Protokoll 336. Verhandlungstag – 17. Januar 2017

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An diesem Prozesstag wird zunächst geklärt, dass der Antrag der Verteidigung von Beate Zschäpe, die Gutachtenerstattung durch Prof. Dr. Saß mitzuschneiden, abgelehnt wird. Danach beginnt dieser sein psychiatrisches Gutachten über die Beate Zschäpe vorzutragen.

Sachverständiger:

  • Prof. Dr. Henning Saß (Psychiatrisches Gutachten über die Angeklagte Beate Zschäpe)

Der Verhandlungstag beginnt um 09:45 Uhr. Zschäpes Verteidiger RA Borchert und RA Stahl sind nicht anwesend. Der psychiatrische Sachverständige Prof. Dr. Saß ist anwesend.

Nach der Präsenzfeststellung verkündet Götzl den Beschluss, dass sämtliche Anträge der Zschäpe-Verteidiger_innen Sturm, Stahl, Heer bzgl. des Themas, die Gutachtenerstattung von Prof. Dr. Saß vollständig akustisch bzw. durch einen „berufsmäßigen Tastschreiber“ oder Stenografen aufzeichnen zu lassen, sowie der Antrag auf eine dienstliche Erklärung des SV dazu, ob er im Fall der Aufzeichnung seine Unbefangenheit tangiert sieht oder ob aus seiner Sicht als erfahrener SV sonstige Bedenken gegen eine Aufzeichnung bestehen, abgelehnt sind. Zur Begründung führt er aus, dass der Antrag zur dienstlichen Stellungnahme abzulehnen gewesen sei, weil es im Hinblick auf die Zulässigkeit der akustischen Aufnahme der gutachterlichen Äußerungen und deren mögliche Auswirkungen auf die Wahrheitsfindung nicht auf die subjektive Sicht des SV oder dessen Bewertung ankomme, sondern ausschließlich auf die Beurteilung durch den Senat.

Zu den weiteren Anträgen sagt Götzl, dass Ton- und Filmaufnahmen in der Hauptverhandlung zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts unzulässig seien. Andere Tonaufzeichnungen, die nicht den genannten Zwecken dienen, seien von diesem Verbot nicht umfasst. Ob solche Tonaufzeichnungen zugelassen werden, liege im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters. Bei der Ermessensausübung sei den Grundsätzen über die Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten und der Wahrheitserforschungspflicht besonderes Gewicht beizumessen. Die in diesem Zusammenhang bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigenden Gesichtspunkte hätten zur Ablehnung des Hauptantrags geführt, weil eine Tonaufnahme die Wahrheitsfindung beeinträchtigen könne. Zeugen und andere Auskunftspersonen, zu denen auch SV zählten, dürften keinen verfahrensfremden Einwirkungen ausgesetzt werden, die deren Angaben beeinflussen und beeinträchtigen können. Das Besprechen eines Tonbandes löse bei vielen Betroffenen eine Hemmung aus, frei und unbefangen zu reden. Die Aufzeichnung einer mündlichen Erklärung auf einen Tonträger eröffne zudem die Möglichkeit, das gesprochene Wort immer wieder abzuhören, zu analysieren und zu überprüfen.

Eine derartige Analyse am Wortlaut des Gutachtens sei nach den Ausführungen der Antragsteller geplant. Zudem sei beabsichtigt, Prof. Dr. Faustmann mit der Erstattung eines Gutachtens zu beauftragen, das sich in methodischer Hinsicht mit dem in der Hauptverhandlung noch zu erstattenden Gutachten von Prof. Dr. Saß auseinandersetzen soll. Nachdem Faustmann derzeit an der Hauptverhandlung jedoch nicht teilnehmen könne, seien ihm laut den Antragstellern die Anknüpfungstatsachen valide zu vermitteln, was bestmöglich durch ein aus einer Aufzeichnung seiner mündlichen Gutachtenerstattung gewonnenes Wortprotokoll erfolgen könne. Es bestehe jedoch bei dieser Sachlage die Gefahr, dass Aussagen und Erklärungen in Kenntnis ihrer Aufzeichnung, auch bei einer möglichen Einwilligung des SV und seiner subjektiven Einschätzung keine Einwände gegen die Aufnahme zu haben und durch die Aufnahme auch nicht beeinträchtigt zu sein, nicht frei und unbelastet erfolgen, so dass ihr sachlicher Inhalt falsch gewichtet wird.

Diese Einschätzung des Senats beruhe auf den in dem vorliegenden Verfahren bestehenden Besonderheiten. Die ohnehin auf Grund der Vielzahl der Verfahrensbeteiligten und des nicht unerheblichen Interesses der Öffentlichkeit und der Medien an dem vorliegenden Verfahren bestehende besondere psychische Belastung aller Verfahrensbeteiligten und damit auch des SV werde durch die Aufzeichnung seines mündlich zu erstattenden Gutachtens in verfahrensfremder Art und Weise verstärkt. Dass eine derartige Folge bei dem „forensisch außerordentlich erfahrenen Sachverständigen“ nicht zu befürchten wäre, sei für das vorliegende Verfahren eine reine Spekulation der Antragsteller. Gerade auch das angekündigte privat in Auftrag gegebene methodenkritische Gutachten zur Überprüfung des Gutachtens von Saß hebe neben den ohnehin bestehenden Besonderheiten diese Situation aus der Vielzahl der vom SV bereits erstatteten Gutachten und seiner forensischen Erfahrung heraus. Der SV sei sicherlich forensisch außerordentlich erfahren. Hinweise darauf, dass er aber auch erfahren darin ist, dass in einem Verfahren wie dem vorliegenden, sein mündlich erstattetes Gutachten auf einen Tonträger fixiert wird, so dass ihn diese Vorgehensweise vor dem gesamten bereits dargestellten Hintergrund nicht beeinträchtigen würde, seien aber nicht vorhanden.

Auch eine mögliche Zustimmung des SV zu den Tonaufnahmen könne auch vor dem Hintergrund der Persönlichkeit des SV von der Befürchtung getragen sein, er setze sich bei Verweigerung der Einwilligung dem Verdacht aus, seine Ausführungen seien nicht hieb- und stichfest. Diese Folge sehe der Senat wegen der Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens als naheliegend an und nicht, wie die Antragsteller meinten, als realitätsfern. Die Wahrheitsfindung, die der Sachverständige durch Vermittlung der notwendigen Sachkunde an das Gericht befördern solle, sei somit bei einer Tonaufnahme gefährdet. Bei dieser Sachlage könne es auch dahinstehen, ob sich andere Verfahrensbeteiligte dadurch beeinträchtigt fühlen würden. Ein Bedürfnis der Verteidigung für eine wörtliche Mitschrift, die anhand der Tonaufnahme angefertigt werden soll, sei nicht erkennbar. Götzl fasst kurz die Argumentation der Antragsteller zusammen, dann sagt er, dass die Antragsteller ausgeführt hätten, es komme bei der Bewertung des methodischen Vorgehens des SV Saß auch auf Nuancen an. Götzl: „Dieser Vortrag überzeugt nicht.“

Für eine sachgerechte Vorbereitung der effektiven Ausübung des eigenen Fragerechtes der Antragsteller und die qualitativ hochwertige Information des hinzugezogenen Prof. Dr. Faustmann würden, wie auch sonst während der über 330 Tage dauernden Hauptverhandlung, die Mitschriften, die jeder Prozessbeteiligte und auch das Gericht anfertigten, ausreichen: „Es kommt in diesem Zusammenhang auch bei der geplanten Fertigung eines methodenkritischen Gutachtens auf den Inhalt und nicht auf den exakten Wortlaut der Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Saß an.“ Zudem sei zu berücksichtigen, dass die Verteidigung Zschäpe aus mehreren RAen besteht und diese ihre Mitschriften vergleichen und ggf. ergänzen könnten, was zu einer ausreichend hohen „Richtigkeitsgewähr“ der Mitschrift führe. Dem von der Verteidigung vorgetragenen Interesse an einer exakten Dokumentation des Gutachtens werde dadurch entsprochen, dass der SV vom Vorsitzenden dazu angehalten werde, seine mündlichen Ausführungen langsam und deutlich vorzutragen, so dass den Antragstellern sowie den übrigen Prozessbeteiligten die eigene Protokollierung, wie im gesamten bisherigen Verlauf der Hauptverhandlung, möglich sein werde.

Der Hinweis der Verteidigung, die Tonaufzeichnung sei im Ergebnis nichts anderes als eine stenographische Mitschrift, die aber zulässig sei, verfange nicht, weil in einem Stenogramm lediglich festgehalten werde, was die Schreibkraft subjektiv von den Äußerungen des SV verstanden hat und weil es bei einem Stenogramm nicht zu den möglichen Auswirkungen einer Tonaufnahme auf den SV komme. Unter Berücksichtigung dieser Umstände überwiege dann bei der Abwägung das Interesse an der unbeeinträchtigten Wahrheitsfindung gemäß § 244 Abs. 2 StPO. Auch die gestellten Hilfsanträge hätten nach Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens abgelehnt werden können, denn sie setzten eine Tonaufzeichnung voraus. Eine gerichtliche Anordnung der Mitschrift durch einen „berufsmäßigen Tastschreiber“ oder Stenografen erfolge nicht, weil eine wörtliche Fixierung des Inhalts der Ausführungen des SV, wie oben dargelegt, nicht erforderlich sei.

Gegen die Hinzuziehung eines Tastschreibers oder Stenografen zur Anhörung des SV würden aber weiterhin keine Bedenken bestehen. Von dieser Möglichkeit hätten die Antragsteller in der Vergangenheit auch bereits Gebrauch gemacht. Eine gleichzeitige Feststellung, dass die für die Zuziehung einer derartigen Hilfsperson zu tätigenden Aufwendungen notwendig sind [= Kostenübernahme], sei nicht zu treffen gewesen, weil die Notwendigkeit einer wörtlichen Protokollierung nicht bestehe. Die hohe Qualität der Mitschrift durch die Verteidiger werde dadurch sichergestellt, dass der Angeklagten mehrere RAe zu Seite stehen. Durch die Mehrzahl der Verteidiger sei die Validität der Mitschrift auch dann gewährleistet, wenn einer der Verteidiger den SV befragt und sich deshalb nicht voll auf die Mitschrift konzentrieren kann.

RA Heer: „Angesichts des Umfangs und der Bedeutung des soeben verkündeten Beschlusses würden Frau Kollegin Sturm und ich uns diese Zwischenentscheidung erst einmal anschauen. Wir beantragen daher die Erteilung einer Abschrift und die Unterbrechung der Hauptverhandlung für 30 Minuten ab Erhalt der Kopien.“ Götzl: „Wie lange benötigen Sie für die Ablichtung? Ich denke, wenn wir um 45 fortsetzen, haben wir ausreichend Zeit. Dann wird die Hauptverhandlung bis 10:45 Uhr unterbrochen.“ Um 10:43 Uhr kommt die Durchsage, dass die Verhandlung erst um 11:45 fortgesetzt werden soll. Um 11:47 Uhr folgt die Mitteilung, dass es um 12 Uhr weiter gehen soll. Um 12:07 Uhr geht es dann tatsächlich weiter.

Götzl: „Wer möchte das Wort?“ Heer verliest eine Gegenvorstellung gegen den heute morgen verkündeten Beschluss. Die Gegenvorstellung argumentiert, dass eine umfassende, und damit ordnungsgemäße Ermessensausübung bei dem Beschluss nicht vorliege, wodurch eine Behinderung der Verteidigung eintreten würde. Der Senat verkenne, dass gerade angesichts der Besonderheiten dieses Verfahrens entweder bereits eine Beeinflussung der Unbefangenheit von Auskunftspersonen bestehe oder aber eine solche aufgrund der akustischen Aufzeichnung nicht mehr verstärkt werden könne. Der Senat werfe den Antragstellern vor, es handele sich bei der Annahme, solche Auswirkungen würden bei einem derart erfahrenen SV wie Saß nicht eintreten, sei reine Spekulation. Wenn aber der Senat es als naheliegend ansehe, dass bei einer Tonbandaufnahme die Wahrheitsfindung gefährdet sei, dann sei diese ebenso oder noch mehr eine Spekulation, weil der Senat insoweit keine einzige tatsächliche Erwägung anstelle. Der Senat ziehe nicht ausreichend in Betracht, dass Saß kein Zeuge sei, der ein einmaliges Erlebnis aus der Erinnerung reproduzieren soll, sondern ein SV, der aufgrund einer über viele Jahre hinweg praktizierten Methodik Ausführungen vornehmen soll.

