mail aus dem Jahr 2000 öffentlich, in der David Petereit 2000 dem Neonazi Thomas Richter alias V-Mann „Corelli“ wegen Bildern für eine „Propaganda-CD“ anfragte. Hierzu ermittelten die Behörden aber nicht weiter, weil sie ein Verbindung zwischen der NSU-NSDAP-CD/DVD und dem NSU – also dem Verfahren vor dem OLG München – ausschlossen.

Darüber hinaus rückte der Kameradschaftsbund Anklam (KBA) und deren rechte Konzertscheune in Salchow mehrfach in den Fokus des Ausschusses. Der KBA pflegte gute und vertrauensvolle Beziehungen nach Chemnitz, welche bis zum Beginn der 2000er-Jahre belegbar sind. So bedankte sich der KBA für eine Spende zum notwendigen Umbau der Konzertscheune bei „den Chemnitzern“. In diesem nahezu beispiellosen Freiraum für Neonazis soll laut Durchsuchungsbericht ein Hakenkreuz in den Boden eingelassen worden sein.18 Zum 15-jährigen Jubiläum des KBA kamen im Mai 2011, also ein halbes Jahr vor der Selbstenttarnung des NSU, Personen zusammen, die später als Vertraute, Kameraden, Wegbereiter und Unterstützer des NSU bekannt wurden. So unter anderem der im Münchener NSU-Prozess als Unterstützer verurteilte André Eminger. Gemeinsam feierte man in der Konzertscheune seine langjährige Vernetzung.

Zudem – so deckte das Antifaschistische Infoblatt auf – hatten Polizeibeamt*innen im Rahmen einer Durchsuchung im Jahr 2004 mehrfach das Kürzel NSU notiert, welches sich auf Plakaten und Schildern befunden haben soll. Fotos dieser Schilder fehlen jedoch in der Dokumentation der Durchsuchung. Im zweiten Untersuchungsausschuss stellte sich daher die Frage, wer wann etwas vom NSU vor dessen Selbstenttarnung wusste. Und auch nach der Selbstenttarnung des NSU wurden diese Akten den Untersuchungsausschüssen nicht vorgelegt. Nach der Veröffentlichung des Artikels im Antifaschistischen Infoblatt ließ der GBA die Konzertscheune durchsuchen und der Ausschuss hörte die Beamten, die an der damaligen Durchsuchung beteiligt waren. Die Sitzungen zum Thema legen nahe, dass es sich um einen Lesefehler handeln könnte. Statt „NSU“ könnte auf den Plakaten „NSV“ für Nationalsozialistische Volkswohlfahrt in altdeutscher Schrift gestanden haben, das sei leicht zu verwechseln. Es konnte nicht abschließend geklärt werden, ob die These, dass es sich um einen Lesefehler gehandelt habe, für alle NSU-Insignien gelten kann. Fotos der entsprechenden Plakate wurden aber nicht zu Tage gefördert.

Kein Schlussstrich unter den NSU-Komplex in Mecklenburg-Vorpommern

Der Zeuge VS 52“ stellt für den Untersuchungsausschuss nach deren Beweisbeschlüssen die Akten und Antworten im Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern zusammen. Bei seiner Aussage vor dem Ausschuss am 20. November 2023 wirkte er genervt. Die Abgeordneten wollten einfach nicht aufhören zu fragen. Schließlich hielt er ihnen entgegen: „Kann man nicht mal einen Haken dahinter machen und was anderes machen?“19

Aber das sollten und werden Antifaschist*innen und Zivilgesellschaft außerhalb des Untersuchungsausschusses nicht tun. Der 20. Jahrestag der Ermordung von Mehmet Turgut zeigte das: Hunderte Menschen demonstrierten in Rostock und nahmen an der Gedenkveranstaltung teil. Sie machten die Forderung der Familie nach einer Straßenumbenennung stark und erinnerten an die offenen Fragen. Es wird auch die Aufgabe von Antifaschist*innen sein, die Ermöglichungsstrukturen für rechten Terror, die auch vom Untersuchungsausschuss herausgearbeitet wurden, weiter zu ergründen und sie aus der Welt zu schaffen.

Unterdessen arbeitet auch der 2. NSU/Rechter Terror-Untersuchungsausschuss weiter: Nach dem Ende der Beschäftigung mit dem NSU-Komplex soll nun das immer noch aktive Nordkreuz-Netzwerk in den Blick genommen werden. Auch weitere rechte Netzwerke stehen auf der To-Do-Liste im Nordosten.

Unsere ausführlichen Berichte zu den Untersuchungsausschüssen sowie weitere Hintergründe findet ihr hier.


 

1 https://www.nsu-watch.info/2021/04/wir-wuenschen-uns-umfassende-aufklaerung-wir-wuenschen-uns-dass-so-etwas-in-deutschland-nie-wieder-passiert-statement-von-mustafa-turgut-vor-dem-nsu-untersuchungsausschuss-mecklenburg-vorpomm/