Der Antrag auf Einholung einer dienstlichen Erklärung habe nicht lediglich darauf gezielt, dass Saß angeben sollte, ob er für sich die Gefahr einer Beeinflussung sehe, sondern auch darauf, dass Saß sich als SV mit langjähriger Erfahrung zu dem Thema äußert. Nur dadurch könne rein spekulativen Erwägungen Einhalt geboten werden. Zudem sei der SV anzuhalten, sich dienstlich dazu zu äußern, ob er selbst Erfahrungen mit solchen Aufzeichnungen hat, also ob von ihm in einer Hauptverhandlung erstattete Gutachten bereits aufgezeichnet wurden. Es bestehe aufgrund der jahrzehntelangen Tätigkeit des SV Grund zu der Annahme, dass er auch bereits vor einem Strafsenat des OLG Düsseldorf ein solches Gutachten erstattet hat: „Soweit uns bekannt ist, ist die Aufzeichnung der Hauptverhandlung vor dem OLG Düsseldorf zu senatsinternen Zwecken der Regelfall.“

Der Senat nehme an, so Heer weiter, dass Saß bereits deshalb unter einer besonderen Belastung stehe, weil bereits ein methodenkritisches Gutachten zur Überprüfung seines Gutachtens in Auftrag gegeben worden sei. Dies verfange deshalb nicht, so Heer, weil es dann auf die beantragte Aufzeichnung bzw. Verschriftung nicht mehr ankomme; der Senat hätte hierzu im konkreten Fall zumindest durch eine entsprechende Befragung von Saß ergründen müssen, ob eines seiner früher erstatteten Gutachten bereits Gegenstand eines methodenkritischen Gutachtens war. Denn eine hierbei bestehende Erfahrung würde, so Heer, die potenzielle Gefahr einer Beeinflussung reduzieren. Heer: „Angenommen, schon durch die Erwähnung des methodenkritischen Gutachtens würde eine Belastung für den Sachverständigen eintreten, die die Wahrheitsfindung gefährden würde, wäre im Falle des Zeugenbeweises stets der Beweiswert schon durch das Inaussichtstellen eines Glaubhaftigkeitsgutachtens potenziell gefährdet.“ Der Senat nehme es offenbar als unumstößliche Gesetzmäßigkeit hin, dass durch die Aufzeichnung eine die Wahrheitsfindung gefährdende Beeinflussung stattfindet. Der Umstand, dass der Gesetzgeber eine Aufzeichnung nicht verbietet, verdeutliche aber das Gegenteil. Die „fehlerhafte Ermessensausübung“ des Senats sei auch an weiteren „reinen Spekulationen“ zu erkennen.

Der Senat erwäge, dass auch eine mögliche Zustimmung des SV zu den Tonaufnahmen vor dem Hintergrund der Persönlichkeit des SV von der Befürchtung getragen sein könne, er setze sich bei Verweigerung der Einwilligung dem Verdacht aus, seine Ausführungen seien nicht hieb- und stichfest, ohne auch nur einen diesbezüglichen konkreten Anhaltspunkt zu der Persönlichkeit des SV, von der der Senat auszugehen scheine, zu benennen. Außerdem stelle der Senat auf die Verteidigung Zschäpes durch mehrere RAe ab, lasse aber die ihm anhand zahlreicher Anträge auf Aufhebung der Verteidigerbestellungen und entsprechende Stellungnahmen bekannten Problematiken vollständig außer Acht. Auch müsse sich eine qualitative Bewertung der Mitschriften der Verteidiger dem Senat mangels Kenntnis zwangsläufig entziehen. Eine Vergleichbarkeit der Bedeutung des Gutachtens des SV Saß mit vorangegangenen Beweiserhebungen sei von vornherein verfehlt. Der Senat weise zwar darauf hin, dass bei einem Stenogramm die in dem Beschluss aufgeführten Risiken nicht bestünden, gehe aber nicht näher darauf ein.

Heer: „Er ersetzt dadurch die aufgrund ihrer eigene Expertise als Verteidiger vorgenommene Bewertung der Notwendigkeit einer solchen Aufzeichnung der Antragsteller durch die von ihm aufgestellte Behauptung, dass dies nicht erforderlich sei. Da es für das methodenkritische Gutachten darauf ankommt, was und wie der Senat die gutachterlichen Ausführungen versteht, dient eine wortgetreue Aufzeichnung diesem Zweck am ehesten.“ Abschließend sei, so Heer, anzumerken, dass der Senat verkenne bzw. es jedenfalls nicht berücksichtige, dass bereits seine ablehnende Entscheidung jedenfalls potenziell geeignet sein könne, den SV zu beeinflussen, was ja gerade vermieden werden solle.

Götzl: „Zum Prozedere hinsichtlich Stellungnahmen. Wir werden es natürlich kopieren lassen. Soll sogleich dazu Stellung genommen werden?“ OStA Weingarten: „Herr Vorsitzender, wir sind der Auffassung, dass die tragenden Argumente hinlänglich ausgetauscht worden sind. Wir halten den Beschluss des Senats für richtig und ausgewogen. Die Gegenvorstellung gibt nur zu einer Richtigstellung in einem Punkt Anlass: Am OLG Düsseldorf wurde für justizinterne Zwecke aufgezeichnet. Dort unterscheidet sich der Sachverhalt ganz erheblich insofern, als die Aufzeichnung weder an Verfahrensbeteiligte geht und schon gar nicht an externe Sachverständige.“ Götzl: „Wir werden es kopieren in der Pause, die wir einlegen, auch um die Gegenvorstellung zu beraten. Dann wird die Hauptverhandlung unterbrochen. Wir setzen fort um 13:15 Uhr.“ In der Pause findet sich nun auch Zschäpe-Verteidiger RA Borchert ein. Um 13:17 Uhr wird verkündet, dass die Verhandlung um 14 Uhr fortgesetzt werden soll. Um 14:07 Uhr geht es weiter.

Götzl: „Dann setzen wir fort. Herr Borchert, ich darf Sie begrüßen.“ Dann verkündet Götzl den Beschluss, dass der Antrag, den SV Saß dazu anzuhalten, sich dienstlich darüber zu äußern, ob er Erfahrungen mit solchen Aufzeichnungen hat, abgelehnt wird, und dass es ansonsten bei dem heute morgen verkündeten Beschluss „sein Bewenden“ hat. Der Umstand, ob der SV Erfahrungen mit Aufzeichnungen habe, sei für das vorliegende Verfahren ohne Bedeutung. Es sei nicht sachgerecht, eine dienstliche Erklärung zu Umständen einzuholen, die keine Bedeutung haben. Ansonsten könne der Senat kann keine Gründe erkennen, seinen Beschluss abzuändern. Dazu führt Götzl u.a. aus, es habe eine umfassende Ermessensentscheidung stattgefunden; der Vortrag der Gegenvorstellung, eine mögliche externe Beeinflussung von Auskunftspersonen könnte durch eine Aufzeichnung nicht mehr verstärkt werden, sei nicht nachvollziehbar.

Götzl: „Dann würden wir zu Ihrem Gutachten kommen, Herr Prof. Dr. Saß. Ich würde Sie bitten, dass Sie hier vorne Platz nehmen.“ Saß setzt sich zur Gutachtenerstattung an den Zeugentisch. Götzl belehrt Saß. Dann gibt Saß seine Personalien an: „Dr. med. Henning Saß, 72, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Professor für forensische Psychiatrie, Uniklinikum Aachen, nicht verwandt und nicht verschwägert.“ Götzl: „Nochmal der Hinweis: Ich würde Sie bitten, im Hinblick auf die Mitschriften sehr langsam zu sprechen und es langsam zu erläutern. Gegebenenfalls werde ich nochmal darauf hinweisen, aber dass Sie es von vornherein in Rechnung stellen.“ Götzl sagt, es gehe bei der Gutachtenerstattung letztlich um drei Aspekte: Um die Voraussetzungen aus sachverständiger Sicht hinsichtlich § 66 StGB [Unterbringung in der Sicherungsverwahrung], „Bereich Hang/Gefährlichkeitsprognose“. Dann gehe es um die Frage einer verminderten oder aufgehobenen Steuerungsfähigkeit/Schuldfähigkeit unter dem Aspekt der Alkoholisierung und um die Frage der Voraussetzungen einer möglichen Unterbringung nach § 64 [Unterbringung in einer Entziehungsanstalt]. Götzl: „Den Aufbau überlasse ich Ihnen.“

Saß sagt, er werde ein Gutachten erstatten zu den psychopathologischen Voraussetzungen für die Fragen der Schuldfähigkeit, einer evtl. Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und einer evtl. Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. Er habe zur Vorbereitung einen Schriftsatz eingereicht, datiert auf den 19.10.2016. Allerdings seien inzwischen angesichts der Entwicklung seither erhebliche Erweiterungen und Änderungen erfolgt, etwa hinsichtlich des zwischenzeitlich eingeführten Briefs von Zschäpe an „Robin S.“ [Schmiemann] und hinsichtlich der Ausführungen des Zeugen Gr. [317. Verhandlungstag] sowie des Zeugen Se. [324. Verhandlungstag] sowie der Aussage des Zeugen Br. [333. Verhandlungstag]. Saß: „Die im Senatsbeschluss vom 12.01.2017 genannten Mindestanforderungen der Arbeitsgruppen beim BGH aus den Jahren 2005 und 2006, an deren Entwicklung und Publikation ich mitgewirkt habe, sind im Gutachten berücksichtigt.“ Diese Mindestanforderungen, so Saß weiter, seien Empfehlungen und nicht Leitlinien oder gar Vorschriften.

Dort heiße es, sie seien keine verbindlichen Mindeststandards: „Im Übrigen läuft gerade eine Arbeitsgruppe zur Revision dieser Standards, an der ich beteiligt bin, so dass mir diese Thematik gut geläufig ist.“ Die Mindestanforderungen würden, so Saß, also einen allgemeinen Rahmen für die Gutachtenerstellung beschreiben, der je nach den Bedingungen und Möglichkeiten des Einzelfalles auszugestalten sei. Die Ausführungen der Verteidiger Zschäpes vom 331. und 332. Verhandlungstag zu seiner vorläufigen Stellungnahme gäben ihm die Gelegenheit, einige Verdeutlichungen vorzunehmen, um möglichen Missverständnissen entgegenzuwirken. Hauptaspekte dabei seien die „Explorationsfrage“, zweitens das „Problem der Subjektivität“ und die geäußerte Sorge einer „Psychopathologisierung und Psychiatrisierung“.

Er stütze sich an Material auf die Beobachtungen und Informationen aus der Teilnahme an der „weit überwiegenden Zahl der Hauptverhandlungstage“. Dabei beschränke er sich im Gutachten auf Anknüpfungstatsachen aus der Hauptverhandlung: „Wegen des Austausches, den es hierzu gegeben hat, werde ich mich, was eigene Beobachtungen der Angeklagten angeht, beschränken auf Wahrnehmungen innerhalb der Hauptverhandlung und damit alternativ umgehen, d.h. sie zum einen zugrunde legen und zum anderen außer Acht lassen.“ Saß sagt, er werde, was die im Senatsbeschluss vom 12.01.2017 angesprochenen Beweisverwertungswidersprüche bzw. -verbote angeht, versuchen, dies zu berücksichtigen. Sofern er Verhandlungstermine versäumt habe, an denen für ihn relevante Inhalte behandelt wurden, stütze er sich auf die Unterrichtungen durch den Vorsitzenden und die Ergänzungen durch Verfahrensbeteiligte. Außerdem habe er in elektronischer Form die Akten zur Verfügung gehabt bis hin zu letzten Nachlieferung, die er heute bekommen habe.

Er wolle dann noch sagen, dass auch für den psychiatrischen Gutachter eine Besonderheit dieses Verfahrens in der langen Dauer und in der Fülle der vorhandenen Materialien liege. Daher könne es am Ende ggf. noch Ergänzungen und Korrekturen hinsichtlich dessen geben, was schließlich der Beurteilung zugrundezulegen ist. Außerdem werde er seine Ausführungen am Ende in alternativer Form fassen. Auf die Frage, ob in der vorliegenden Sache ein Gutachten auch erstattet werden kann, wenn keine Möglichkeit zu einer persönlichen Exploration der Angeklagten bestand, wolle er wegen der Einwände der Verteidigung näher eingehen. Von der Angeklagten bzw. ihrer damaligen Verteidigung sei vor Beginn der Hauptverhandlung die Mitwirkung an einer Exploration schriftlich abgelehnt worden. Daran habe sich auch später und nachdem weitere Verteidiger hinzu gekommen seien, nichts geändert. Saß: „Ein psychiatrisches Untersuchungsgespräch mit einem Wechselspiel von gezielten Explorationsfragen und unmittelbar darauf gegebenen Antworten stellt selbstverständlich die beste Basis für eine Begutachtung dar.“

Allerdings komme es im forensischen Kontext immer wieder vor, dass eine Mitwirkung nicht möglich ist, insbesondere wenn es um die Frage einer Sicherungsverwahrung gehe. Insofern sei es nicht ungewöhnlich, dass ein Gutachten auf Grundlage der Informationen aus der Hauptverhandlung erstattet wird. Natürlich müsse sich der Gutachter die Frage stellen, ob diese Informationen ausreichen, um eine Stellungnahme zu den im Gutachtensauftrag formulierten Fragen möglich zu machen. Seines Erachtens, so Saß, sei dies im vorliegenden Fall gegeben. Es liege sogar, gemessen an anderen Gutachtenskonstellationen, sehr viel Material vor, das aus der Hauptverhandlung zu gewinnen gewesen sei. Deshalb erscheine es ihm „tendenziös und irreführend“, von einem „ferndiagnostischen Eindruck“ zu sprechen, wie es in einem Schriftsatz der Verteidigung heiße. Saß: „Darüber hinaus werden dort viele Äußerungen von Experten angeführt, die, wie ich auch, die Exploration für sehr wichtig halten.“ Das ändere aber nichts daran, dass auch diese Autoren in entsprechenden Situationen Gutachten ebenfalls ohne persönliche Exploration erstattet haben. Das gelte auch für die „als Kronzeugen dieser Auffassung“ zitierten Handbuchautoren. [phon.] Saß: „Erinnert sei an die seinerzeitige Begutachtung von Frau Ulrike Meinhof durch Prof. Witter.“

Es sei ihm, so Saß, unter den herausragenden Fachvertretern der Gegenwart keiner bekannt, der grundsätzlich eine Begutachtung ablehnt [phon.], wenn eine Exploration fehlt, weil der Proband die Mitwirkung verweigert hat. Saß: „Ähnlich abwegig erscheint die Ansicht, beim Fehlen einer psychiatrischen Diagnose gehe die Zuständigkeit auf Sachverständige aus Psychologie oder Kriminologie über. In der forensischen Psychiatrie gehören Kenntnisse in Psychologie, Kriminologie, Rechtsmedizin und anderen Disziplinen zur Ausbildung wie zum Praxisfeld.“ Saß nennt die „Zeitschrift für Forensische Psychiatrie, Psychologie und Kriminologie“. Saß: „Auch wenn es, wie hier, um die Einschätzung von Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmalen geht, die weitgehend im gesunden Bereich liegen, so verfügt der Psychiater über einen breiten empirischen Hintergrund zur Beurteilung.“ Dies werde auch in der psychiatrischen Psychotherapie deutlich, bei der es ja nicht nur um pathologische Störungen gehe, sondern um das Erleben und Verhalten von gesunden Menschen in schwierigen, belastenden Lebensumständen oder Konflikten.

Saß zitiert dann aus den Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten: „Es gehört zu einer sorgfältigen forensischen Begutachtung im psychiatrisch/psychotherapeutischen und psychologischen Bereich, dass diagnostisch auch auf die Persönlichkeit und eine eventuelle Persönlichkeitsstörung eingegangen wird.“ Ferner werde dort, so Saß, auch der Begriff der „akzentuierten Persönlichkeit“ verwendet, der bedeute, dass man sich unterhalb der Schwelle der Persönlichkeitsstörung im Sinne der psychiatrischen Diagnostik befindet. [phon.] Saß: „Natürlich besitzen im vorliegenden Fall wegen der fehlenden Mitwirkung an einer Untersuchung die Informationen und Wahrnehmungen aus der Hauptverhandlung eine besondere Bedeutung. Dazu gehören auch die äußeren Aspekte des individuellen Verhaltens und der beobachtbaren Interaktion mit anderen Personen. Von besonderem Interesse ist dabei die Psychomotorik, wobei dieser Begriff das Gesamt der durch psychische Vorgänge geprägten Bewegungen umfasst. Es wird also davon ausgegangen, dass die Psychomotorik das Resultat einer Integration von psychischen und motorischen Funktionen darstellt, weshalb sich psychische Sachverhalte mehr oder weniger auch im Bewegungsspiel widerspiegeln. Im Alltagsverständnis wird dies mit dem Begriff der Körpersprache umschrieben.“

Für den „geschulten Psychiater“ ließen sich, so Saß weiter, aus der Beobachtung von Motorik, Körperhaltung, Mimik und Gestik, also dem so genannten Ausdrucksverhalten, Rückschlüsse „auf die psychische Verfassung, auf die Gestimmtheit und auf die emotional-affektive Reagibilität“ ziehen. Dies fließe in die Beurteilung der Persönlichkeit ein und ergänze sonst vorliegende Informationen etwa aus Biographie mit familiärem, schulischem und beruflichem Werdegang, und aus Zeugenschilderungen von Bezugspersonen und Beobachtern, die die Betroffene in früherer Zeit erlebt haben. Die Beobachtungen des Ausdrucksverhaltens im eben beschriebenen Sinne und die von außen wahrzunehmenden Interaktionen von Zschäpe während des Verfahrens werde er hier zunächst nicht im Einzelnen wiederholen, so Saß: „Sie geben die Eindrücke des Untersuchers und damit verbundene Rückschlüsse auf die psychische Verfassung der Angeklagten wieder.“ Soweit es um die Interaktion mit anderen Personen gehe, stehe diese Einschätzung unter dem Vorbehalt, dass es keinerlei Kenntnis über den Inhalt der Interaktionen gab. Saß: „Von daher ist der subjektive Charakter der Einschätzungen durch den Gutachter zu betonen, die allerdings auf dem empirischen Erfahrungshintergrund jahrzehntelanger Untersuchungen und Beobachtungen im forensischen Bereich beruhen.“

Gerade der Begriff der „subjektiven Einschätzung von Verhaltensbeobachtungen“ habe bei den Verteidigern von Zschäpe Anstoß erregt. Deshalb wolle er darauf näher eingehen. Bei der Beschreibung und Interpretation „seelischer Phänomene“ könne die Subjektivität nicht eliminiert werden: „Zur Erfassung der gesunden wie der abnormen oder gestörten Psyche stehen nur in ganz geringem Umfang messbare Daten im naturwissenschaftlichen Sinne zur Verfügung. Seelisches Leben spielt sich im Subjektiven ab, und dies gilt auch für dessen Beurteilung. Im psychischen Befund und seiner Interpretation entscheidet am Ende, ob das Beschriebene mitsamt seiner Bewertung nachvollziehbar erscheint. Insofern werden bei der Beschreibung und Bewertung seelischer Phänomene in weiten Bereichen keine unumstößlichen Fakten behauptet, sondern es wird ein Verstehenshintergrund vorgestellt, bei dem dann der Empfänger des Gutachtens entscheidet, ob das Vorgetragene einleuchtend und überzeugend ist.“

Wichtig sei vor allem, dass nicht fälschlich der Eindruck objektiv feststehender Tatsachen erweckt wird. Die Verteidiger hätten bei der Erwähnung von Verhaltensweisen Formulierungen wie „wirkt so“, „erweckt den Eindruck von“ oder „augenscheinliches Interesse“ kritisiert. Saß: „Damit sollte von mir gerade ausgedrückt werden, dass es sich um subjektive Bewertungen handelt.“ Es handele sich um eine Differenzierung zwischen Beobachtung und Interpretation und sei ein Gebot der Transparenz. Saß: „Prüfstein für die vorgetragenen Bewertungen bleibt, ob sie im Kontext aller Informationen – und nicht als kurzes herausgerissenes Zitat – Plausibilität aufweisen.“ Dies als methodischen Fehler hinzustellen, gehe an der Realität der Befunderhebung und Befundbeschreibung im psychischen und psychopathologischen Bereich vorbei. Man möge vielleicht bedauern, dass in der Forensischen Psychiatrie experimentelle, naturwissenschaftlich objektivierende Verfahren kaum zur Verfügung stehen, aber es gehe nicht anders [phon.].

Saß: „Unbeschadet dessen unterliegen die Erhebung eines psychischen Befundes, seine Interpretation und die diagnostische Bewertung den Regeln eines wissenschaftlichen Vorgehens. Bei der forensisch-psychiatrischen Begutachtung geht es in methodischer Hinsicht um die erfahrungswissenschaftliche Untersuchung eines Einzelfalls. Diese beruht darauf, dass der Sachverständige über den jeweiligen empirisch gewonnenen Erkenntnisstand des Fachgebietes verfügt und aufgrund dessen in der Lage ist, begründete Aussagen über den Einzelfall zu treffen, indem er die individuell gewonnenen Daten und Informationen in Bezug zum generellen Wissensstand des Fachs setzt.“ Zusätzlich könne man, so Saß weiter, in geeigneten Fällen standardisierte Untersuchungsinstrumente zur Einschätzung von Gefährlichkeit und Rückfallrisiken als mögliche Erkenntnisquellen bei der forensisch-psychiatrischen Beurteilung der Kriminalprognose einsetzen. Saß nennt „Violence Risk Appraisal Guide“ und „Psychopathy Checklist Revised“. Diese Instrumente beruhten allerdings auf statistisch an bestimmten Gruppen gewonnenen Wahrscheinlichkeitsaussagen und erlaubten deshalb nur begrenzt Aussagen über einzelne Individuen; außerdem gebe es bedeutsame Fehlerquellen.

Im Falle von Zschäpe kämen weitere Gesichtspunkte hinzu, die gegen die Verwendung dieser Verfahren sprechen [phon.]. Saß nennt das „Problem der Repräsentativität“. Dabei gehe es um die Frage, ob der individuelle Einzelfall durch die Gesamtpopulation, die der Instrumentenentwicklung zugrunde lag, repräsentiert wird. Die üblichen Prognoseinstrumente stützten sich ganz überwiegend auf Untersuchungen an männlichen Straftätern mit aktiver Gewalt- und/oder Sexualdelinquenz. Diese Studien stammten zumeist aus dem angloamerikanischen Sprach- und Kulturraum, wo es um andere soziokulturelle und kriminologische Situationen [phon.] gehe. Empirische Untersuchungen darüber, ob solche Instrumente auch bei Frauen künftige Delinquenz vorhersagen können, hätten bislang heterogene Ergebnisse erbracht. Insbesondere fehle es bei diesen Verfahren an geeigneten Normwerten für weibliche Personen aus unserem soziokulturellen Umfeld. Saß: „Schließlich, und das ist mir im vorliegenden Fall besonders wichtig, mangelt es an Untersuchungen über die Tauglichkeit standardisierter Untersuchungsinstrumente für den speziellen Problemkreis politisch-ideologisch motivierter Straftaten.“ Daher würden in diesem Gutachten zwar einzelne Gesichtspunkte, die in den genannten Verfahren zur Risikoerfassung dienen, als Anhalt für
die Diskussion und die eigene Beurteilung berücksichtigt, so Saß.

Bevor er weitersprechen kann, sagt RAin Sturm: „Es tut mir leid, dass ich da kurz stören muss. Ich kann nur sagen, es ist mir tatsächlich schlicht unmöglich.“ Götzl: „Herr Prof. Saß soll etwas langsamer sprechen? Okay.“ Sturm: „Und eine Pause machen, da es höchst anstrengend ist.“ Saß: „Darf ich dazu sagen: In ungefähr zwei, drei Minuten ist der methodologische Vorspann zu Ende.“ Dann könne man vielleicht eine Pause machen und er bemühe sich langsam zu sprechen, so Saß.

Saß setzt damit fort, dass er wegen der Besonderheiten des Falles auf den Einsatz von standardisierten Prognoseinstrumenten und eine gewichtete Aufsummierung oder gar Angabe numerischer Rückfallwahrscheinlichkeiten verzichte: „Anstelle dessen werde ich also meine Ausführungen auf ein klinisch-idiographisches Beurteilungskonzept stützen, das die Gegebenheiten des Einzelfalles in den Fokus nimmt und deshalb, soweit ich das sehe, mehr als die statistischen Verfahren den rechtlichen Vorgaben bei uns entspricht.“ Dabei gehe es um eine erklärende Rekonstruktion der biographischen Vorgeschichte, die Beschreibung der Persönlichkeit mit ihren Besonderheiten, Stärken und Schwächen und um die Entwicklung der sozialen Orientierungen. Ferner gehe es um die Rekonstruktion der delinquenten Vorgeschichte, eingebettet in die jeweiligen biographischen Zusammenhänge, um die Entwicklung von Handlungsbereitschaften, Werthaltungen und kriminogenen Bedürfnisse. Schließlich sei, so Saß, auch eine Tatanalyse angestrebt, aber wenn dazu keine Informationen vorliegen würden, sei das schwer. Am Ende sei dann auch die seitherige Entwicklung seit den Taten und das gegenwärtige Persönlichkeitsbild zu berücksichtigen. Ganz ähnlich werde das auch in den Mindestanforderungen für Prognosegutachten formuliert. Saß: „Damit wäre ich zunächst mit den methodischen Vorbemerkungen am Ende.“ Es folgt eine Pause von 14:45 Uhr bis 15:03 Uhr.

Götzl: „Herr Prof. Saß, ich würde Sie bitten, noch etwas langsamer den Vortrag zu gestalten. Ich denke, dass wir jetzt eine halbe Stunde den Vortrag fortsetzen und dann eine weitere Pause einlegen.“ Saß: „Ich war mit den Vorbemerkungen zur Methodik durch. Ich werde aber an zwei Stellen nochmal kurz auf das Methodische zurückkommen wegen der erhobenen Einwände. Jetzt möchte ich auf die gesundheitliche Vorgeschichte eingehen.“ Was die medizinische Anamnese angehe, so hätten sich weder aus den Akten noch aus den Informationen in der Hauptverhandlung mit zahlreichen Zeugen, die Zschäpe früher gekannt haben, irgendwelche Hinweise für wesentliche, in diesem Verfahren relevante Gesundheitsstörungen ergeben. Auch nach eigener Einschätzung habe Zschäpe früher keine erheblichen körperlichen oder psychischen Erkrankungen durchgemacht. Es gebe keine Hinweise darauf, dass Zschäpe je an einer relevanten psychischen Störung gelitten hätte, etwa im Sinne einer schizophrenen bzw. bipolaren Psychose, einer Neigung zu depressiven Verstimmungen oder zu Angst- und Zwangsstörungen [phon.]. Saß: „Dass es gelegentlich unter lebenssituativen Belastungen sowie insbesondere als Reaktion auf den Tod der beiden Lebenspartner und den Verlust der bisher gewohnten Existenz mit den Ereignissen vom 04.11.2011 zu passageren suizidalen Gedanken gekommen sei, erscheint zwanglos einfühlbar und spricht nicht
für eine erhöhte Disposition zu psychischen Erkrankungen.“ Das gleiche gelte für eine Periode mit vermehrten Beschwerden, am ehesten psychovegetativer Art, im Frühjahr 2014, die wohl als Reaktion auf prozessbedingte Belastungen anzusehen seien.

Schließlich solle es keinerlei Drogenkonsum und keinen Missbrauch von Medikamenten gegeben haben. Auch für eine klinisch bedeutsame Störung der Impulskontrolle hätten sich keine belastbaren Anhaltspunkte ergeben. Saß: „Zwar soll es in der zweiten Hälfte der 90er Jahre einige Vorfälle gegeben haben, bei denen es zu Tätlichkeiten bzw. Gewaltanwendung gekommen sei, etwa bei einer Auseinandersetzung in einer Diskothek oder bei dem Vorfall mit der Zeugin H. [132. Verhandlungstag]. Unter Berücksichtigung der verschiedenen Angaben von Zeugen dürfte es sich eher um szenetypische Rohheiten gehandelt haben, zumal seinerzeit körperliche Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppen rechts und links orientierter Jugendlicher häufig vorgekommen seien.“ Ähnliches habe ja auch Wohlleben geschildert. Insofern sei dieses Verhalten von Zschäpe nicht als Ausdruck einer psychischen Störung anzusehen: „Eher wird man darin Hinweise auf Temperament und Energie sehen, wie sie auch in dem noch zu erörternden Brief an Herrn Robin S. [Schmiemann] deutlich werden, einschließlich der dort beschriebenen Wutanfälle.“

Es sei jedoch auf die Frage eines problematischen Alkoholkonsums einzugehen, so Saß: „Dieser wurde allerdings in diesem langen Verfahren erstmals in der Erklärung von Frau Zschäpe am 09.12.2015 thematisiert. Vor Prozessbeginn und bis dahin gab es, wie ich das sehe, weder aus Zeugenschilderungen noch im sonstigen Inhalt des Verfahrens Hinweise auf Alkoholprobleme.“ Auch in der Hauptverhandlung hätten Zeugen aus der Zeit vor dem Untertauchen weder einen kontinuierlichen Alkoholkonsum noch auffällige Zustände von Trunkenheit berichtet. Auch Zeugen zu dem Zeitraum nach dem Untertauchen hätten keine Verdachtsmomente für ein Suchtgeschehen erkennen lassen. Diesbezügliche Angaben der verschiedenen Urlaubsbekanntschaften seien gänzlich unauffällig gewesen, auch Zschäpe selbst habe berichtet, während der Urlaube keinen größeren Konsum betrieben zu haben. Saß: „Hausnachbarn aus den letzten Jahren in der Frühlingsstraße schilderten ein übliches Mittrinken beim geselligen Zusammensein im Keller oder beim Grillen. Zuweilen habe sie, so der Zeuge [Olaf] B. [27. Verhandlungstag], auch mal mehr getrunken, wobei es einmal eineinhalb Flaschen Wein gewesen seien und sie danach betrunken nach oben gegangen sei.“

Aber auch das sei in dieser Umgebung offenbar nicht als auffällig bewertet worden. Zschäpe selbst habe in ihren Erklärungen zum Alkohol ausgeführt, dass sie bis zum Untertauchen 1998 etwa jeden zweiten Tag eine Flasche Wein getrunken habe, danach habe sie das eingestellt; später habe sie nach dem Umzug in die Polenzstraße, also ab etwa 2001, wieder angefangen, Wein und Sekt zu trinken, dies im Durchschnitt jeden zweiten Tag und heimlich, weil die beiden Partner grundsätzlich gegen Alkohol eingestellt gewesen seien. Saß referiert weiter Zschäpes Angaben zu ihrem Alkoholkonsum: Ab Ende 2006 regelmäßig Sekt, über die Jahre gesteigert, zum Schluss zwei bis drei Flaschen über den Tag verteilt; für frühere Jahre habe Zschäpe auch mal drei bis vier Flaschen pro Tag genannt; auch Tage, an denen sie weniger oder gar keinen Alkohol konsumiert habe; bevorzugt habe sie getrunken, wenn die beiden Männer nicht zu Hause gewesen seien, bei deren Anwesenheit nur in ihrem Zimmer und nur so viel, dass es nicht bemerkt worden sei; während der Zeit in der Polenzstraße sei sie regelmäßig etwa zweimal pro Woche angetrunken gewesen, später habe sie in der Frühlingsstraße ihre Trinkgewohnheiten fortgesetzt; allein zu Hause habe sie mehr getrunken, ebenso, wenn sie wieder von Straftaten der beiden erfahren habe; sie habe bei keiner Gelegenheit Entzugserscheinungen gehabt, sei bei Einlieferung in die Haft nicht medikamentös behandelt worden.

Saß: „Soviel zur Alkoholfrage zunächst. Jetzt würde ich auf die Biographie und die frühe Entwicklung eingehen. Ich selber hatte schon in der vorbereitenden Stellungnahme vom März 2013 einen kurzen Abriss der biographischen Entwicklung von Frau Zschäpe gegeben.“ Außerdem stehe dazu etwas in der Anklageschrift und es gebe die Angaben in der Hauptverhandlung. Wobei insbesondere [61. und 62. Verhandlungstag] von Bedeutung gewesen sei und die Eltern von Böhnhardt und Mundlos [: 57. und 58. Verhandlungstag; : 78. Verhandlungstag; Siegfried Mundlos: 69. und 70. Verhandlungstag; : 102. Verhandlungstag]. Außerdem habe Zschäpe selbst in ihrer Erklärung vom 09.12.2015 Angaben zu ihrem Werdegang gemacht. Er wolle solche Aspekte hervorheben, die aus psychopathologischer und entwicklungspsychologischer Sicht von Interesse seien, so Saß.

Saß: „Ich mache hier einen kleinen Einschub, weil im Schriftsatz der Verteidigung die Formulierung ‚aus psychopathologischer und entwicklungspsychologischer Sicht‘ angegriffen wurde, weil es sich dabei um eine ‚Psychopathologisierung und Psychiatrisierung des Normalen‘ handele. Auch wurde – in allerdings etwas unklarer Argumentation – nahegelegt, dass bei fehlender Feststellung einer ‚Psychopathologie‘ das Gebiet der Psychiatrie ende. Hier handelt es sich offenbar um ein grundlegendes Fehlverständnis eines zentralen Begriffes der Psychiatrie. Psychopathologie ist nicht die Bezeichnung für eine Erkrankung oder psychische Störung, so dass eine ‚Psychopathologie‘ auch nicht fehlen kann, wie im Schriftsatz formuliert wird. Psychopathologie stellt vielmehr die Lehre von der Erkennung, Beschreibung und Ordnung abnormer seelischer Phänomene dar. Dies geschieht vor dem Hintergrund der Kenntnis des gesamten Seelenlebens in seinen gesunden wie in seinen gestörten Formen. Es ist Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen, bei der Untersuchung auf Abnormes auch die Überlappungsbereiche in das nicht krankhaft veränderte Seelenleben zu prüfen. Dies geschieht auch unter Berücksichtigung entwicklungspsychologischer Aspekte der normalen wie auch der gestörten Entwicklung der Persönlichkeit.“

Saß geht wieder zurück zum Thema Biographie. Zschäpe habe, so Saß, in ihrer Erklärung vom 09.12.2015 ihren „komplizierten Lebensgang“ nachgezeichnet. Saß gibt kurz die Darstellung Zschäpes zu ihrem Werdegang wieder bis zur Angabe, dass zur Wendezeit 1989/90 die Schwierigkeiten der Mutter größer geworden seien, sie, Beate Zschäpe, habe von ihr keinerlei Geldmittel mehr bekommen und zu dieser Zeit den Respekt vor ihr verloren. Saß: „Eingeflochten in diese Darstellung hat Frau Zschäpe die kleine Bemerkung, dass sie wegen der Geldknappheit damals begonnen habe, sich innerhalb des Freundeskreises an kleineren Diebstählen zu beteiligen. Hier sieht es für den psychiatrischen Beobachter so aus, als zeige sich zum ersten Mal eine gewisse Tendenz von Frau Zschäpe, die Verantwortlichkeit für auftretende Probleme und eigenes Verhalten wie auch Fehlverhalten anderen Personen oder äußeren Umständen zuzuordnen. Im Übrigen gibt es hinsichtlich der Formulierung ‚kleinere Diebstähle‘ offenbar auch eine Tendenz zum Bagatellisieren, also zum Herabspielen der damaligen Handlungen, durch Frau Zschäpe, falls davon auszugehen ist, dass die Schilderungen des Zeugen Rei. [192. Verhandlungstag] im großen und ganzen zutreffend waren.“

Auch die Formulierung in seiner vorbereitenden Stellungnahme, „sieht für den psychiatrischen Beobachter so aus, als zeige sich eine Tendenz zu“, sei von der Verteidigung angegriffen worden. Er habe sie allerdings, so Saß, mit Bedacht gewählt, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es sich beim Externalisieren und Bagatellisieren nicht um objektiv messbare Befunde handelt, sondern um eine Einschätzung durch den Untersucher. Ob die Einschätzung plausibel ist, werde damit ausdrücklich der Beurteilung des Lesers oder Adressaten des Gutachtens überlassen.

Saß geht wieder zurück zur Biographie Zschäpes. Bei allen Belastungen durch das Verhalten der Mutter und ihre unstete Lebensführung habe die Beziehung zur Großmutter Apel offenbar einen deutlich positiveren Aspekt dargestellt. Dies gehe nicht nur aus den Schilderungen von Stefan Apel hervor, sondern auch Zschäpe selbst habe ihre enge emotionale Bindung an die Großmutter deutlich gemacht: habe sich nach den vorliegenden Informationen als Omakind bezeichnet, ihre Liebe zur Oma betont und ihre Sorgen um deren Gesundheit, solle auch gesagt haben, sie wolle sich für das, was alles geschehen sei, bei ihr entschuldigen und habe anklingen lassen, wie viel ein Verlust der Großmutter für sie bedeuten würde. Im Brief an Robin S. [Schmiemann] drücke sich dies in der Äußerung aus, der Tod der Großmutter könnte Anlass dazu sein, doch eine Medikation zu akzeptieren, die ansonsten von ihr strikt abgelehnt worden sei.

Saß weist darauf hin, dass hier die Frage sei, ob diese Information verwertbar ist: „Deswegen sage ich: Wenn der Brief verwertet werden kann, unterstützt er das, was ich zur Großmutter gesagt habe, wenn man den Brief weglässt, wird das nicht fraglich. Er ergänzt also. Ein ähnliches Gewicht hat für Frau Zschäpe nach ihrer Darstellung nur die Beziehung zu den beiden Uwes besessen, die sie als ihre Familie bezeichnete und deren möglicher Verlust für sie in der Zeit des Untertauchens ebenfalls mit großen Befürchtungen verbunden gewesen sei. Sie hat ja in diesem Zusammenhang den Begriff ‚emotionales Dilemma‘ gebraucht. Dagegen scheint die Beziehung zur Mutter weitgehend durch Enttäuschung, Ablehnung und Desinteresse gekennzeichnet zu sein, wobei es wohl zumindest in der Vergangenheit auch Züge einer gewissen Rigorosität und Unversöhnlichkeit gegeben hat. Die genannten Bedingungen des Aufwachsens dürften für die Entwicklung von Selbstbewusstsein und Ich-Identität zweifellos eine gewisse Belastung bedeutet haben. Ähnliches wird auch in der Aussage der Mutter Böhnhardt deutlich, wonach die Freundin ihres Sohnes nie über ihren Vater habe sprechen wollen und auch in Bezug auf die Mutter Sorgen wegen ihrer finanziellen Rückstände und des drohenden Verlustes ihrer Wohnung gehabt habe. Beate Zschäpe habe sich dessen geschämt und nicht gern darüber geredet, auch habe sie zur Großmutter nicht gewollt, weil diese Sorgen um den kranken Großvater gehabt habe. Auf Bitten des Sohnes habe sie dann für eine Zeit lang bei Familie Böhnhardt einziehen dürfen. Also durchaus eine schwierige Lebenssituation damals.

Zu den weiteren wunden Punkten in der eigenen Herkunftsfamilie gehörte wohl auch, dass es wegen der Alkoholprobleme bei ihrem Cousin Stefan Apel sowie bei ihrer Mutter durchaus Kritik aus ihrem Freundeskreis gegeben habe. So soll laut Herrn Apel Uwe Mundlos ihn als ‚Assi‘ beleidigt haben. Und auch der Zeuge St. [zuletzt 225. Verhandlungstag]berichtete von Schwierigkeiten zwischen Beate Zschäpe und den beiden Uwes in Zusammenhang mit ihrer Familie. Böhnhardt und Mundlos hätten diese ebenfalls als ‚Assis‘ bezeichnet, worüber Frau Zschäpe traurig gewesen sei. Ferner soll es laut den Angaben des Zeugen Ha. [zuletzt 214. Verhandlungstag]negative Äußerungen von Uwe Böhnhardt. über so genannte ‚Mischkinder‘ mit jugoslawischen oder bulgarischen Elternteilen gegeben haben, was für Beate Zschäpe mit ihrem rumänischen Vater vermutlich nicht einfach war.“

Dann gibt Saß kurz den schulischen Werdegang Zschäpes wieder, wie er aus ihren Zeugnissen bekannt ist. Ein Abschlusszeugnis vom Juni 1991 enthalte befriedigende Noten in Deutsch und Literatur, Technik und Kunst, während die anderen Fächer mit „genügend“ bewertet worden seien und lediglich in Sport die Note „gut“ erreicht worden sei. Saß: „Insgesamt lässt sich daraus wie aus den sonstigen Informationen die Einschätzung ableiten, dass die Intelligenz der Probandin wohl im Durchschnittsbereich liegt. Hierauf deuten auch die befriedigenden Noten bei der Abschlussprüfung in der Schule sowie später in der Gärtnerinnenausbildung hin.“ Der abgebrochene berufliche Werdegang Zschäpes zur damaligen Zeit könne, so Saß weiter, als ein Indiz für Unsicherheit, Identitätsprobleme und Fehlen langfristiger Ziele angesehen werden. Es müsse allerdings berücksichtigt werden, dass viele junge Leute in Zschäpes damaligen Umfeld unter den Bedingungen der Wendezeit und der damit verbundenen Umbrüche sich in einer ähnlichen Lage befunden haben.

Saß gibt die Aussage Brigitte Böhnhardts wieder, dass Zschäpe traurig gewesen sei, weil es mit dem Wunsch, Kindergärtnerin zu werden, nicht geklappt habe, dass Zschäpe die Lehre als Gärtnerin mit einer gewissen Zufriedenheit absolviert und erfolgreich abgeschlossen habe, dass Zschäpe aber anschließend leider keine Arbeit gefunden habe und sich evtl. später als Floristin habe weiterbilden wollen. Es habe sich aber, so Saß, abgesehen von ABM-Zeiten, offenbar keine geregelte Arbeitstätigkeit Zschäpes mehr angeschlossen. Saß: „In ihrer Selbstdarstellung hat Frau Zschäpe sich ähnlich geäußert, wobei allerdings aus psychiatrischer Sicht auffällt, dass ihre Schilderung recht nüchtern, sachlich, emotionsarm und unpersönlich wirkt. Über Ziele, Wünsche, Hoffnungen und Träume, über tiefergehende Gemütsbewegungen, langfristige Ziele und Wertvorstellungen war weder aus ihren eigenen Erklärungen noch, wenn man versucht hat Zeugen dazu zu befragen, etwas zu erfahren. Die wenigen Anhaltspunkte, etwa was in den persönlichen Erklärungen von Frau Zschäpe gesagt wurde, ergeben ein eher karges, intellektuell anspruchsloses Bild von Bildung und Ausbildung, vom geistigen Leben, den Interessen und Freizeitbeschäftigungen. Dies trifft offenbar auch zu bei dem, was bekannt geworden ist – das ist ja nicht viel – über die spätere Phase des Lebens im Untergrund. Insgesamt aber sind die genannten Umstände m.E. nicht als Hinweis auf gravierende soziale Belastungen und Defizite oder gar eine psychische Gestörtheit zu werten. Es dürften damals viele junge Leute dort sich in einer ähnlichen sozialen Situation befunden haben. Auch Frau Böhnhardt hat keine psychischen Auffälligkeiten berichtet, sondern nannte Beate Zschäpe, die sie als Freundin ihres Sohnes geschätzt habe, trotz der familiären Probleme eine normale, selbstständige junge Frau mit gesundem Selbstbewusstsein.“

Zu den Sozialkontakten Zschäpes habe, so Saß, Stefan Apel angegeben, er und Beate seien in der Kindheit wie Geschwister gewesen, habe von gelegentlichen Familienurlauben gesprochen, sie sei zwar immer bei der Großmutter gewesen, habe aber auch den Kontakt zu ihnen [phon.] gesucht: „Später sei sie, so hat er sich ausgedrückt, eine hübsche Frau gewesen, ‚gut bestückt‘ und beliebt in der ganzen Szene.“ Apel habe Zschäpe als gesellig geschildert, sie sei gern weggegangen und immer lustig gewesen, habe viel gelacht, sei auch auf die Leute zugegangen und sei ein offener und selbstbewusster Mensch gewesen. Gern sei Zschäpe laut Apel auf Partys gegangen, zum Beispiel im Jugendtreff ‚‘, an Dingen wie Kochen und Backen sei sie weniger interessiert gewesen, sie habe stets mehr Männerfreundschaften gehabt und sei im Umgang robuster gewesen als normale Frauen. Hiermit korrespondiere, so Saß, die spätere Angabe von Zschäpe gegenüber der Zeugin Mo. [60. Verhandlungstag], dass sie schon immer besser mit Männern als mit Frauen ausgekommen sei.

Mit deutlich negativeren Zügen sei Zschäpe vom Zeugen Ha. geschildert worden, der allerdings keinen Hehl daraus gemacht habe, dass man sich gegenseitig nicht gemocht habe. Ha. habe Zschäpe auf der einen Seite als freundlich und selbstbewusst im direkten Kontakt bezeichnet, sie sei ein anerkanntes Mitglied der Gruppe gewesen, dabei auch lustig und amüsant. Auf der anderen Seite habe Ha. sie auch als „ordinär“ charakterisiert, womit gemeint sei, sie sei laut und gewöhnlich gewesen, habe Kraftausdrücke gebraucht. Weiter habe Ha. sie als nicht dumm, nicht gutgläubig und als ein vernunftbegabtes Wesen beschrieben. Ha. habe auch davon gesprochen, dass sie einen unterschwellig aggressiven Eindruck gemacht habe. Auch der Zeuge Rei. habe recht kritische Angaben gemacht und offenbar die Beziehung von Mundlos mit Zschäpe sehr skeptisch beurteilt. Rei. habe sich negativ zum Bildungsstand Zschäpes, dem sprachlichen Ausdruck und dem in seinen Worten „vulgären Auftreten“ geäußert und gemeint, es sei ihm unklar, wie Mundlos es später mit ihr gemeinsam im Untergrund habe aushalten können. Rei. habe Zschäpe als sehr selbstbewusst in der Gruppe beschrieben, sie habe nicht den Eindruck gemacht, dass sie sich etwas gefallen lasse, habe sich schon ordentlich durchgesetzt.

Außerdem habe dieser Zeuge berichtet, dass Herr Ri., der damalige Freund Zschäpes, und Zschäpe selbst damals „extrem geklaut“ hätten, u.a. Dinge, die sie gar nicht gebraucht hätten, etwa „Klamotten von den Vietnamesen“. Die Rede sei auch gewesen von Kellereinbrüchen mit Diebstahl von Alkohol, um damit Partys zu veranstalten. Saß: „Die Art, wie Herr Rei. etwa die gemeinsam von Beate Zschäpe und ihrem Freund Ri. begangenen Einbrüche oder Zigarettendiebstähle bei Vietnamesen schildert, deutet, wenn von Zutreffen auszugehen ist, auf beginnende dissoziale Tendenzen bei der Heranwachsenden zur damaligen Zeit.“ [zuletzt 301. Verhandlungstag]habe Zschäpe als relativ heiter beschrieben, in seinen Augen nicht besonders intelligent, aber mit einer gewissen „Bauernschläue“. Saß: „Auf diesen Begriff soll Frau Zschäpe übrigens, als er später von einer Beamtin in der JVA Köln verwandt worden sei, laut Angaben des Zeugen [Rainer] B. [18. Verhandlungstag] erbost und verärgert reagiert haben.“ Der Zeuge Christian Kapke habe angegeben, der ideologische Kopf sei damals Mundlos gewesen, Zschäpe habe er wahrgenommen als eine selbstbewusste Frau, aber in ideologischer Hinsicht eine Mitläuferin. Saß weiter zur Aussage von Christian Kapke: „Das Trio sei rechtsradikal, nationalistisch und antisemitisch gewesen mit einer Verherrlichung des ‚Dritten Reiches‘, der Waffen-SS und der SA.“

Götzl: „Wenn Sie an einem Einschnitt angelangt sind, dann machen wir vielleicht eine Pause. Bezüglich der erwähnten Aussage des Zeugen B. wurde ein Widerspruch erhoben.“ Saß: „Ja, wobei ich dann gleich dazu sage, dass das erboste Reagieren auf den Begriff ‚Bauernschläue‘ kein zentrales Thema ist. Das Übrige wird dadurch nicht erschüttert.“

Saß setzt fort, dass André Kapke [zuletzt 96. Verhandlungstag]angegeben habe, Zschäpe als netten Menschen kennengelernt und geschätzt zu haben, Politik sei damals auch bei ihr ein tragendes Thema gewesen. Zu den Hauptthemen habe Zschäpe laut Kapke ihre Meinung gehabt, habe diese kundtun und gut artikulieren können, welchen Standpunkt sie habe. Saß: „Als wesentliche Grundstimmung unter den Jugendlichen damals schilderte er, man sei gegen die Ausländer gewesen und nicht einverstanden mit deren Zuzug. Frau J. [zuletzt 107. Verhandlungstag]beschrieb ein exklusives Verhältnis unter den drei Personen; sie seien damals als ‚die Drei‘ bezeichnet worden, man habe sie als verschworene Gemeinschaft wahrgenommen. Aus Sicht dieser Zeugin war Frau Zschäpe in Kontakt und Verhalten aufgeschlossen, eine sehr selbstbewusste Person, freundlich und auch witzig, mit imponierendem Selbstvertrauen. Sie sei auch an politischen Aktionen interessiert gewesen, es sei ihr nicht nur um Musik und Spaß gegangen. Sie habe ein Selbstverständnis gehabt, wie man es sich als junges Mädchen wünschte, habe Dinge klären, selbstverständlich auf Leute zugehen und sich ausdrücken können, sagen, was sie gewollt habe, mit einer aufrechten Art. Was Partnerschaften angeht, scheint Frau Zschäpe nach den Aussagen ihres Cousins, aber auch mehrerer anderer Zeugen …“

Heer beschwert sich ohne Mikrofonverstärkung, dass eine Pause vonnöten sei. Saß: „Soll ich das noch vortragen?“ Götzl sagt, man mache noch den Teil zu den Partnerschaften. Saß sagt, dass dieser Teil fünf Minuten dauere. Heer beschwert sich erneut. Götzl erwidert, das bekomme Heer schon noch hin und dann mache man um 15:45 Uhr eine Pause.

Saß: „In Bezug auf Partnerschaften scheint Frau Zschäpe nach den Aussagen ihres Cousins, aber auch mehrerer anderer Zeugen eine recht kontaktfreudige junge Frau gewesen zu sein.“ Im Brief an „S.“ [Schmiemann] finde sich dazu ihr eigener Hinweis, sie sei eine Frau mit unrühmlichen Erfahrungswerten. Saß: „Wenn der Brief nicht verwertet werden dürfte, ist er in dieser Beziehung auch nur eine Ergänzung gewesen.“ Saß setzt fort, dass über den ersten Freund, Matthias Ri., der Cousin geäußert habe, dieser sei eine Jugendliebe von Zschäpe gewesen, danach habe es dann die Beziehung zu Mundlos und Böhnhardt gegeben, wobei der Cousin vermutet habe, wahrscheinlich habe ihre Art die Männer zusammengehalten, sie habe die Jungen „im Griff“ gehabt: „Auch dies würde, wenn die Beobachtung zutraf, für Stärke und Selbstbewusstsein der jungen Frau im Kontakt nach außen und gegenüber männlichen Partnern sprechen.“ Saß sagt, aus den Schilderungen der Zeugen Rei., Ha. und Starke [101. Verhandlungstag] und den eigenen Erklärungen Zschäpes ließen sich vier Beziehungen rekonstruieren, wobei allerdings die Beziehung zu Ri., mit dem es zu vielfältigen Eigentums- und ansatzweise wohl auch Raubdelikten gekommen sein solle, von Zschäpe selbst nicht erwähnt worden sei, soweit er das sehe.

Saß: „Von April 1996 bis April 1997 habe es, was von Frau Zschäpe ebenfalls nicht thematisiert wurde, eine Beziehung zu Herrn Starke in Chemnitz gegeben. Wobei in dieser Zeit die freundschaftlichen Beziehungen zu Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt angedauert hätten, auch hätten diese sie sogar zuweilen bei ihren Besuchen bei Herrn Starke begleitet. Er schätzte das so ein, dass Frau Zschäpe nur die beiden Uwes im Kopf gehabt, die ihrerseits nicht eifersüchtig gewesen seien. Er bezeichnete sie als ‚rechts‘, aber kein szenetypisches Mädchen und nach seiner Einschätzung nicht gewalttätig. Gern habe sie politische Gespräche geführt.“ Etwa zur Wendezeit 1989/90, so Saß weiter, habe Zschäpe nach ihrer Darstellung Uwe Mundlos kennengelernt und sei mit ihm in die Wohnung gezogen, in der sie damals zusammen mit ihrer Mutter gelebt habe, wenn er, Saß, das richtig übersehe. Ilona Mundlos habe Zschäpe als kumpelhaft und hilfsbereit geschildert, aber auch als egoistisch; der Sohn habe sie vergöttert, etwa 1995, während der Bundeswehrzeit von Uwe Mundlos, sei die Beziehung zu Ende gegangen.

Saß: „Interessanterweise hat Frau Zschäpe in ihrer Erklärung betont, dass Uwe Mundlos aus einem guten Elternhaus gestammt und eine Lehre als Informatiker bzw. Datenverarbeitungskaufmann abgeschlossen hat. Dies korrespondiert mit einer Bemerkung, die sie gegenüber dem Kriminalbeamten P. [zuletzt 142. Verhandlungstag]am Abend ihrer Festnahme bei der Kripo in Zwickau gemacht haben soll, dass nämlich die beiden Uwes im Gegensatz zu ihr ein behütetes Elternhaus gehabt hätten und ihr unklar sei, warum die beiden sich so entwickelt hätten.“ Götzl sagt, dass es zu den Angaben von P. einen Verwertungswiderspruch gebe.

Saß: „Ja, ich sagte ja: ‚korrespondiert mit‘. [phon.] Hier klingen noch einmal ähnliche Themen sozialen Ansehens und eigener Defizite an, wie es Frau Böhnhardt berichtet hat, wenn sie von Schamgefühlen bezüglich der Familie gesprochen hat oder wenn Herr Apel und Herr St. von Herabsetzungen ihrer Familie berichteten, wie ausgeführt, als ‚Assis‘ oder bei den Bemerkungen über ‚Mischkinder‘.“ Im Übrigen werde, so Saß, in der Erklärung Zschäpes vom 09.12.2015 die Beziehung zu Uwe Mundlos seines Erachtens „recht kühl und unpersönlich abgehandelt“. Saß weiter: „Auch ihr Verhältnis zu Uwe Böhnhardt, das sie an einigen Stellen als Liebe bezeichnet hat, wurde von ihr ansonsten nicht in tieferer, differenzierter oder gefühlsbezogener Weise geschildert. Sie sprach von ‚blinder Liebe‘, ein Ausdruck, der mir recht floskelhaft und pauschal erscheint. Zumal es ja so ist nach allgemeiner Lebenserfahrung, dass ‚blinde Liebe‘ in der Regel nicht über Jahrzehnte besteht, kann sicherlich nicht ganze Jahrzehnte betreffen [phon.]. Man muss auch sagen, dass dieser Ausdruck, ‚blinde Liebe‘, in einem gewissen Gegensatz zu Schilderungen von Zeugen aus den Urlauben steht.“ Nur einmal sei dort von einem engeren Verhältnis zu ‚Gerry‘ gesprochen worden, so Saß.

Insgesamt bleibe aus seiner Sicht hinsichtlich der Intensität und Kontinuität der Beziehung zwischen Zschäpe und Böhnhardt über die Jahre vieles offen: „Kennengelernt hat sie ihn nach ihren Angaben am 02.01.1994, ihrem 19. Geburtstag.“ Ansonsten würden die Schilderungen Böhnhardts durch Zschäpe recht ambivalent erscheinen: „Wobei sie zum einen ihre feste Bindung an ihn betont, andererseits charakterisierte sie ihn aber auch als aggressiv, jähzornig und zu Tätlichkeiten neigend. Sein Freundeskreis habe eine intensivere nationalistische Einstellung gehabt, so ihre Diktion, auch seien dort die politischen Aktivitäten intensiver gewesen. Bemerkenswert erscheinen mir die Ausführungen von Frau Zschäpe in der Erklärung vom Dezember 2015 über ihre Absicht bei der Anmietung der Garage an der Kläranlage in Jena im August 1996. Dies sei, als Uwe Böhnhardt sich damals wegen ihres ‚Klammerns‘ getrennt habe, ein Versuch gewesen, um den verlorenen Kontakt zu den beiden Uwes und insbesondere zu Uwe Böhnhardt wieder herzustellen. Ein solches Verhalten könnte für ihre starke Bindung an Uwe Böhnhardt sprechen. Möglich erscheint aber auch, dass es sich um eine Kaschierung anderer Beweggründe durch die Konstruktion einer mehr oder weniger plausiblen Version gehandelt hat.“ Götzl: „Unterbrechen wir und setzen um 16:05 Uhr fort.“

Um 16:08 Uhr geht es weiter. Götzl: „Ich würde Sie nochmal bitten, noch etwas langsamer den Vortrag zu gestalten.“ Saß: „Jawoll“ Götzl: „Ich denke, wir werden heute nicht länger als 17 Uhr machen, vielleicht, wo Sie einen Einschnitt machen können, und dass wir dann morgen fortsetzen.“ Saß: „Vielleicht, wenn ich zur Beurteilung übergehe. Ich würde jetzt auf die politisch-ideologische Entwicklung von Frau Zschäpe eingehen und da ist zu sagen, dass offenbar die Beziehungen zu Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt mit ihren jeweiligen Freundeskreisen die entscheidende Bedeutung besaßen. Damit war der Kontakt zu einer Szene verbunden, deren vorherrschende Haltungen und Überzeugungen von der Angeklagten mit dem Ausdruck 'nationalistisches Gedankengut‘ wohl etwas euphemistisch umschrieben worden ist. Da kann man einwenden, das sei subjektiv. Das ist richtig. Deswegen nenne ich die Gesichtspunkte, worauf das beruht.“ Saß sagt, es gebe dazu Darstellungen anderer Zeugen, Berichte, Vermerke, Urteilsfeststellungen und Abbildungen. Saß: „So dass es insgesamt doch in meinen Augen deutlich rechtsradikal ausgerichtete Kreise gewesen sind, in denen es nicht nur um Musikkonzerte und Demonstrationen ging, sondern auch um politische Agitation, militante Auseinandersetzungen und ideologisch motivierte Aktionen.“

Saß weist auf die „in der Hauptverhandlung reichhaltig thematisierten Vorgänge“ hin: z.B. , Bombenattrappen, Rudolf-Heß-Märsche, ausfälliges Benehmen beim Besuch im Konzentrationslager Buchenwald, Propagandaschriften, nationalsozialistische Symbole, das Mitführen von Schlag- und Stichwaffen und anderen Waffen. Saß: „Frau Zschäpe hat für die damalige Zeit in wohl erneut etwas verharmlosender Weise erklärt, man habe ein ‚Katz-und-Maus-Spiel‘ mit der Polizei und dem Verfassungsschutz betrieben, um die Öffentlichkeit in Aufruhr zu versetzen. Auch habe man Aufmerksamkeit dafür herstellen wollen, dass es einen politischen Gegenpol zu den Linken gibt. Wenn es dann in diesen Kreisen zu einer zunehmenden Handlungsbereitschaft und zum Aufbau potenter Organisationen kam, so hat Frau Zschäpe dies ganz wesentlich mit dem Einfluss von Tino Brandt ab Mitte der 90er Jahre begründet. Nach ihr ist die erst aktiv geworden, nachdem Tino Brandt zur Gruppe gestoßen ist, ihr Zusammenleben habe sich grundlegend geändert, er sei der Mittelpunkt aller Aktionen gewesen, habe Geld zur Verfügung gestellt, organisiert, Initiativen ergriffen und Propagandamaterial mit nationalistischem Inhalt beschafft. Wenn Frau Zschäpe formuliert, man könne sagen, ohne Tino Brandt wären diese ganzen Unternehmungen nicht möglich gewesen, so sieht das für mich wieder so aus, als finde sich hier eine Tendenz, auf eine Außenverursachung hinzuweisen.“

Persönliche Anteile an den potenziell gefährlicheren Aktionen, die nach und nach geplant und durchgeführt wurden, habe Zschäpe weitgehend im Dunklen gelassen, sie habe lediglich eingeräumt, im Dezember 1996 verschiedene von Böhnhardt mit Schwarzpulver versehene [phon.], jedoch nicht zündfähige Briefe an einige Adressaten in Jena geschickt zu haben; bei anderen von Mundlos und Böhnhardt initiierten Aktionen zwischen April 1996 und Dezember 1997 habe sie angegeben, zwar teilweise beteiligt gewesen zu sein, aber man habe dabei lediglich die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erhöhen wollen, ohne dass eine tatsächliche Gefahr für Leib und Leben gegeben haben solle. Beim Puppentorso, der auf eine Idee von Böhnhardt und Mundlos zurückgegangen sei, habe sie sich zwar an der Herstellung der Puppe beteiligt, nicht jedoch der Bombenattrappe. Saß: „Insgesamt klangen m.E. auch bei diesen Angaben von Frau Zschäpe Neigungen zur Verharmlosung und zur Verlegung der Verantwortlichkeit nach außen an. Im Einzelnen ist hierzu hinzuweisen etwa auf die Darstellung der frühen Diebstähle und der verschiedenen Aktionen ab Mitte der 90er Jahre, auf die Waffen in der Wohnung, die auf Böhnhardt zurückgegangen seien, auf das Anmieten der Garage und das Wissen um deren Inhalte und auf die Rolle Tino Brandts.“

Saß sagt dann, er werde im nächsten Abschnitt eingehen auf die Entwicklung von Zschäpe während der Zeit im Untergrund. Informationen aus dieser Zeit seien naturgemäß deutlich spärlicher, so Saß. Als Beweggründe zum Untertauchen seien von Zschäpe in ihrer Erklärung vom 09.12.2015 Ängste vor einer mehrjährigen Gefängnisstrafe benannt worden, was bei Böhnhardt mit seinen traumatisierenden Erfahrungen bei einer früheren Haft und bei ihr selbst darin begründet gewesen sei, dass sie in der Vergangenheit nur negative Erfahrungen mit der Polizei gemacht habe. Im Übrigen sei sie der Aufforderung Böhnhardts, die Garage „abzufackeln“, nach ihrer Angabe nicht nachgekommen, weil sie in der Nähe befindliche Personen nicht habe gefährden wollen.

Saß sagt, es gebe an Zeugen zu diesem Thema 1. die Gruppe der Personen, die freundschaftlich, kameradschaftlich oder durch Szenezugehörigkeit mit den drei Untergetauchten verbunden und mehr oder weniger auch zu Unterstützungshandlungen bereit gewesen seien. Wobei es hier im Gutachten nicht um solche Aspekte gehen solle, die sich mit möglichen Tatkomplexen und strafrechtlichen Vorwürfen befassen, sondern es gehe ihm um Informationen, die zur Einschätzung von Persönlichkeit, Befinden und Verhalten von Zschäpe sowie des Zusammenlebens in der Gruppe der Drei beitragen können: „Allerdings muss man sagen, dass bei der Mehrzahl der so genannten Szenezeugen, die möglicherweise über Kontakte in dieser Zeit hätten reden können, das Auskunftsverhalten ungemein zurückhaltend war. Zum Verhältnis der drei untergetauchten Personen untereinander hieß es in den in die Hauptverhandlung eingebrachten Vernehmungen des Herrn Gerlach, dass die beiden Uwes oben gewesen seien und gleichberechtigt, wobei er allerdings Frau Zschäpe ebenfalls als gleichberechtigt bezeichnete, ferner als durchsetzungsstark, kein Typ, der sich unterordnen würde. Sie habe genauso viel zu sagen gehabt wie jeder andere in der Gruppe.

Auch schilderte er eine Episode, bei der Frau Zschäpe im Bus eine Punkerin, die ‚blöd geguckt‘ habe, geschlagen haben soll. Sie habe sich den beiden Uwes gegenüber wie eine Ehefrau benommen, nur für zwei Männer eben. Nach seinem Eindruck handelte es sich um ein sehr harmonisches Verhältnis, obwohl aus der Anfangszeit in Chemnitz auch eine Episode mit Spannungen zwischen den Männern berichtet wurde, die so groß gewesen seien, dass Herr Mundlos schon zu einem Messer gegriffen habe und sie aufeinander hätten losgehen wollen. Daraufhin sei Herr Mundlos vorübergehend in eine eigene Wohnung gezogen, doch hätten sie aufgrund der Fluchtsituation beschlossen, wieder zusammenzuleben. Dieser Vorfall mit dem Messer, der geschildert wurde, bietet einen der ganz wenigen Anhaltspunkte dafür, dass es bei den drei Personen in der Zeit des Lebens im Untergrund auch mal Streit und Auseinandersetzungen gegeben hat.

Ansonsten haben eigentlich alle Zeugen, soweit ich das sehe, Harmonie, Freundlichkeit und kameradschaftlichem Umgang geschildert. Allerdings hat es im Unterschied dazu auch Ausführungen von Frau Zschäpe gegeben, dass es etwa zwischen Frühjahr 1998 und Sommer 2001 wiederholt zu Tätlichkeiten durch Uwe Böhnhardt gekommen sei, der sie geschlagen habe, wenn ihm bei einer verbalen Auseinandersetzung die Argumente ausgegangen seien. Konkret benannt wurden Streitigkeiten wegen des Herumliegens einer Pistole, wegen des gewünschten Internetzuganges sowie wegen der Überlassung von 10.000 DM an Herrn Gerlach, was sie wegen dessen damaliger Spielsucht missbilligt habe. Später hat Frau Zschäpe auf Fragen des Senates schriftlich ausgeführt, dass bei zwei der Handgreiflichkeiten Uwe Mundlos dabei gewesen und auf Uwe Böhnhardt losgegangen sei, um sie zu verteidigen, was zu einer heftigen Prügelei der beiden Männer geführt habe. Sie hat es aber vermieden, näher darauf einzugehen. Über Tätlichkeiten, die in Zusammenhang mit den verfahrensgegenständlichen Ereignissen stehen, berichtete Frau Zschäpe nicht. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die Angabe des Kriminalbeamten P., wonach sie bei ihrer Verhaftung am Abend des 08.11.2011 in Hinblick auf die beiden Uwes erklärt haben soll, dass sie zu nichts gezwungen worden sei. Ich habe das lediglich erwähnt und sage, dass das nicht zentral für meine Beurteilung ist, ggf. kann man später noch alternativ darauf eingehen.“

Es gebe dann noch die Zeugin [zuletzt 105. Verhandlungstag], so Saß, die seinerzeit Freundin des Unterschlupf gewährenden Bu. gewesen sei im Frühjahr 1998 in Chemnitz. Struck habe berichtet, dass „das Mädchen“, das dabei gewesen sei, also wohl Zschäpe, sehr sympathisch gewesen sei, mit sehr lockerer Art, auf einen zuzugehen, sehr freundlich und sehr aufgeschlossen. Im Grunde habe Struck keine Auffälligkeiten geschildert. Es habe die Episode gegeben, als Zschäpe Bauchkrämpfe gehabt habe und von ihr mit einer AOK-Karte versorgt worden sei, das sei hier aber nicht wichtig, denke er, so Saß. Saß weiter: „Einen intensiveren zwischenmenschlichen Kontakt hat Frau Zschäpe offenbar vermieden, vielmehr habe sie sich auf den Versuch der Zeugin, mit ihr über eine Beziehungskrise mit Max Bu. zu reden, nicht einlassen wollen.“

Saß nennt dann den 2. Bereich von Informationen über die Dreiergruppe: die Urlaubsbekanntschaften bei den Campingreisen nach Norddeutschland 2007 bis 2011. Saß: „Die Zeugenaussagen liefen darauf hinaus, dass die drei Personen bei den jeweils mehrwöchigen Urlauben sehr nett, freundlich und harmonisch miteinander umgegangen seien. Gegenüber den jeweiligen Nachbarn auf den Campingplätzen verhielten sie sich offenbar kontaktfreudig, hilfsbereit, gesellig, unterhaltsam und insgesamt ohne irgendwelche Auffälligkeiten. Auch hinsichtlich des Konsums von psychotropen Drogen oder Alkohol wurden keine Besonderheiten geschildert. Die drei Personen erschienen als ein Team, bei dem keinerlei größere Streitigkeiten erkennbar gewesen seien, abgesehen vielleicht von kleinen Plänkeleien, etwa ob man noch mehr Surfausrüstung anschaffen soll. Darüber hinaus wurde für das Jahr 2010 angegeben, dass Liese und Gerry, also wohl Frau Zschäpe und Uwe Böhnhardt, etwas enger zusammen gewesen seien und sich vielleicht etwas genervt durch Max, also wohl Uwe Mundlos, gefühlt hätten. Aber bis auf dieses überwogen die Schilderungen eines spannungsfreien, heiteren, animierten Urlaubslebens.

Über ihre Existenz außerhalb der Urlaubszeit ließen die drei Personen offenbar wenig verlauten, ebenso wie ernsthafte Gespräche über Wünsche und Ziele oder auch über politische Fragen nicht vorgekommen seien. Lediglich mit zwei jüngeren Mädchen aus den Familien der Campingplatzmitbewohner sei es zu engerem, vertrauensvollerem Austausch mit Frau Zschäpe gekommen, wobei es aber offensichtlich eher um die Jungmädchenprobleme der Zeuginnen ging, während Frau Zschäpe selbst sich hinsichtlich persönlicher Informationen bedeckt gehalten habe.“

Ein 3. Bereich seien dann, so Saß, die Schilderungen der Hausmitbewohner. In der Polenzstraße seien dies S. [56. Verhandlungstag], F. [56. Verhandlungstag], Po. [82. Verhandlungstag], Ku. [67. Verhandlungstag], So. [186. Verhandlungstag] und Hö. [194. Verhandlungstag]. Auch dort sei übereinstimmend ein insgesamt unauffälliges Verhalten der drei Personen geschildert worden. Saß: „Dabei erschien Frau Zschäpe ihren Nachbarn nicht nur als kontaktfreudig, unkompliziert und unbefangen, darüber hinaus sei sie auch gegenüber sozial oder finanziell schwächeren Personen hilfsbereit und unterstützend gewesen, etwa mit diesen Einkäufen von Lebensmitteln und Süßigkeiten für die Kinder bei der Familie Ku. Frau Zschäpe sei eigentlich immer fröhlich gewesen, auch habe sie damals gesünder ausgesehen als jetzt. Über Privates habe sie wenig gesprochen. In der Wohnung sei nur sie gewesen und gelegentlich sei ein Wohnmobil vor der Tür gestanden. Ärger,
Reibereien und Verstimmungen habe es nicht gegeben, erwähnt wurde nur diese eine Episode mit Kritik an Frau Ku. Auffällige Alkoholisierungen wurden nicht geschildert.“

Dann geht Saß zu den Hausmitbewohnern in der Frühlingsstraße über. Er nennt die Zeugenschilderungen von [Olaf] B., Kr. [60. Verhandlungstag] und H. [29. Verhandlungstag]. Saß: „Nach dem Eindruck der Mitbewohner hat es wohl so ausgesehen, dass eine Frau mit zwei Männern in die Wohnung eingezogen ist. Die Frau, die als Susann Dienelt aufgetreten sei, habe über die beiden Männer gesagt, der eine sei ihr Freund, während der andere als Bruder bezeichnet wurde, was mal auf sie selbst und mal auf ihren Freund bezogen worden sei. Also insgesamt waren die Verhältnisse für die Beteiligten nicht ganz durchsichtig. Die Männer, die viel Fahrrad gefahren seien, hätten beruflich angeblich Fahrzeugüberführungen gemacht oder mit Computern gearbeitet. Das Verhalten von Frau Zschäpe wurde als nett, freundlich und unauffällig geschildert. Auch wurden Züge menschlicher Anteilnahme genannt, etwa wenn sie hinsichtlich der betagten Nachbarin E. immer mal nachgefragt habe, wie es denn der Oma gehe. Wenn Besuch in der Wohnung gewesen sei, habe man gehört, dass die viel Spaß gehabt hätten. Die drei Personen hätten in ihrer Etage in der Frühlingsstraße nicht nur zwei Wohnungen zusammengelegt und umgestaltet, sondern sich auch den Keller ausgebaut. Neue Eingangstüren hätten sie auf eigene Kosten beschafft.

Frau Zschäpe habe dazu gesagt, sie habe ein wenig Angst, wenn sie allein sei. Über die beiden Männer haben die Zeugen gesagt, sie seien sehr zurückhaltend gewesen. Frau Zschäpe habe stets freundlich gegrüßt, sich manchmal auch unterhalten, etwa über die Katzen. Die Männer hätten dagegen kaum gesprochen. Eine engere, freundschaftliche Beziehung soll es, abgesehen von den beiden Uwes, nur zu gegeben haben, wobei Frau Zschäpe sagt, dass sie beginnend ab 2006 regelmäßigen Kontakt gehabt habe und froh gewesen sei, auch einmal ‚über Frauensachen‘ sprechen zu können. Ferner schätzte sie offenbar sehr den Umgang mit den Kindern der Emingers. Eigene Kinderwünsche seien, wie sie z.B. gegenüber Nachbarinnen wiederholt angegeben habe, aus gesundheitlichen Gründen nicht erfüllbar gewesen. Stattdessen habe sie auf die Katzen verwiesen, von denen es auch einmal hieß, sie seien wie ihre Kinder gewesen.“

Resümierend, so Saß, ergebe sich dazu, dass „aus forensisch-psychiatrischer und psychopathologischer Sicht keine gravierenden Auffälligkeiten bekannt geworden sind“. Offenbar sei in all den Jahren ein „Muster des wohl freundlichen, aber doch vorsichtig zurückhaltenden und persönliche Verwicklungen meidenden Verhaltens“ beibehalten worden. Saß: „Dabei konnten sich die drei Personen und insbesondere die zumeist den Kontakt pflegende Frau Zschäpe offenbar mit großer Konsequenz und ohne größere Patzer an die Regeln eines Lebens unter falschen Namen halten. Hinsichtlich der wahren Interessen und Aktivitäten wurden, soweit erkennbar, erfolgreich die Gebote der Heimlichkeit, des Verbergens, des Verschleierns und des Täuschens eingehalten. So entstand in ähnlicher Weise, wie es bei den verschiedenen Campingurlauben geschildert worden war, gemäß einer Formulierung des Zeugen [Olaf] B. über Frau Zschäpe, der Eindruck einer lieben, guten Nachbarin, die allerdings von ihrer Gesinnung nichts preisgegeben habe.“

Saß sagt, dass das die Angaben zur Zeit des Lebens im Untergrund gewesen seien und jetzt noch wenige Bemerkungen zu den verfahrensgegenständlichen Vorfällen kämen. Zum Komplex der Tatvorwürfe in der Anklageschrift gebe es hierzu Ausführungen von Zschäpe selbst „nach langem Schweigen“: die Erklärung vom 09.12.2015 und „Antwortserien“ auf vom Gericht gestellte Frage sowie die persönlichen Erklärungen vom 29.09.2016 und zuletzt vom 10.01.2017. Saß: „Bei all dem muss zunächst für den Gutachter offen bleiben, wie diese Angaben über sich selbst und deren Wahrheitsgehalt einzuschätzen sind. In ihren schriftlichen Erklärungen bzw. Antworten hat Frau Zschäpe durchgängig die zentrale Rolle der Verstorbenen sowohl für das Untertauchen in das 13-jährige Leben im Verborgenen wie auch für sämtliche Straftaten betont. Ferner hat sie auf ihre emotionale und finanzielle Abhängigkeit von den Partnern verwiesen. Wiederholten Überlegungen von ihr, dieses Leben durch Sich-Stellen zu beenden, hätten die beiden Uwes ab Ende des Jahres 2000 Suiziddrohungen entgegengehalten.

Vor allem hob Frau Zschäpe in ihren Erklärungen hervor, an der Vorbereitung, Planung und Durchführung der verschiedenen Aktionen nicht beteiligt gewesen zu sein. Sie räumte lediglich schriftlich ein Wissen auch um vorgesehene Raubüberfälle und eine Teilhabe an ihrem finanziellen Nutzen ein. Ferner hat sie eingehend die schließliche Brandlegung am Ende dieser Periode geschildert, wobei sie auch in diesem Zusammenhang darauf abhob, dass dies der Erfüllung von Wünschen bzw. einem Auftrag der Verstorbenen entsprochen habe. Nach der Darstellung in der Erklärung der Angeklagten vom 09.12.2015 habe sie auf die Mitteilung insbesondere des ersten Tötungsdelikts im Jahr 2000 und später dann auch der weiteren Fälle mit Erschrecken, Entsetzen, Unverständnis und Ablehnung reagiert. Die damit verbundene Verstimmung im Verhältnis zu den beiden Uwes habe sowohl das Weihnachts- und das Silvesterfest 2000 wie auch ihren Geburtstag am 02.01.2001 überschattet, auch sei es nicht zu Geschenken und Gratulationen gekommen. Ihrer Absicht, sich nun, da sie in einen Mord verwickelt sei, der Polizei zu stellen, hätten die beiden Partner entgegengehalten, sich dann zu erschießen.“ Ergänzend gebe es damit korrespondierende Mitteilungen in der Hauptverhandlung, wonach die drei untergetauchten Personen sich eher erschießen würden, als aufzugeben und ins Gefängnis zu gehen. Dieses „sich eher erschießen“ könne als Hinweis für die Entschlossenheit der drei Personen gesehen werden. Man könne aber aus psychiatrischer Sicht darauf hinweisen, dass Aggression und Autoaggression eng miteinander zusammenhängen können, etwa erkennbar an den Beispielen des Selbstmordattentäters oder des so genannten „suicide by cop“.

Saß weiter: „Im Laufe der Zeit, als die Partner ihre Handlungen fortgesetzt und das gegebene Versprechen auf Beendigung des Tötens nicht eingehalten hätten, ist es nach ihren Angaben bei ihr immer mehr zu einem resignierten Rückzug gekommen. Frau Zschäpe meinte dazu, sie sei einfach nur sprachlos und fassungslos gewesen, habe nicht reagieren können und sich wie betäubt gefühlt. Wenn sie weiterhin formuliert: ‚Ich wollte es nicht hören‘, so könnte dies, ein Zutreffen unterstellt, auf – im Alltagsverständnis – Verdrängungsversuche und den Wunsch hindeuten, sich den von ihr angegebenen Belastungen durch Nichtwissen zu entziehen. Ähnlich soll sie zum Zeugen [Rainer] B. gesagt haben, sie sei ein Meister im Verdrängen. Dem stünde allerdings entgegen, dass sie sich laut dem Zeugen Le. [siehe 17. und 18. Verhandlungstag]auch als einen Faktenmenschen bezeichnet haben soll.“

Saß: „Resümierend ist zu sagen, dass die Beurteilung in vielem davon abhängt, wie die Äußerungen von Frau Zschäpe hinsichtlich der Tatbeiträge der einzelnen Personen in der Dreiergruppe einzuschätzen sind. Sie selbst hat zwar erklärt, dass sie mit heftiger Ablehnung reagiert habe, wenn sie, stets nachträglich, von den Tötungen erfahren habe. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Erklärungen, mit einer kleinen Ausnahme, nur schriftlich abgegeben wurden. Allerdings wirken ihre Formulierungen hierzu für den psychiatrischen Leser recht formal und unpersönlich. Ganz im Vordergrund stehen ihre eigene Situation, die Kritik am Verhalten der Partner, die Verantwortungszuschiebung nach außen und die sorgfältige Beschreibung von Umständen, die entlastend wären, wenn man sie zugrundelegt. Weniger entstand in der Lektüre dagegen der Eindruck einer authentischen Auseinandersetzung mit den abgelaufenen Geschehnissen, mit den Empfindungen der von den Taten betroffenen Personen und ihrer Angehörigen oder den Konsequenzen für deren Leben. Aus psychopathologischer Sicht würde das bedeuten: Es ergeben sich Hinweise für egozentrische, wenig empathische und externalisierende, also Verantwortung nach außen schiebende Züge. Jetzt kämen noch etwa 15 Minuten zur Entwicklung der Angeklagten seit der Verhaftung, soweit das psychiatrisch zu beschreiben ist.“

Götzl: „Ja, dann machen wir das noch.“ Saß: „Danach käme die Beurteilung. Dann wären für heute die Materialien, die der Beurteilung zugrunde liegen, genannt.“ Götzl: „Ist die Geschwindigkeit in Ordnung?“ Heer: „Wir hatten die Problematik ja beschrieben und es geht nicht um die Geschwindigkeit.“ Götzl: „Frau Sturm hat genickt auf meine Frage.“ Sturm: „An der Geschwindigkeit des Sachverständigen liegt es nicht.“ Götzl: „Also, dann können Sie mitschreiben?“ Heer: „Nein, es ist geplant, dass wir beide unsere Notizen uns anschauen und morgen früh eine Erklärung abgeben. Das funktioniert nicht, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen.“ Götzl: „Was funktioniert nicht?“ Heer: „Wenn Sie etwas Substantiiertes wollen, bitte ich die Hauptverhandlung für 20 Minuten zu unterbrechen.“ Götzl: „Dann machen wir das doch. Unterbrechen wir für 20 Minuten und setzen mit der Erklärung fort.“

Es folgt eine Unterbrechung, um 17:10 Uhr geht es weiter. Götzl: „Herr Rechtsanwalt Heer, wie lang ist die Stellungnahme?“ Heer: „Eine knappe Seite.“ Götzl: „Herr Klemke, Herr Wohlleben, können wir das noch machen? Ja.“ RA Heer verliest die Stellungnahme. Die im Antrag der Verteidigung auf Aufzeichnung und in der Erwiderung mehrfach erwähnten Umstände, die die Verteidigung „besorgen“ ließen, dass ihr ein Mitschreiben und die gedankliche Verarbeitung und somit eine effektive Verteidigung nicht möglich sein werden, seien zu Tage getreten, so Heer. Die Problematik bestehe weniger in der Geschwindigkeit, ginge es nur darum, sich vorzubereiten [phon.]. Im Gegensatz zu den erkennenden Richtern und den Vertretern des Generalbundesanwalts, die während der gesamten Ausführungen anwesend sein können, befinde man sich aber in der Situation, einem nicht anwesenden Sachverständigen die Anknüpfungstatsachen vollständig und valide vermitteln zu müssen. In der Konsequenz bedeute dies, dass jeder Satz mitzuschreiben sei.

Heer: „Obwohl wir uns bemühen, die Ausführungen des Sachverständigen möglichst wörtlich mitzuschreiben, zeigt eine erste Durchsicht zahlreiche Auslassungen und Unsicherheiten in der Verwendung psychiatrischer Fachbegriffe.“ Einem nicht anwesenden SV ließen sich die Anknüpfungstatsachen so nicht ordentlich mitteilen. Aufgrund der Komplexität des Vortrags würden Unvollständigkeiten in der Mitschrift entstehen, die nicht hinterfragt werden könnten. [phon.] Es würden sich auch nicht alle Unklarheiten anhand der Erfahrung klären lassen. Man verkenne nicht, dass die mündliche Gutachtenerstattung einen Verteidiger in der Regel vor besondere Herausforderungen stelle. Die Besonderheiten in diesem Verfahren, auf die der Senat in seinem Beschluss heute ausdrücklich hingewiesen habe, würden es aber gebieten, das mündliche Gutachten von einem anderen Sachverständigen kritisch begutachten zu lassen. Götzl: „Herr Klemke, Sie hatten darauf verwiesen, dass Herr Wohlleben Kopfschmerzen habe.“ Wohlleben-Verteidiger RA Klemke: „In erster Linie ist er sehr abgespannt und nicht mehr konzentrationsfähig, er kriegt nicht mehr allzu viel mit.“ Götzl bittet Heer, die Stellungnahme auszudrucken, dann sagt er: „Wir würden dann die Anhörung heute unterbrechen. Dann wird unterbrochen und wir setzen morgen um 09:30 Uhr fort.“ Der Verhandlungstag endet um 17:14 Uhr.

Das Blog „NSU-Nebenklage„: „Heute stellte [Saß] zunächst nur die für ihn relevanten Erkenntnisse aus dem Prozessverlauf dar. […] Anschließend erläuterte Prof. Saß, der als eine der Leitfiguren der forensischen Psychiatrie in Deutschland gilt, seine Herangehensweise und die besondere Problematik einer Gutachtenerstellung ohne die Mitwirkung der zu untersuchenden Person. Dabei betonte er, dass im Falle Zschäpes sogar sehr viel Material vorliege, das in der umfangreichen Hauptverhandlung zu gewinnen war. Deshalb sei es tendenziös und irreführend, wenn die Zschäpe von einem ‚Ferndiagnosegutachten‘ spreche. Zu der von Zschäpe vorgebrachten angeblichen Alkoholproblematik stellte Saß fest, es sei auffällig, dass diese zum ersten Mal in deren Erklärung im Gericht aufgetaucht sei – kein Zeuge, kein Nachbar, keine Urlaubsbekanntschaft habe hiervon berichtet, berichtet worden sei lediglich ein normales Mittrinken bei entsprechenden Gelegenheiten. Zschäpe habe auch keinerlei Entzugserscheinungen nach ihrer Festnahme in der Untersuchungshaft geschildert. […] Auffallend sei, dass die Schilderungen Zschäpes zu ihrer Vorentwicklung sehr sachlich, emotionsarm und unpersönlich wirkten. […] Bei ihrer eigenen Darstellung der Beteiligung an kleineren Diebstählen im Jugendalter habe sich zum ersten Mal eine Tendenz Zschäpes gezeigt, die Verantwortung für das eigene Verhalten anderen Personen zuzuschreiben und das eigene Verhalten zu bagatellisieren. Diese Tendenz habe sich erneut bei ihrer eigenen Darstellung ihrer politischen Entwicklung gezeigt. Zschäpe umschreibe sich selbst euphemistisch mit 'nationalistisch‘. Die von anderen Zeugen eingebrachten Berichte, Vermerke, Urteile, Abbildungen hätten allerdings ergeben, dass es sich bei dem Freundeskreis von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt um deutlich rechtsradikal ausgerichtete Kreise gehandelt habe, in denen es nicht nur um Musik und Konzerte ging, sondern um konkrete Auseinandersetzungen und Politik. […] Zschäpe verharmlose all dies, wenn sie beispielsweise die Auseinandersetzungen als ‚Katz- und Mausspiel mit Polizei und Verfassungsschutz‘ bezeichne. […] Zschäpes Aussage, „ohne Tino Brandt wären die ganzen Unternehmungen so nicht möglich gewesen“, zeigte erneut, dass Zschäpe ihre eigene Verantwortlichkeit leugne und auf Dritte Personen verschiebe. Auch bei Zschäpes Darstellung ihrer Beteiligung an Aktionen der Kameradschaft Jena sei ihre Neigungen zur Verharmlosung und zur Verlegung der Verantwortlichkeit nach außen angeklungen. Dagegen habe ihr Cousin ihre Beziehung zu Mundlos und Böhnhardt damit beschrieben, dass wahrscheinlich ihre Art die Männer zusammengehalten habe, sie habe „die Jungs im Griff gehabt“. Wenn dies zuträfe, spräche es für ein deutliches Maß an persönlicher Stärke und Selbstbewusstsein. Zu einem Kriminalbeamten habe sie noch am Abend ihrer Festnahme gesagt, ‚ich wurde zu nichts gezwungen.‘ Was Zschäpes Erklärungen zu den Taten angehe, sei der Wahrheitsgehalt für ihn als Psychiater nicht einzuschätzen. Sie habe wiederum die zentrale Rolle der Verstorbenen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt für alle Taten betont sowie ihre eigene finanzielle und emotionale Abhängigkeit von den beiden sowie ihre Beeinflussung durch die Suiziddrohungen der beiden. An Vorbereitung, Planung und Durchführung der Verbrechen wolle sie nicht beteiligt gewesen sein – mit Ausnahme der Brandlegung in der Frühlingsstraße, diese sei aber im Auftrag der beiden Verstorbenen erfolgt. Es sei aber einerseits festzuhalten, dass sie auch gegenüber einem Kriminalbeamten angegeben hatte, sie sei ein Meister im Verdrängen. Zudem stellten Zschäpes Erklärungen keine authentische Auseinandersetzung mit den Geschehnissen dar. Insgesamt sei zu Zschäpes Erklärungen festzustellen dass diese psychopathologisch gesehen egozentrisch, ganz auf sich selbst bezogen, wenig emphatisch, externalisierend seien.“
http://www.nsu-nebenklage.de/blog/2017/01/17/17-01-2017/

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